❝Szene 20: Karma❞
»Kann ich kurz mit dir reden, June?«, wollte Romeo zögerlich wissen.
Ich tauschte einen kurzen Blick mit Thea. Sie nickte energisch und grinste breit. Jedoch war ich nicht so zuversichtlich wie sie.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Du hast doch gesehen, was Chloe gestern zu mir gesagt hat. Sie möchte nicht, dass wir Kontakt zueinander haben«, antwortete ich und strich mir unsicher einige dunkle Strähnen hinter mein Ohr. Ich bemerkte, wie mich Thea empörte in die Flanke kniff, doch ignorierte dies gekonnt.
»Mach dir darum keine Sorgen. Ich kann selbst entscheiden mit wem ich rede. Chloe ist schließlich nicht meine Mutter«, entgegnete er und lächelte aufmunternd.
Ich seufzte leise. »Aber deine Freundin ... oder sowas ähnliches.«
»Das stimmt nicht«, sagte er sofort. »Abgesehen davon, halte ich sowieso nichts davon, einer anderen Person etwas zu verbieten. Wir sind doch alles freie Menschen. Du musst dir nichts von Chloe vorschreiben lassen, insbesondere weil sie keinerlei Besitzansprüche hat.«
Nachdenklich biss ich mir auf die Unterlippe und nickte. Ich konnte nicht leugnen, dass er recht hatte. »Ok, von mir aus können wir kurz reden.«
»Na endlich!« Thea klatschte einmal triumphierend in die Hände und erntete dafür einen amüsierten Seitenblick von mir.
Romeo grinste und reichte mir seine Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen.
»Sollen wir dabei ein bisschen am Strand entlang laufen?«, schlug er vor, während er mich auf die Beine zog.
»Ja«, antwortete ich knapp und versuchte die Vorstellung an einen romantischen Strandspaziergang zu verdrängen, dennoch flatterte mein Herz aufgeregt im Takt der Schritte, die wir nun hinunter zum Meer liefen.
Verdammt, er will nur über gestern Nacht reden und dir keinen Heiratsantrag machen, beruhig dich gefälligst, redete ich mir eindringlich ein.
»Alsoooo«, begann er und holte tief Luft, als wir genug Abstand zwischen uns und Thea gebracht hatten. »Du ... also ... ähm ...«
Er räusperte sich. Seine Finger glitten fahrig durch sein Haar, dann blieb er plötzlich stehen und sah mich direkt an. »Habe ich dir gestern Nacht ein Geheimnis erzählt?«
»Ja«, bestätige ich und bemühe mich, ihm weiterhin ins Gesicht zu sehen und meinen Blick nicht zu seinen Schuhen wandern zu lassen.
»Hatte es was hiermit zu tun?« Er starrte auf seine Füße hinab und wackelte mit dem linken.
»Ja«, antwortete ich erneut und hasste mich gleichzeitig für meine Wortkargheit. Gab es etwa neuerdings keine anderen Wörter mehr in meinem Wortschatz?
»Ich ... ähm ... also ich weiß, dass dir vier Zehen fehlen, aber du hast mir nicht den Grund dafür erzählt«, versuchte ich meine Sprache wiederzufinden.
»Ok«, sagte er tonlos und ich sah, wie er sich nachdenklich über das Kinn fuhr, bevor er seinen Weg am Rande des Ozeans weiterführte. Ich folgte ihm. »Ich denke, ich sollte dir erzählen, was damals passiert ist.«
»Das würde ich wirklich gerne erfahren«, gab ich zu. »Ich mache mir irgendwie Sorgen um dich. Wer hat dir das angetan?«
Romeo lachte leise in sich hinein, obwohl dieses Thema nicht zum Lachen war. »So wie du es formulierst, hört es sich an, als wäre ich der Mafia untreu gewesen und bestraft worden.«
»Und was ist wirklich passiert?«, wollte ich wissen und schaute ihn fragend an; verlor mich dabei jedoch - wie viel zu oft - in seinen Augen - in jedem Fleckchen von ihnen.
»Ach, ich habe nur mit 'nem Alligator gekämpft, kein großes Ding«, erzählte er und winkte bescheiden ab. Ein breites Grinsen holte seine Grübchen aus der Versenkung.
Ich gab einen belustigten Laut von mir und schüttelte dann den Kopf.
»Und jetzt bitte die Wahrheit«, verlangte ich.
Romeo seufzte und sah mich so lange schweigend an, dass es mir vorkam wie eine Ewigkeit. »Ja, sorry. Witze zu machen ist irgendwie ... leichter, als die Wahrheit zu erzählen, aber ich weiß, dass du verdient hast, zu wissen, was passiert ist.«
Kraftlos zuckte er mit den Schultern, bevor er fortfuhr: »Vor etwa zwei Jahren, als ich mich gerade von Chloe getrennt habe, ging es mir plötzlich ziemlich schlecht. Trotz Fieber war mir unglaublich kalt, ich habe mich benommen gefühlt, war kurzatmig und mein Herz hat so unglaublich schnell geschlagen. Und ich hatte Schmerzen. Wirklich höllische Schmerzen. Meine Eltern haben sich total Sorgen gemacht und dann irgendwann einen Krankenwagen gerufen. Zum Glück. Keine Ahnung, ob ich noch am Leben wäre, wenn sie es nicht getan hätten. Im Krankenhaus haben sie mich sofort ins künstliche Koma versetzen müssen.«
Er machte eine Pause und ich traute mich eigentlich gar nicht nachzufragen, als ich es schließlich doch tat: »Und was wurde diagnostiziert?«
»Eine Sepsis, also Blutvergiftung. Mir wurde es später so erklärt, das durch eine Wunde, die ich mir kurz zuvor am Bein zugezogen habe, Bakterien in meinen Körper gelangt sind, die daraufhin von meinen weißen Blutkörperchen angegriffen wurden. Das Problem dabei ist jedoch, dass diese zum Abwehren der Bakterien Gifte produzieren, die gleichzeitig auch meine anderen Organe beschädigten oder sogar gänzlich lahmlegten. Mein Blut floss nicht mehr normal und wurde dickflüssig, sodass es nicht mehr alle Zellen mit Sauerstoff versorgen konnten. Und das hatte zur Folge, dass meine Zehen schwarz wurden und abstarben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie geschockt ich darüber war, als ich aufwachte. Ich hatte überall Schläuche sitzen, die mich am Leben hielten, und dann war da noch diese tiefschwarze Farbe, die mich bis heute noch in meine Träume verfolgt.« Romeo schluckte hörbar.
»Ich glaube die Träume waren das schlimmste, als ich im Koma lag. Es sind immer wiederkehrende Alpträume, die einfach nicht aufhören. Du kannst ihnen nicht entkommen, weil du einfach nicht aufwachen kannst, während um dich herum, alle um dein Leben kämpfen. Ich glaube eigentlich nicht an den Himmel oder die Hölle, aber ich denke, sollte es - aller Unwahrscheinlichkeit zum trotze - doch ein Fegefeuer geben, dann ist es dort genauso«, erzählte er, während er gedankenverloren in die Sonne blinzelte, als könne er dort oben etwas erkennen, was andere nicht sehen konnten.
»Ich hab sehr viel Glück gehabt, June. Die Todesrate ist verdammt hoch. Und die meisten verlieren dadurch bedeutend mehr, als nur ein paar Zehen, doch trotzdem war es nicht leicht für mich, als die Ärzte sich für eine Amputation entschieden. Es war sowohl psychisch, als auch physisch, eine unglaublich schwere Zeit, deswegen habe ich meine Eltern gebeten, es niemanden zu erzählen. Ich musste erstmal selbst mit allem klarkommen. Sie haben meinen Freunden erzählt, dass ich ein Auslandsjahr machen würde, damit ich Zeit habe, alles zu verarbeiten. Chloe, als Krankenschwester, wusste natürlich von meinem Aufenthalt dort und irgendwann hat sie es auch Caleb gesagt, nachdem er immer misstrauischer geworden ist. Er hat mich regelmäßig besucht und mir geholfen meinen Gleichgewichtssinn nach der Amputation wieder zu verbessern. Ich bin wirklich dankbar für ihn und Chloe. Ohne die beiden hätte ich das wohl nie geschafft.« Er atmete tief ein und dann wieder aus und rieb sich kopfschüttelnd über die Augen.
»Ich ... ich hatte ja keine Ahnung«, hauchte ich. Niemals hätte ich gedacht, dass ihm so etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte.
»Ich weiß«, gab er leise zu. »Caleb wollte es dir immer sagen, aber ich habe ihn gebeten es nicht zu tun. Manchmal habe ich gedacht, dass er es insgeheim doch getan hat und du dich einfach nicht mehr für mich interessiert und mich sogar schon vergessen hättest, aber anscheinend hat er doch geschwiegen. Er ist ein wirklich guter Freund.«
»Ich könnte dich nie vergessen, Romeo«, widersprach ich mit gesenktem Blick, weil ich ihm bei diesen Worten einfach nicht in die Augen sehen konnte.
»Ich dich auch nicht, June.« Romeo räusperte sich und lachte dann kaum hörbar in sich hinein. »Soll ich dir etwas Peinliches verraten? Ich hab immer noch das Kaleidoskop, das du mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hast, weil du meintest, dass meine Augen manchmal so für dich aussehen.«
Ich sah auf und konnte mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. »Und du hast dadurch nicht bemerkt, dass ich damals Hals über Kopf in dich verknallt war?«
»Hey, wir waren beste Freunde. Ich dachte, du willst einfach nett sein«, sagte er und musste dann über seine eigene Dummheit lachen. Er setzte sich in den Sand und klopfte auf den Platz neben sich.
»Ja genau, weil Freunde ja auch einander sagen, dass sie wirbelnde, bunte Farben in den Augen des jeweils anderen sehen«, zog ich ihn ebenfalls lachend auf und ließ mich neben ihn in den Sand plumpsen. »Ich glaube, das war ein akuter Fall von hypnotisierender Verliebtheit.«
Romeo sah mich an, ohne etwas zu sagen. Genau wie schon vor all den Jahren, sah ich wieder die Farben in seine Augen, die sich zu komplexen Gebilden vermischten. Würde das jemals aufhören?
»Was?«, fragte ich erheitert, nachdem er eine ganze Weile nur schweigend in meine Augen gesehen hatte.
»Ich sehe es auch.« Er biss sich beschämt auf die Lippe und senkte seinen Blick.
»Wovon sprichst du?«, fragte ich verwirrt nach und runzelte meine Stirn.
»Ein Kaleidoskop ... in deine Augen«, murmelte er und sah wieder zu mir auf.
Mein Herz blieb einen Moment stehen. Hatte er das gerade wirklich gesagt?
All die Farbe zogen mich in einen Strudel und verschluckten alles um mich herum, als er seine Lippen auf meine legte. So viele Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet und mir ausgemalt, wie es sein würde, Romeo zu küssen. Doch jetzt, als er es endlich tat, war es besser, als meine Fantasie es sich hätte erträumen können.
Mir wurde warm und kalt zur gleichen Zeit, als sich seine Finger in mein Haar gruben und sich seine Lippen auf meinen bewegten. Seine Küsse schmeckten so, wie seine Ausstrahlung auf mich wirkte - einerseits wie nach Hause zu kommen und andererseits wie das aufregendste Abenteuer meines Lebens. Ethans Küsse waren nichts dagegen.
Meine Finger glitten unter sein T-Shirt und machten eine Erkundungstour über seine Bauchmuskeln. Selig seufzte ich in unseren Kuss herein. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als genau hier am Strand zu sein und Romeo zu küssen. Gab es irgendeine Möglichkeit diesen Moment in einer Muschel einzuschließen, damit ich sie mir immer ans Ohr halten konnte, wenn ich etwas Glück brauchte?
Plötzlich hielt er inne und riss sich von mir los. Er rückte mit gesenkten Blick von mir ab und ich sah, wie er seine Hände wütend in den weichen Sand kralle.
»Verdammt«, fluchte er wütend und sah mich dann verzweifelt an. »Es tut mir so leid!«
»Wofür?«, fragte ich irritiert und legte meine Hand beruhigend auf seine Schulter.
»Du hast einen Freund, June«, erinnerte er mich. »Ich hätte das nicht tun dürfen. Wir vergessen das einfach. Es hat sowieso nichts zu bedeuten. Ich war gerade einfach traurig und habe mich nach Nähe gesehnt.«
Ich zog meine Hand zurück und ließ sie resigniert auf meinen Oberschenkel sinken. Für einen Moment, zog ich es in Erwägung ihm die Wahrheit zu sagen, doch was hätte das für einen Unterschied gemacht? Er hat selbst gesagt, dass der Kuss bedeutungslos war. Ihn im Glauben zu lassen, dass mich wenigstens ein Mensch auf der Welt lieben würde, ließ mich wenigstens nicht als die Versagerin dastehen, die ich in Wirklichkeit war.
»Schon vergessen«, murmelte ich zustimmend. Wer's glaubt.
Die Stille zwischen uns war unerträglich. Niemand von uns wusste wirklich, was er sagen sollte. Welches Thema könnte bloß die knisternde Energie zwischen uns verscheuchen?
»Ähm«, machte ich peinlich berührt und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. »Hat der Abbruch deines Optometrie Studiums eigentlich was mit deiner Blutvergiftung zu tun?«
Er nickte langsam.
»Ja. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie teuer es ist mehrere Wochen im Koma zu liegen ... und dann noch die nachfolgenden Therapiekosten.« Ein schwermütiger Seufzer verließ seine Kehle.
»Um das abbezahlen zu können, habe ich mein Studium vorübergehend auf Eis gelegt und jobbe bei einem Bauunternehmen. Ich habe ihnen das mit meinem Fuß einfach verschwiegen, um den Job zu bekommen. Dort bekomme ich eine gute Stange Geld, ohne zuvor eine Qualifikation erlangen zu müssen. Deswegen bin ich ja auch hier. Ich brauche die Gage. Ich will meinen Eltern mit solchen immensen Kosten nicht auf der Tasche liegen. Es war meine eigene Schuld, dass ich die Blutvergiftung überhaupt erst bekommen habe. Das ist wohl das Karma, das mich heimsucht.« Sein letzter Satz ist nur noch ein trauriges Flüstern und verliert sich im Rauschen der Wellen.
»Das ist doch nicht deine Schuld! Du hast dich doch nicht vorsätzlich verletzt«, versuchte ich ihm auszureden. Wie kam er auf die Idee, dass er es verdient hätte?
»Du kennst noch nicht die ganze Geschichte«, flüsterte er und biss sich sogleich auf die Lippe, als hätte er schon viel zu viel gesagt.
»Nicht?«, fragte ich überrascht.
Mir kam das Gespräch zwischen Chloe und ihm in den Sinn, das ich am ersten Abend belauschte. Sie hatten darüber gesprochen, dass jemand gestorben sei. Bezogen sich seine Schuldgefühle etwa darauf?
»Ich habe mich bei etwas verletzte, das ich nicht hätte tun dürfen, um Personen zu beschützen, die ich geliebt habe. Vielleicht war das meine gerechte Strafe dafür.«
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