❝Szene 17: Mein Déjá-vu❞
Ich konnte es nicht fassen. Vollkommen leichtfertig setzte ich gerade alles aufs Spiel, was mir etwas bedeutete - meine Karriere und meinen Traum irgendwann bei großen Hollywood Produktionen hinter der Kamera stehen zu dürfen und somit alles, für das ich mich jeden Morgen aus dem Bett quälte. Würde das alles umsonst gewesen sein, sollte ich hier rausfliegen? Ich würde Rachel am nächsten Morgen einiges erklären müssen.
Und doch musste ich, mit einer kläglichen Gewissheit in meinem Herzen, feststellen, dass Romeo all das wert war. Er ist mir damals ein wirklich guter Freund gewesen und das wollte ich ihm nun zurückgeben.
Es dauerte mehrere Minuten, bis ich ihn endlich dazu bewegen konnte, genügend mitzuhelfen, um ihn auf die Beine zu bekommen. Wackelig steuerten wir in Schlangenlinien auf die Eingangstür zu, die glücklicherweise nicht verschlossen war. Wir standen in einem weißen Eingangsbereich, der durch einen riesigen Torbogen direkt ins modern eingerichtete Wohnzimmer blicken ließ. Auf der Couch saßen Violet und Mason und unterhielten sich lachend.
Bevor ich mich mit Romeo an ihnen vorbei zu den Zimmern schleichen konnte, entdeckte Violet uns. Verwirrt legte sie ihre Stirn in Falten. Mason folgte ihrem Blick und musterte uns ebenso irritiert.
Soviel dazu, dass ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Doch vermutlich war das nun sowieso egal. Das rote Lämpchen der Kamera in der Ecke des Raumes stahl sich in mein Blickfeld und verursachte ein unangenehmes Brennen in mir. Ich sollte nicht hier sein.
»Alles okay bei euch?«, wollte Violet wissen. Sogleich stellte sie ihr Wasser beiseite und steuerte besorgt auf uns zu, dicht gefolgt von Mason.
»Er ist ziemlich betrunken. Ich will ihn auf sein Zimmer bringen«, antwortete ich kleinlaut. Den Blick in die Kamera versuchte ich zu vermeiden, doch gleichzeitig wusste ich auch, wie dämlich mein Versuch war. Die zahlreichen Kameras in diesem Haus ließen, abgesehen von den Badezimmern, keinen Winkel aus. Sie würden jeden Zentimeter meines Gesichts in HD-Qualität aufzeichnen. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht.
»Er hat den Abend über aber auch ganz schön mit Grayson, Kayla und Jace gebechert«, beteuerte Mason und packte unter Romeos Arm, damit ich ihn nicht alleine stützen musste.
»Bist du nicht eine vom Kamerateam?« Violet betrachtete mich mit einem Hauch Misstrauen, das sich in ihren blassgrünen Augen spiegelte.
»Ja, ich bin Praktikantin, aber ich bin gerade nicht arbeitsbedingt hier. Ich möchte ihn einfach nur hier absetzten und dann schnell wieder ins Bett«, antwortete ich beschwichtigend.
»Ach stimmt, du bist doch die, die nach einem Monat benannt ist, oder? April? May? June? July?« Mason sah mich grinsend über Romeos Schulter hinweg an.
»Juuuuuneee«, kam es, begleitet von einem genüsslichen Murren, von Romeo. »Meiiiineee Juuuneee.«
Belustigt sahen Mason und Violet zwischen uns hin und her, doch bevor sie irgendeine Frage stellen konnten, grätschte ich dazwischen: »Wir sollten ihn jetzt auf sein Zimmer bringen. Er ist verwirrt und sollte dringend ins Bett!«
Glücklicherweise stellten die beiden keine weiteren Fragen, sondern halfen mir Romeo langsam den Flur entlangzuführen. Violet hielt ihn von hinten fest, während Mason und ich jeweils eine Seite von ihm stützten. Mit Hilfe der beiden, war es viel einfacher als bei meinem Alleingang auf dem Weg bis zur Villa.
»Die erste Tür links ist das Zimmer von Romeo und Chloe«, sagte Violet und verließ kurz ihren Posten als menschliche Stütze, um voranzugehen und anzuklopfen.
Wir verharrten einige Sekunden wartend, doch als niemand antwortete, traten wir einfach ein. Romeos und Chloes Zimmer war genauso aufgebaut, wie das von Violet und Mason, das ich vor einigen Tagen gefilmt hatte. In der Mitte stand ein großes Boxspringbett, über dem an der Decke ein riesiger Spiegel angebracht war, von dem ich gar nicht wissen wollte, wieso er dort hing. Das Zimmer war mit hellen, hochwertig aussehenden Möbel ausgestattet und hatte sogar eine Minibar. Jemand hatte die beigen Gardinen zugezogen, sodass diese die gigantische Fensterfront, die sich über die gesamte mir gegenüberliegende Wand erstreckte, verdeckte. Links von mir befand sich die Tür zum Badezimmer, deren schmaler Spalte zwischen Tür und Boden mir verriet, dass dort Licht brannte.
»Hallo? Chloe?«, rief Violet, die den spärlichen Lichtstrahl wohl auch bemerkt hatte.
»Ja?«, kam es aus dem Bad. In Chloes Stimme lag Verwunderung.
Ich hörte wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und sah wie die Tür langsam aufging. Hinaus kam Chloe in einen langen weißen Bademantel. Ihre Haare waren in einem ebenso hellen Handtuch zu einem Turban gewickelt. Anscheinend kam sie gerade aus der Dusche.
Sie schnaubte abfällig, als sie sah, wie Mason und ich den betrunkenen Romeo auf dem Bett abluden.
»Da ist ja der alte Schluckspecht«, stellte sie wenig erheitert fest. »Wo habt ihr ihn aufgegabelt?«
»Draußen«, log ich, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. »Ich war noch eine Runde spazieren und dann fand ich ihn.«
»Im Pyjama?« Chloe verzog ungläubig den Mund.
Mein Hals fühlte sich an, als würde jemand Schnüre um ihn legen, als ich »Ja, ich hatte keine Lust mich für den Spaziergang umzuziehen« krächzte. Wieso musste ich bloß so eine unglaublich schlechte Lügnerin sein?
Chloe musterte mich für einen Moment argwöhnisch, bevor sie abwinkte. »Na ja, wie auch immer. Lasst ihn einfach im Bett liegen, dann kümmere ich mich um ihn.«
»Sicher? Wir können dir auch helfen. Nicht, dass er noch ins Bett kotzt oder so«, schlug Violet vor und hob Romeos Kopf kurz an, um das Kissen darunter glattzustreichen. Irgendwas murmelte er schon wieder, doch ich verstand nicht was.
»Keine Sorge, ich bin Krankenschwester. Glaubt mir, ich bin weitaus Schlimmeres gewohnt«, erinnerte Chloe uns und verdrehte grinsend die Augen. Sie setzte sich neben Romeo auf die Matratze. »Ich komme mit ihm zurecht. Geht ruhig.«
Sie hatte recht. Er war nun genau dort, wo er hingehörte und meine Mission war somit beendet. Ich hatte nun Zeit, zurück ins Bett zu gehen und mir eine gute Ausrede für Rachel zu überlegen. Das würde für alle Beteiligten das Beste sein. Verständnisvoll nickten wir Chloe zu und verabschiedeten uns von ihr. Mason und Violet hatten das Zimmer schon verlassen, als mich Chloe aufhielt.
»June, warte bitte kurz«, stoppte sie mich. Ich verharrte im Türrahmen und versuchte mir meine innere Anspannung nicht anmerken zu lassen.
»Ja?«, fragte ich bemüht ruhig. »Braucht ihr noch etwas?«
Ich versuchte in ihrer Mimik abzulesen, was sie dachte, doch sie wirkte so ausdruckslos, als wäre sie aus Porzellan. Mit zusammengepressten Lippen wickelte sie sich ihren Handtuchturban ab und fuhr mit ihren Fingern durch ihre wirren, feuchten Haare.
»Setzt du dich bitte einen Moment?«, bat sie und deutete auf einen gemütlich aussehenden, cremefarbenen Sessel gegenüber des Bettes.
Schweigend folgte ich ihrer Bitte und ließ mich dort nieder. Der weiche Stoff passte sich so perfekt meinem Gesäß an, dass ich mich fühlte, als säße ich auf einer Wolke. Anscheinend hatte die Produktion für die Kandidaten keine Kosten und Mühen gespart. Trotzdem lenkte mich das nicht von dem mulmigen Gefühl ab, das in meiner Magengegend rumorte.
»Die Zimmer sind wirklich schön«, versuchte ich die Stille durch Small Talk zu brechen, als Chloe auch nach einigen Sekunden nichts gesagt hatte.
»Wo war Romeo wirklich? Hat dich diese zickige Produzentin mit ihm hier hingeschickt? Was hat die Alte vor?«
Ich war überrascht über Chloes kühlen Tonfall. Ihre rostbraunen Augen ruhten wachsam auf mir. Es war merkwürdig sie so voller Argwohn zu sehen, nachdem wir uns bei unserem letzten Gespräch so gut verstanden hatten. Sie hatte sogar geweint und sich bei mir für ihr damaliges Verhalten mir gegenüber entschuldigt, doch nun sah sie mich anders an - fast so als wäre ich der Feind.
»Chloe«, setzte ich vorsichtig an und versuchte unauffällig mit den Augen auf die Kamera zu deuten. Rachel als zickig und die Alte zu bezeichnen, war vermutlich keine gute Idee, schließlich war es immer noch sie, die in dieser Sendung die Fäden zog.
Aufgebracht sprang Chloe auf und sah direkt in die Linse. Eine gereizte Furche hatte sich auf ihrer Stirn gebildet und aus ihren Augen schien förmlich Feuer zu sprühen, so intensiv lieferten sie sich einen Kampf mit dem rot blinkenden Lämpchen. Ihre Stimmung schwankte wirklich schnell. Ob es doch stimmte, dass sie möglicherweise manisch-depressiv war?
»Weißt du was? Das dürfen jetzt ruhig alle mitbekommen«, keifte sie wütend. Sie sah nicht mich an, sondern starrte immer noch in die Kamera. »Ich bin eure dummen Spielchen so so so satt! Ernsthaft! Ihr wollt mich und Romeo doch nur manipulieren. Ich dachte diese Show würde uns wieder zusammenbringen, aber momentan tut ihr alles, um das Gegenteil zu bewirken. Was soll der Scheiß?«
Sie fuhr sich durch ihre roten Wellen, die daraufhin noch wirrer abstanden, als zuvor sowieso schon.
»Ich verspreche dir hoch und heilig, dass Rachel und das restliche Team hiermit nichts zu tun haben. Wirklich! Ich wollte Romeo einfach nur zurückbringen«, versicherte ich ihr, stand auf und machte einige Schritte auf sie zu. Ich wollte sie behutsam am Arm berühren, doch ließ es im letzten Moment dann doch lieber bleiben.
Ihre Schultern sackten hinab und sie entspannte sich sichtlich.
»Wirklich?« Ihre Stimme war leiser als zuvor und das vor Wut lodernde Feuer in ihre Augen war gänzlich erloschen.
»Ja«, antwortete ich leise und dieses Mal legte ich wirklich meine Hand auf ihrer Schulter ab.
Die Geste entlockte ihr ein zaghaftes Lächeln.
»Tut mir leid, dass ich gerade so ausgerastet bin. Ich weiß manchmal auch nicht wirklich was mit mir los ist. Irgendwie ...« Sie brach ihren angefangenen Satz ab und schüttelte seufzend den Kopf, »ach egal.«
»Wenn du darüber reden willst«, begann ich und mein Blick huschte kurz zur Kamera, bevor ich ihr wieder in die Augen sah und leiser fortsetzte: »Also ohne Kamera, dann kannst du immer zu mir in die Hütte kommen und mit mir reden. Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann, aber ich werde es versuchen und dir zuhören.«
Mit einem dankbaren Lächeln schloss Chloe mich in den Arm.
»Dankeee, Baaaabyyy« murrte Romeo hinter uns auf dem Bett und drehte sich ächzend auf den Rücken. »Dein Betttt is' vooooll g'mü'lisch, Juuuneee!«
Abrupt ließ Chloe mich los und starrte Romeo an, der ein seliges Lächeln im Gesicht trug.
»Kommm herrrr, Juuunee«, verlangte er und seine Stimme klang rau und hätte vermutlich, wäre er nicht betrunken und im Bett von ihm und Chloe gewesen, verlockend geklungen. In diesem Moment hätte es für mich trotzdem nichts Unwillkommeneres geben können. Den betrunkenen Romeo mochte ich nicht sonderlich. »Scheißßßß 'uf Chloooeee, küsss misch 'ndlich!«
Ich versteifte mich vor Schock. Das hatte er doch nicht wirklich gerade gesagt, oder?
»Er ist verwirrt«, stammelte ich, damit Chloe nicht glaubte, dass etwas zwischen ihm und mir lief.
»Hast du ihn wirklich bei einem Spaziergang gefunden?«, wollte sie wissen. Dieses Mal loderte kein Feuer in ihr, stattdessen schienen tausende, bunte Steinchen aus ihren Augen auf mich zuzuschießen - eines spitzer und gefährlicher als das Nächste. Sie waren so rot wie Verrat, so blau wie Trauer und so grün wie Neid.
Ich biss mir auf die Lippe. Chloe hatte die Wahrheit verdient, das wusste ich.
»Nein«, gab ich zögerlich zu und senkte beschämt meinem Blick. »Er ist zu mir in die Hütte gekommen, um mir etwas zu zeigen.«
»Was zu zeigen?« Ihre Stimme hätte meterdicke Eisklötze zerschneiden können.
»Ich ... wir können hier nicht sprechen«, wisperte ich und vermied den Blick zur Kamera.
Chloe verstand trotzdem. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Was hat er dir erzählt?«, zischte sie.
»Chloe, ich kann nicht...«, versuchte ich ihr zu erklären, doch jemand fiel mir ins Wort.
»Meinnn Geheimnischhh!« Romeo hickste und lachte daraufhin leise in sich hinein, während er sich wieder auf die Seite drehte.
Es schien, als würde jegliche Farbe aus ihrem Gesicht weichen, sodass es sich kaum noch von dem Ton ihres weißen Bademantels unterschied. Sie öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus, dann drücke sie sich ihre Hände vor das Gesicht. Ich hörte wie ihr Atem laut und stoßweise ging.
»Alles ok?«, fragte ich vorsichtig und streckte abermals meine Hand nach ihr aus.
Ihre Augen waren gerötet, als sie zögernd ihre Hände wieder sinken ließ.
»Was verdammt nochmal hat er dir erzählt?« Sie zitterte leicht. Ihre Augen bohrten sich alleine durch ihren Blick in meine Haut, als wäre jedes kleinste Zucken ihres Augenlids ein Widerhaken.
Ich verstand nicht, wieso sie so komisch reagierte. Hatte sie etwas damit zu tun? Plötzlich kam mir das Gespräch von ihr und Romeo wieder in den Sinn, das ich in der ersten Nacht belauscht hatte. Romeo hatte angedeutet, dass jemand gestorben sei. Hing das alles zusammen? Die Trennung von Chloe und ihm; der mysteriöse Tote; Chloes psychische Probleme und Romeos fehlenden Zehen? Doch was lag all dem zugrunde? Was war der gemeinsame Nenner?
»Er hat mir nur etwas gezeigt«, sagte ich und nickte hinab zu meinen Füßen.
»Mehr nicht?«, wollte sie wissen und packte mich grob an den Schultern. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, sie wolle mich schütteln, doch dann zog sie ihre Hände wieder zurück und kniff mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht die Augen zu.
»Nein, nur das«, versicherte ich ihr. Ich stand nur untätig und vermutlich sichtlich eingeschüchtert vor ihr und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, um sie zu beruhigen.
»Und dann?«, hakte sie nach. Ihre Stimme war von einem Moment auf den anderen nicht mehr aggressiv, sondern zart und brüchig. »Hat er dich geküsst? Läuft da was zwischen euch?«
»Nein, nichts von beidem«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Endlich atmete Chloe erleichtert aus und entfernte ein Bündel Strähnen, das ihr zuvor ins Gesicht gefallen war, aus ihrem Sichtbereich.
»Und wieso will er dich dann küssen?«
Ich zuckte unsicher mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber das was ich weiß, ist, dass er zu dir gehört und das akzeptiere ich. Ich will nicht zwischen euch kommen. Romeo und ich sind nur befreundet.«
Wie oft habe ich mir selbst und anderen jetzt eigentlich schon gesagt, dass nichts zwischen uns wäre und dass wir nur Freunde seien? Und wieso habe ich es kein einziges Mal wirklich geglaubt? Freunde sehen keine herumwirbelnden Farben, sobald der andere sie nur berührt. Ich habe es schon mit fünfzehn festgestellt und stelle es in diesem Moment erneut fest: Romeo ist mein Kaleidoskop - die Person, die allen Farben in meinem Leben einen Sinn gibt.
»Ok.« Chloe nickte knapp.
»Aber ich will nichts riskieren. Das mit mir und ihm ist mir unheimlich wichtig und ich will nicht, dass etwas ... oder jemand«, sie warf mir einen offensichtlichen Blick zu, »dazwischen kommt. Mach einfach professionell deine Arbeit weiter, aber versuch uns dabei möglichst fernzubleiben. Ok?«
Ihre Worte waren wie ein peinigendes Déjà-vu, das sich in mein Herz bohrte. Mit dem Unterschied, dass ich mittlerweile erwachsen geworden war. Dieses Mal schrie ich niemanden an oder schwor mir ewigen Hass, stattdessen nickte ich nur schwerfällig, murmelte benommene Worte der Zustimmung, die ich selbst schon, kurz nach dem sie über meine Lippen gekommen waren, vergessen hatte, und verließ das Zimmer. Doch der Schmerz war der gleiche wie damals.
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