
34 | Wenn die Zeit reif ist
Die letzte Woche war anstrengend. Nachdem ich Roger aus dem Krankenhaus abgeholt und er mir erzählt hat, dass sein Vater an diesem Morgen verstorben ist, begann für Roger die Organisation der Beerdigung und weiterer Papierkram, und mich schickte er mit seinem Mustang zurück nach Mackay Hall, um mich dort um alles zu kümmern.
Mary und Carl nahmen den Tod des Seniors relativ gefasst und dennoch traurig auf. Meine größte Sorge galt tatsächlich Roger, der sich ganz in seinen Aufgaben vergrub und den wir erst am Tag der Beerdigung wiedersahen. Meine überschwängliche Umarmung erwiderte er nur halbherzig und ich litt still, als wir auf dem Weg zum Grab einander nicht an der Hand hielten. Erst, als die Sargträger am Grab ankamen, nahm Roger meine dargebotene Hand doch an und drückte sie fest. Die anschließende Trauerfeier im Pub mit ein paar Freunden seines Vaters, hielt er erstaunlich gut durch, war freundlich und hatte für jeden ein nettes Wort; bedankte sich artig fürs Kommen und verabschiedete jeden einzelnen von ihnen, als sie wieder gingen.
Die Rechnung zahlte er ungesehen und als ich zu ihm ins Auto steigen wollte, bat er mich halbherzig, mit Mary zurückzufahren, da er noch „wo hinmüsse", was auch immer das bedeuten sollte.
Als er am Abend auf dem Hof eintrifft, ist er erschöpft und müde. „Hi Roger. Schön, dass du wieder da bist!", sage ich liebevoll, als er seinen Hut abnimmt und seine Schuhe im Flur auszieht. „Hey", erwidert er müde und schlurft an mir vorbei in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu nehmen.
„Hast du ein bisschen durchatmen können?", frage ich und lege meine Hand auf seinen Arm. Als hätte ich ihm Schmerzen zugefügt, zieht er ihn weg und geht einen Schritt beiseite. „Hmm", murmelt er unverständlich, während er einen großen Schluck trinkt. Mein Herz verkrampft spürbar. Ich ahne, dass irgendetwas los ist, doch ich kann es nicht greifen. Und er will es mir nicht erzählen.
„Wir haben dir noch ein wenig Auflauf übriggelassen. Keine Angst, es ist kein Kürbis drin", lächele ich und versuche seinen Blick einzufangen. Doch er weicht mir gekonnt aus. Laut atme ich aus. „Ich gehe schon mal ins Bett, komm doch gleich nach, okay?", bitte ich ihn. Er nickt und ich mache mich im Bad fertig, ehe ich in Rogers Bett krabbele, in dem ich auch schon die letzten einsamen Nächte verbracht habe.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich Rogers Schritte auf den Stufen der Treppe höre und dann, wie er den Flur hinabkommt. Kurz bleibt er vor der Tür stehen und ich richte mich bereits auf, um ihn in meine Arme schließen zu können. Doch dann höre ich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite knarzen und begreife, dass Roger diese Nacht nicht mit mir in einem Bett schlafen wird. In meinem Hals bildet sich unwillkürlich ein dicker Kloß und die Tränen stehen mir bereits in den Augen. Was ist bloß los mit dem Mann, der vor einer Woche noch beteuerte, so verliebt in mich gewesen zu sein. Mit dem ich mir eine gemeinsame Zukunft auf diesem Hof ausgemalt hatte? Und der es jetzt nicht mal schafft, sich von mir trösten zu lassen. Ist das seine Art, mit der Trauer umzugehen, oder steckt vielleicht mehr dahinter? Habe ich was falsch gemacht?
‚Nein, Ian', schallt ich mich. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich war immer ehrlich zu Roger und war für ihn da, als er mich brauchte. Dass er meine Hilfe nicht will, ist nicht meine Schuld, sondern seine Entscheidung. Diese eine Nacht werde ich ihm noch geben. Aber morgen wird er mit mir reden müssen. Ob er will oder nicht! Mit diesem festen Vorsatz im Kopf, schlafe ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen kommt Roger nicht zum Frühstück. Ich gehe zu den Pferden, miste die Ställe aus, kümmere mich um die Schafe und Hühner und sitze gegen Mittag wieder am Küchentisch, um Marys leckeren Kohleintopf zu essen. „War Roger schon unten?", frage ich sie, doch sie schüttelt nur den Kopf. Nachdenklich esse ich eine Portion Eintopf und fülle dann eine zweite auf, um sie Roger nach oben zu bringen.
Vorsichtig klopfe ich an meiner Zimmertür. „Roger?"
„Ich mag jetzt nicht!", kommt als Antwort zurück.
„Bitte, Roger, du musst wenigstens etwas essen", beharre ich und schiebe die Tür auf. Roger liegt, den Rücken zum Raum im Bett und schenkt mir nicht mal einen Blick.
„Erklärst du mir, was los ist?", frage ich ihn sanft.
„Was hast du mit meinem Vater gemacht?", fragt er wie aus dem Nichts.
„Ich? Gemacht?", frage ich perplex. „Ich habe gar nichts gemacht!", verteidige ich mich. Dann dreht Roger sich um. Seine Augen sind rot und er sieht aus, als habe er die halbe Nacht nicht geschlafen.
„Weißt du, was seine letzten Worte an mich waren, Ian?", fragt er mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht ganz zuordnen kann.
„Nein?", antworte ich zögernd.
„Sei nicht böse, wenn ich dir den Hof nicht vermache!", spuckt er aus und ich bin zu perplex, um zu antworten. „Also frage ich dich: Was hast du mit ihm gemacht?", schreit er mich an. „Gar nichts!", fauche ich zurück, ungläubig, dass er denken könnte, dass ich seinen Vater in irgendeiner Weise manipuliert habe.
„Ich habe auch nicht erwartet, dass du es mir sagst", meint er trotzig und ich kann es nicht glauben. Er denkt tatsächlich, dass ich ihn anlüge. Tief gekrängt stelle ich den vollen Teller auf den Sekretär, nehme meinen Laptop vom Tisch und sehe Roger noch ein letztes Mal an.
„Sag Bescheid, wenn du dich wieder eingekriegt hast, Torro!", sage ich streng. Ja, das ist er. Ein störrischer, dummer Stier mit dicken Eiern. Aber ich lasse mich davon nicht mehr runterziehen. Das ist vorbei. Ich bin nun stolzer als noch vor ein paar Wochen. Und wenn er jetzt maulig sein will, von mir aus. Aber ich lasse das nicht an mich heran, weil ich weiß, dass er unrecht hat.
Gerade will ich durch die Tür gehen, als mir etwas einfällt. Ich greife in die Tasche meiner Jeans. Seitdem ich ihn habe, trage ich ihn bei mir, um auf den richtigen Moment zu warten. Vielleicht wird Roger ja bewusst, wie sehr sein Vater uns beide geliebt hat, wenn er sieht, was er mir vermacht hat, in der Hoffnung, dass das mit uns beiden gut ausgeht.
Denn über eines bin ich mir inzwischen fast sicher: Dass ich hier bin, hat einen Grund. Und der heißt Flynn Mackay. Er hat mich hergeholt, damit ich seinen Sohn glücklich mache. Und solange es noch eine leise Hoffnung gibt, dass er sich nicht geirrt hat, werde ich für unsere Liebe kämpfen. Auch wenn Roger es gerade nicht sieht, weil er so gefangen ist in seiner irrationalen Wut, so glaube ich doch, dass wir perfekt füreinander sind.
„Hier", sage ich und lege den Ehering seines Vaters neben den Teller auf den Tisch. „Dein Vater hat an uns geglaubt. Und ich tue es auch. Ich werde mich bei Mary einquartieren, bis es dir wieder besser geht. Du kannst dein Zimmer also wiederhaben. Es ist spinnenfrei", sage ich und verlasse dann aufrecht gehend den Raum.
Erst als ich in der Küche angekommen bin und Mary mich fragend ansieht, breche ich in stille Tränen aus. Das ist doch alles scheiße!
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