❝Szene 23: Alles, was ich immer sein wollte❞
»Über wen haben die beiden eben gesprochen?«, wollte Thea mit ruhiger Stimme wissen.
Ich schielte kurz zu ihr rüber. Genau wie ich lag sie auf dem Rücken im kühlen Sand und starrte in den mit Sternen bedeckten Himmel. Diego hatte Chloes und Romeos Abwesenheit genutzt, um die Toilette aufzusuchen, aber er würde bestimmt gleich wiederkommen.
»Ich weiß nicht«, murmelte ich. Es war keine echte Lüge. Ich wusste wirklich nicht, ob meine Vermutung, dass Chloe meinen Bruder gemeint hatte, korrekt war. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an die Wahrheit dermaßen zu verändern - es war, als würde ich über ein bereits gemaltes Gemälde wischen, das noch nicht getrocknet war; die mit Bedacht platzierte Farbe verwischen und es somit verfälschen.
Ich hörte den Sand knirschen, während sich Thea zu mir auf die Seite drehte. »Komm schon, June. Ich sehe in deinen Augen, dass du mehr weißt.«
Seufzend ließ ich einige Sekunden lang meine Lider sinken, um mich nur auf das Geräusch der Wellen und das Gefühl des pudrigen Sandes unter meinen Fingern zu konzentrieren.
»Vielleicht«, gab ich zu, nachdem ich meinem Blick wieder dem funkelnden Sternenzelt gewidmet hatte.
»Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, verlangte Thea kichernd und ich spürte die Wärme ihrer Hand, als ihre dünnen Finger gedankenverloren die Umrisse meiner Hand im Sand nachzeichneten und dabei immer wieder meine Haut streiften.
Thea war mittlerweile eine gute Freundin geworden. Sie war, neben meiner Mutter, meine engste weibliche Vertraute und der Grund, wieso ich langsam wieder Hoffnung in Freundschaften hegte. Ihr konnte ich alles anvertrauen, nicht wahr?
»Na gut«, ergab ich mich und wischte mir erschöpft durch mein Gesicht. Ich spürte, wie einige Sandkörner auf meinen Wangen verweilten. »Ich glaube, dass sie meinen Bruder Caleb meinen könnte. Keine Ahnung, ob ich mit der Vermutung richtig liege. Es ist nur...«
»Ja?« Ich hörte Neugierde in Theas Stimme.
»Ähm...irgendwie passt alles, was sie gesagt haben, zu ihm. Und Caleb hat immer so komisch reagiert, wenn ich am Telefon auf Chloe zu sprechen kam. Vielleicht mag er sie.«
»Das wäre ja der Hammer!«, rief Thea begeistert und richtete sich zum Schneidersitz auf.
Nachdenklich verzog ich die Lippen. Ich war mir selbst nicht sicher, was ich darüber denken sollte. Natürlich hätte es mich gefreut, wenn Chloe und Caleb in naher Zukunft gemeinsam glücklich werden würden, doch trotzdem kam ich nicht umhin, mich um Chloes emotionale Stabilität zu sorgen. Ich wollte nicht, dass sie meinen Bruder mit in den dunklen Strudel ihrer Depression zog.
»Ich weiß nicht«, sagte ich deshalb und setzte mich dann ebenfalls hin.
»Wir können Caleb auch in die Show holen. Er verliebt sich in Chloe und du schnappst dir in der Zwischenzeit Romeo. Wir müssen sofort Rachel davon erzählen!« Theas Augen funkelten vor Aufregung und sie machte den Eindruck, als würde sie am liebsten jeden Moment aufspringen und zu Rachel laufen wollen.
Meine Hände hielten ihr Handgelenk schneller fest, als ich »Nein!« über meine Lippen bringen konnte. Ich spürte das unruhige Flattern meines Herzens in der Brust.
Thea zog fragend die Augenbrauen hoch. »Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht, ob Chloe, Caleb oder Romeo das möchten. So viel von deren Privatleben wurde schon in diese Show gezogen. Wir sollten es nicht noch auf die Spitze treiben«, versuchte ich ihr zu erklären und biss mir daraufhin unsicher auf die Unterlippe. »Und ich möchte auch nicht, dass mein Bruder in all das hier mit hineingezogen wird. Er passt nicht in diese schroffe Welt.«
»Ok, ich werde nicht sagen«, versprach Thea und hielt mir zum Schwur ihren kleinen Finger hin. »Pinky Promise!«
Ich grinste, als ich meinen Finger mit ihrem verhakte. »Ich bin wirklich froh, so eine tolle Freundin wie dich gefunden zu haben.«
Und nach all den Monaten voller Einsamkeit; voller Filmabende alleine und Shoppingtrips ohne Begleitung; nach all den Worten, die ich immer in meinen Kopf hatte, doch nie mit einer Freundin teilen konnte, fühlte es sich endlich so an, als wäre da jemand, der für mich da war und der mich nicht alleine ließ, wenn es mir schlecht ging. Und dafür war ich Thea unendlich dankbar.
•••
Kurz nach unserem Schwur gesellte sich Diego wieder zu uns. Er erzählte uns von seinen Anfängen in der Filmbranche und wir lauschten aufmerksam, bis nach einigen Minuten auch Romeo und Chloe wiederkamen. Nachdem wir noch einige Essensszenen gedreht hatten, bei denen die beiden so tun sollten, als wäre das Festmahl vor ihnen in der Zwischenzeit nicht schon längst kalt geworden, brachen wir endlich auf. Meine müden Knochen sehnten sich langsam wirklich nach der weichen Umarmung meiner Bettdecke.
Chloe blieb stehen, um sich ihre Schuhe wieder anzuziehen, die sie extra für den Spaziergang am Strand ausgezogen hatte. High Heels und Sand waren schließlich keine besonders gute Kombination. Auf einem Stein sitzend, klopfte sie sich den Sand von den Füßen und machte sich dann daran die aufwendige Schnürung der High Heels ihre Waden hinaufzuwickeln. Ich fragte mich, wieso sich irgendjemand solche Schuhe freiwillig antat.
»Geht schon mal vor. Ich brauche noch einen Moment«, sagte sie mit Blick zu uns.
Gerade wollte ich, genau wie Thea, Diego und Romeo, unseren Weg in Richtung der Unterkünfte fortführen, als Chloe mich aufhielt: »June? Kannst du noch einen Moment bei mir bleiben?«
»Ähm...ja«, antwortete ich etwas unsicher und blieb stehen.
Ich bemerkte Romeos überraschten Blick auf mir ruhen, doch ich versuchte mich nur auf Chloe zu konzentrieren. Was sie wohl von mir wollte?
»Ich möchte gerne mit dir reden«, begann sie und fummelte sich dabei etwas unsicher in ihren Haaren herum. Sie streckte ihre Beine, von denen sie nur bei einem die Schnürung fertig gewickelt hatte, von sich und lehnte sich an eine der Palmen. Mit dem Kinn deutete sie auf einen Stein direkt gegenüber von ihrem. »Setz dich ruhig.«
Romeo warf noch einen letzten skeptischen Blick zu uns beiden, zog dann aber mit Thea und Diego von dannen, während ich Chloes Bitte nachkam. Obwohl der Stein sich spitz in meine linke Pobacke bohrte, guckte ich Chloe fest in die Augen und bemühe mich, eine emotionslose Miene aufzusetzen.
Ich wusste nicht, was ich von ihr erwarten konnte. Würde sie mich wieder anmeckern? Würde sie nett sein? War das Verständnis und die Einsicht, die sie gegenüber Romeo gezeigt hatte nur gespielt, um mit ihm alleine reden zu können? Hatte sie vom Kuss erfahren und wollte mich nun umbringen und meine Leiche im Ozean ertränken? Aus ihrer undurchdringlichen Mimik wurde ich einfach nicht schlau.
»Es tut mir leid«, begann sie seufzend. »Schon wieder.«
Überrascht hob ich die Augenbrauen, sagte jedoch nichts.
»Ich hätte dich letztens in unserem Zimmer nicht so anschnauzen sollen. Ich gebe Romeo frei für dich«, sagte sie und ich sah in ihren Augen, dass sie es genauso meinte.
»Ähm...Romeo und ich...wir...wir sind nicht...«, versuchte ich ihr zu erklären, doch sie unterbrach mich.
»Es ist ok, June!«
»Was?« Meine Stimme war leise; nur ein Hauchen, das vom Wind auf die Weiten des Meeres getragen wurde.
»Ich sehe doch wie du ihn ansiehst. Und wie er dich ansieht. Es ist Zeit für mich weiterzuziehen und es auch Zeit für ihn. Heute habe ich endlich eingesehen, dass mein Herz schon längst jemand anderem gehört«, murmelte sie und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln.
»Du sprichst von Caleb, nicht wahr?«, forschte ich nach.
Das Lächeln auf Chloes Gesicht wurde verträumter und ich sah, wie Röte eine Linie durch ihr Gesicht zog. Sie nickte.
»Ja. Wir haben so viel Zeit damit verbracht zu zweit bei Romeo zu sein, als er im Koma lag, und Caleb hat dabei so viel Kraft und Mut gegeben und eines Abends...«, Chloe atmete schwer aus, »da hat er mich einfach geküsst. Es hat sich in dem Moment so gut und richtig angefühlt. Und erst als uns klar wurde, was wir da gerade getan haben, kamen die Schuldgefühle. Du musst wissen, dass ich damals noch keinen ganzen Monat von Romeo getrennt war. Außerdem lag er im Koma. Und obwohl wir uns einige Tage zuvor getrennt haben, hatte ich das Gefühl, dass ich es ihm Schulde bei ihm zu bleiben. Und auch für das, was er für mich und meine Familie alles getan und geopfert hat. Deshalb sind Caleb und ich dem, was uns verbindet, nie weiter nachgegangen.«
»Was ist mit deiner Familie?«, wollte ich wissen. Ich wusste nicht, was ich zu dem mit Caleb sagen sollte. Wenn ich ehrlich war, enttäuschte es mich ein bisschen, dass mein Bruder mir nie davon erzählt hatte. Aber vermutlich hätte er dann auch von Romeo und seinem Zustand erzählen müssen und er wusste, dass sein Freund das nicht wollte.
Chloe schluckte hart und schaute für einen Moment zu Boden. »Es fällt mir nicht leicht darüber zu reden.«
»Das musst du nicht, wenn du nicht willst«, sagte ich mitfühlend.
»Ich möchte aber. Ich hatte mein ganzes Leben lang nie wirklich Freundinnen, mit denen ich darüber hätte reden können. Vielleicht wird es an der Zeit das zu ändern.« Ihr Blick war hoffnungsvoll auf mich gerichtet und ließ mein Herz warm werden, weil ich etwas in Chloe erkannte, dass ich auch seit einiger Zeit durchmachte. Vielleicht waren wir uns ähnlicher, als anfangs gedacht. »Ich habe dich in der Schule immer beneidet. Du hattest so viele Freundinnen und alle haben dich gemocht. Deshalb wollte ich damals nicht, dass Romeo und du befreundet bleibt. Du warst alles, was ich gerne sein wollte.«
Ich stand auf und setzte mich direkt neben sie, um sie in den Arm zu nehmen. »Ich weiß wie du dich fühlst.«
Argwöhnisch zog sie ihre Augenbrauen zusammen, als sie ihren Kopf zu mir drehte und mich ansah. »Woher willst du das wissen? Du hast tolle Freundinnen und eine perfekte Familie ... im Gegensatz zu mir.«
»Ich hatte tolle Freundinnen«, korrigierte ich sie mit einem tiefen Seufzer und nahm all meinen Mut zusammen, um weiterzureden. Es war nicht leicht jemanden meine Einsamkeit zu offenbaren, weil viele Menschen eine Person ohne Freunde gleich als komisch abstempelten, doch bei Chloe war es anders. Bei Chloe hatte ich das Gefühl, ich könnte meine Gefühle vollkommen offenlegen - nackt und ungeschönt - und trotzdem würde sie mich nicht verurteilen. »Wenn man älter wird und nicht mehr zur Highschool geht, passiert es oft, dass man sich mit seinen Freunden auseinanderlebt. Und als Erwachsener ist es gar nicht so leicht neue Freunde zu finden, wenn man eher introvertiert ist und nicht auf Partys geht. So ergeht es mir. Ich sage mir, dass ich mich auf meine Karriere konzentrieren will, aber trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass etwas fehlt. Und du hast recht: Meine Familie ist wunderbar und eine große Stütze für mich, doch trotzdem wünsche ich mir manchmal eine Freundin, mit der ich über Männer lästern, shoppen gehen und Klamotten tauschen kann. Und ich weiß, dass das ein totales Klischee ist, aber genau das will ich halt manchmal.«
Ich sah, wie Chloe grinste und konnte nicht anders, als es ihr gleichzutun.
»Ich verstehe das«, meinte sie nickend. »Ich will zusammen bei Liebesfilmen heulen und dabei so viel Eis mit ihr essen, dass wir am Ende kotzen müssen. Dann würde ich sogar ihr Haare halten. Widerliche Gerüche bin ich ja eh von der Arbeit gewöhnt!«
Mein Grinsen wandelte sich zu einem Lachen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das eklig oder süß finden soll«, gab ich zu und bettete meinen Kopf auf ihrer Schulter, um mir die sich stetig wiederholende Ankunft der Wellen ansehen zu können. Mein Kopf bebte, als sie ebenfalls lachte.
»Bei welchem Film hast du zuletzt so richtig geheult?«, wollte ich neugierig wissen.
Chloe machte einen nachdenklichen Ton, bevor sie »Drei Schritte zu dir« antwortete.
»Da habe ich auch geweint. Wobei es hysterisches Schluchzen vermutlich eher trifft. Ich glaube der Rest des Kinosaals hat mich gehasst«, erzählte ich grinsend.
Das Beben meines Kopfes auf ihrer Schulter verstärkte sich, als sich Chloes Lachen intensivierte.
»Das hätte ich wirklich verdammt gerne gesehen«, gab sie zu.
Ich hob meinen Kopf, um sie anzusehen. In ihren Augen spiegelte sich etwas, das ihre kühle Hautfarbe warm erscheinen ließ und mich an eine Großmutter erinnerte, die frisch gebackene Kekse aus dem Ofen holte. Endlich erkannte ich, was Romeo all die Jahre in ihr gesehen hatte; dass in ihr mehr steckt, als nur ein hübsches Gesicht und ellenlange Beine.
»Vielleicht können wir beide ja Freundinnen werden«, schlug ich leise vor und schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln.
Chloes Augen begannen zu strahlen.
»Meinst du das ernst?«, wisperte sie.
Ich nickte und nur einen Wimpernschlag später spürte ich, wie sie ihre Arme um meinen Körper schlang und ihr Gesicht in meinen Haaren vergrub.
»Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet!«
Ich hätte vermutlich das Gleiche erwidern können, doch stattdessen drückte ich sie nur fester an mich, weil die Wärme unserer neu gewonnen Freundschaft so guttat. Wir blieben eine Ewigkeiten so sitzen, bis wir uns voneinander lösten.
»Du wolltest eben mit mir über deine Familie reden«, erinnerte sie und biss mir unsicher auf die Lippe, weil ich mir nicht sicher war, ob dies der richtige Zeitpunkt war, es nochmal zur Sprache zu bringen.
Das Lächeln aus Chloes Gesicht verschwand und das Funkeln in ihren Augen wechselte zu einer matten Ernsthaftigkeit. Wie in Zeitlupe nickte sie. »Ja. Aber bitte versprich mir, mich danach nicht in einem anderen Licht zu sehen. Ok?«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro