Ich liebte es zu fliegen. Das Kribbeln im Bauch, wenn das Flugzeug abhob; das Gefühl über den Wolken zu schweben und dem Himmel so nah zu sein; den Ausblick auf riesige Städte, die von oben so winzig und unbedeutend aussahen.
Ein zufriedenes Lächeln lag auf meinen Lippen, als ich über die Treppe das Flugzeug betrat und zwei Stewardessen mich begrüßten. Innen war es deutlich kühler, als im Außenbereich des Flughafens meiner Heimatstadt Phoenix, an dem mich meine Eltern wenige Stunden zuvor abgesetzt hatten.
In den ersten drei Monaten meiner Semesterferien war ich bei meinen Eltern gewesen. Trotz einiger Hausarbeiten und meiner ausführlichen Vorbereitung auf mein Praktikum, hatte ich eine tolle Zeit mit meiner Familie verbringen können. Ausflüge zum See; verregnete Spielenachmittage; jeden Morgen das weltbeste frisch zubereitete Omelette meiner Mutter; Vormittage mit meinem Vater in der Garage, um ihm beim Restaurieren seines Oldtimers zu helfen; Baseball Stunden mit meinem Bruder, der in seinem Sportstudium ebenso erfolgsorientiert war, wie ich in meinem. Und endlich ging es nun für mich nach Hawaii - um die ersten wichtigen Referenzen für eine schillernde Zukunft zu sammeln.
Das würde mein Sommer werden, da war ich mir sicher!
Ich warf einen Blick auf meine Bordkarte, während ich mich an einem älteren Herrn, der seine Tasche oben im Fach verstaute, vorbeizwängte. Reihe 9, Platz A.
Die mit einem blauen Teppich bedeckten Gänge waren eng und auch die Sitze schienen mit der geringen Beinfreiheit wenig komfortabel, doch ich war dennoch froh, dass die Produktion meine Flugkosten übernommen hatte. Wenigstens hatte ich das Glück einen Fensterplatz zugeteilt bekommen zu haben, sodass ich während der Reise die Weiten unserer Welt bewundern konnte. Vielleicht würde ich ja sogar ein gutes Foto schießen können? Die Kamera in meiner Tasche wartete schon ungeduldig darauf wieder in meinen Händen ihre Schönheit entfalten zu können.
Wenige Schritte später, musste ich jedoch feststellen, dass bereits ein junger Mann auf meinem Platz am Fenster saß. Er war nach unten gebeugt, und kramte in dem Rucksack vor seinen Füßen, sodass ich nur seine schlanken, aber dennoch definierten, Schultern unter dem schwarzen T-Shirt erahnen konnte. Seine kurzen Haare waren leicht verstrubbelt und wirkten so dunkel, dass ich mir nicht sicher war, ob sie schwarz oder dunkelbraun waren.
Verwirrt warf ich einen erneuten Blick auf meine Karte und danach auf die Zahlen über den Sitzen, nur um festzustellen, dass ich hier richtig war.
»Entschuldigung«, versuchte ich die Aufmerksamkeit des Fremden höflich zu erhaschen. »Ich glaube Sie sitzen auf meinem Platz.«
Der Kopf des Mannes fuhr hoch und in dem Moment hatte ich das Gefühl direkt in seine Seele zu sehen und eine neue Farbe zu entdecken. Genau wie früher. Ein zartes Braun mit einem Unterton Orange - fast ein wenig wie flüssiges Gold.
Mir stockte der Atem.
Vor mir saß Romeo Callahan.
Fünf Jahre hatte ich ihn erfolgreich aus dem Weg gehen können und nun befand er sich unmittelbar vor mir und schenkte mir ein kleines Lächeln, während er leicht mit dem Kopf schüttelte.
Er sah älter aus, als vor fünf Jahren. Seine Haare waren kürzer, seine Statur muskulöser und sein Kiefer ausgeprägter, doch im Großen und Ganzen hatte er sich nicht viel verändert.
»Sie müssen sich irren«, beteuerte er.
Ich wollte etwas erwidern, aber alle Worte schienen mir im Hals stecken zu bleiben. Mein Herz bekam einen kleinen Stich, weil er mich nicht zu erkennen schien, doch gleichzeitig redete ich mir ein, dass es gut sei, dass er nicht wusste, wer ich war. Ich wollte mir meinen perfekten Sommer schließlich nicht durch die Konfrontation mit meinem ehemaligen Schwarm verderben.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er und legte seine Stirn besorgt in Falten. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer mit geöffnetem Mund vor ihm stand und außer Stande war etwas zu sagen.
Nervös griff ich an meinen Hals, um den eine feingliedrige Kette mit einem kleinen, silbernen Ornament Anhänger und einem ebenso winzigen dunkelblauen Stein hing. Meine Mutter hatte sie mir vor sieben Jahren geschenkt und seitdem trug ich sie jeden Tag. Sie gab mir stets die Kraft, die ich brauchte, wenn ich mich überfordert mit einer Situation fühlte, und mich an etwas festklammern wollte, wie an ihrer Hand in meiner Kindheit.
Romeos Blick folgte meiner Bewegung und er musterte die Kette neugierig.
»Die ist schön«, sagte er leise und ich hörte die Zahnräder in seinem Kopf förmlich arbeiten. »Ich kannte mal ein Mädchen mit der gleichen Kette. Der Stein hat immer so gut zu ihren Augen gepasst.«
Sein Blick wanderte nun hoch zu meinen Augen. Sein Grün traf mein Blau und ich sah wie das Kaleidoskop in ihm die Puzzleteile zusammensetzte. Stück für Stück. Farbe für Farbe.
»June?«, keuchte er plötzlich ungläubig. »Bist du es wirklich?«
Benommen nickte ich und verstärkte den Griff um meine Kette, um das Zittern meiner Hand zu verbergen. Ich wollte hier weg. Sofort.
»Steh doch nicht so im Weg rum!«, beschwerte sich plötzlich eine stämmige Dame und gab mir unsanft einen Schubs in Romeos Richtung, um an mir vorbeizukommen. »Immer diese Jugend von heute, die im Weg herumstehen muss. Kein Respekt mehr vor Älteren!«
Ich fiel auf ihn zu. Geistesgegenwärtig riss er seine Hände nach vorne, um mich zu halten. Ein Kribbeln schoss durch meinen Körper, als ich seine Hand auf meiner Brust liegen spürte und mein Gesicht nur knapp vor seinem stoppte. Hitze flutete meinen Kopf, wie ein Tsunami. Nach all den Jahren fühlte sich seine Nähe noch genauso an, wie früher; als hätten wir nie den Kontakt zueinander abgebrochen.
Er sah mich erschrocken an und ich bemerkte, wie auch seine Wangen tiefrot glühten, als ich mich wieder aufrichtete und er seine Hand langsam entfernte. Auf seinen Lippen formte sich ein Lächeln, welches er jedoch mit einem Biss auf diese sofort wieder im Keim erstickte.
»Wow June, du bist so groß geworden ... also ich meine du bist immer noch ziemlich klein, aber du siehst so erwachsen aus ... also ähm du hast Brüste bekommen«, stammelte er völlig neben der Spur und ich musste mir ein nervöses Lachen verkneifen, weil ich ihn so unsicher und sprachlos gar nicht kannte. »Sorry, das war gerade total unangebracht! Ich habe einfach nicht erwartet dich auf diese Art und Weise wiederzutreffen. Oder dich generell jemals wiederzusehen, nachdem was du mir vor fünf Jahren an den Kopf geknallt hast.«
»Ja ... ich-«, begann ich zögerlich, doch bevor ich mich weiter erklären konnte, tippte mir jemand auf die Schulter und ich drehte mich verwirrt um. Ein junges Pärchen in meinem Alter lächelte mich entschuldigend an.
»Sorry, wenn wir euer Gespräch stören, aber wir müssen da rein. B und C sind unsere Plätze«, informierte mich das Mädchen freundlich und strich sich eine Strähne ihres roten Haares zurück.
»Oh, tut mir leid! Eine Sekunde, bitte«, erwiderte ich und streckte Romeo dann meine Bordkarte entgegen. »Das ist mein Platz. Siehst du? Reihe 9, Platz A.«
Verwirrt runzelte er die Stirn, während er sich erneut hinab beugte und in seiner Tasche nach seiner Karte kramte. »Nicht, dass der Flug überbucht wurde und du die neun Stunden auf meinem Schoß mitfliegen musst.«
Alleine bei dem Gedanken begann mein Herz wie wild zu rasen und ich verfluchte es dafür. Er hatte mir damals das Herz gebrochen und dafür wollte ich ihn hassen, doch wieso fühlte sich seine Nähe so gut an? Ich schluckte schwer und hoffte damit all die wirren Gedanken hinunterzuspülen. Es half jedoch nichts.
Romeo richtete sich wieder auf und schien meinen Blick zu bemerken. »Oh Gott June, keine Sorge, das war doch nur ein Scherz.«
Ich nickte langsam. Mir war nicht zum Scherzen zumute.
»Ich glaube ich weiß, wo das Problem liegt«, klärte er mich auf und tippte auf seine Karte. »Ich habe eigentlich Reihe 19 und habe die Eins vor der Neun übersehen.«
Er fischte seinen Rucksack vom Boden auf erhob sich langsam, ohne seinen Blick jedoch von mir abzuwenden. Sanft berührte er mich an der Schulter und schob mich ein Stück zur Seite, um an mir vorbeizukommen.
»Es war wirklich schön dich zu sehen, June.« Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Er hatte noch die gleichen tiefen Grübchen wie früher, die mir die Luft stahlen, weil ich ihre Schönheit nicht ertrug. Wieso musste alles an ihm so schmerzhaft bittersüß für mich sein?
Als er mich im Vorbeigehen leicht an der Hüfte streifte, spürte ich, wie eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper krabbelte und meine Augen sein Lächeln auf meine Netzhaut brannten, als hätte ich es mir dorthin tätowieren lassen.
»Ok«, brachte ich nur hervor und hätte mich im selben Moment für diese karge, unfreundliche Antwort ohrfeigen können.
Obwohl ich es nicht zugeben wollte, war es wirklich schön gewesen ihn zu sehen. Gleichzeitig hatte es mir jedoch erneut ins Gedächtnis gerufen, was für emotionale Schmerzen er mir damals zugefügt hatte und, dass ich scheinbar noch immer - selbst fünf Jahre nach dem Vorfall - seiner außergewöhnlichen Ausstrahlung erlag.
Damals hatte ich mir vorgenommen, dass - falls ich ihn jemals wieder begegnen sollte - ich wie ein Knicklicht sein wollte, das in einem leuchtendem Rot erstrahlt, wenn man es brach. Selbstbewusst, schön und lebensfroh. Ich wollte ihm zeigen, dass ich ihn nicht brauchte; dass ich selbst genug war; dass ich ohne ihn besser dran war und meine ganze Schönheit entfalten konnte. Doch die Realität unseres Treffens hatte nicht den erhofften Effekt ausgelöst - Ich fühlte mich eher wie ein kaputtes, ausrangiertes Knicklicht. Ein wortkarger, nervöser, dämlich schauender Produktionsfehler.
Als das Flugzeug startete, versuchte ich alle Gedanken an Romeo zu verscheuchen, doch es gelang mir nicht. Die Gewissheit, dass er nur zehn Reihen hinter mir saß, ließ die Anspannung in der Luft um mich herum bleiern schwer werden.
Ob er wohl noch mit Chloe zusammen war?
Nachdem ich meinen Eltern und Caleb verboten hatte jemals wieder über Romeo zu sprechen, hatten sie sich daran gehalten. Besonders für Caleb war es zwar anfangs schwer gewesen, dass sein bester Freund unser Haus nicht mehr betreten durfte und er hatte oft versucht mit mir über die Sache zu reden, doch er verstand auch, dass ich nicht bereit dazu war. Schließlich hatte sich all das nach so viel mehr, als einer bloßen Teenieschwämerei angefühlt. Elf Jahre lang waren Romeo und ich so eng miteinander befreundet gewesen, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht hatte vorstellen können. Er jedoch anscheinend schon.
Ich schluckte schwer, um die Trauer und die Wut, die sich in meinem Bauch anstauten, aufzulösen.
Man hätte meinen können, dass fünf Jahre reichen würden, um das Ende unserer Freundschaft zu verarbeiten, doch nur ein kurzer Blick in seine Kaleidoskopaugen hatten mich in den emotionalen Zustand von damals zurückkatapultiert. Wieso musste ich immer so gefühlsbetont sein? Wieso war ich so eine verdammte Heulsuse, die es nicht schaffte, über einen Mann, für den sie offensichtlich nicht die erste Wahl war, hinwegzukommen? Und wieso hatte mich Romeo mit seiner Art - selbst bei einem so kurzen Aufeinandertreffen - noch so sehr in seinen Bann ziehen können?
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