❝Prolog❞
5 Jahre zuvor
Lieber Romeo,
wenn man durch ein Kaleidoskop blickt, sieht man ein Gemisch aus Farben. Es ist immer eine andere Konstellation; nie die Gleiche.
Und immer, wenn wir uns sehen, entdecke ich neue Facetten an dir. Ich finde in deinem Lächeln von der Welt unentdeckte Farben, die ich zuvor nie für möglich gehalten habe.
Verrückt, wie viel sich ändert, wenn das Leben dich nur ein Mal kurz schüttelt, nicht wahr?
Wir sind schon Freunde, seit ich denken kann, aber in letzter Zeit fühlt sich alles so anders an. So frisch und atemberaubend. Als hätten sich alle Farben neu angeordnet.
Wenn ich dich fotografiere, nehme ich alle Farbspektren um dich herum nicht mehr wahr, weil ich mich in deinen Augen verliere. Dieses intensive Grün mit den braunen Sprenkeln, die sich stets an einer anderen Stelle deiner Iris zu befinden scheinen.
Ich wollte dir all das schon so lange persönlich sagen, doch ich hatte Angst damit alles durcheinander zu würfeln. Die Glassteinchen unserer Freundschaft zu zertrümmern.
Doch vielleicht geht es dir ja ähnlich; vielleicht sind wir dazu bereit unserer Anordnung zu ändern.
Denn du bist mein Kaleidoskop - die Person, die allen Farben in meinem Leben einen Sinn gibt.
In Liebe,
June
Frustriert legte ich den Stift beiseite und vergrub mein Gesicht stöhnend in meinem Kopfkissen. Obwohl alles wahr war, hörte es sich so schrecklich kitschig an!
Und immer wenn die Farben meines Herzens die Kontrolle an den Stift abgaben, kam so etwas heraus. Doch welcher 17-Jährige wollte schon solch einen peinlichen Brief bekommen? Noch dazu von der zwei Jahre jüngeren Schwester seines Kumpels, die zu allem Übel auch gleichzeitig seine beste Freundin war? Vermutlich keiner.
Romeo würde sich über den Brief nicht lustig machen, dafür war er viel zu nett, doch es würde sicherlich diese elendige, unangenehme Stille zwischen uns herrschen und die Sprenkel in seinen Augen würden nervös herumwirbeln, während er überlegt, wie er mir schonend beibringen kann, dass er nichts für mich empfindet. Und dann würden alle Farben aus meinem Leben weichen.
Ich rollte mich auf den Rücken und starrte gedankenverloren an die Decke, an der ich als Kind mit meinem Bruder und ihm einen Regenbogen gemalt hatte. Deprimiert schloss ich meine Lider, weil alle Farben mich nur an Romeo erinnerten.
In dem Rot, sah ich ihn in seinem bordeauxfarbenen Lieblingspullover, den er fast immer trug. Das Orange erinnerte mich an den Sonnenuntergang, den wir Anfang des Sommers mit unseren Freunden am See genossen hatten und bei dem ich bemerkte, was ich eigentlich für ihn empfinde. Gelb war die Sonne, die heller schien, wenn er auftauchte. Seine atemberaubenden Augen fand ich in dem satten Grün wieder. Blau, wie das Gestell seiner Brille, die er erst kürzlich gegen Kontaktlinsen getauscht hatte. Und lila, wie der Einrichtungsstil seiner Mutter, den er so schrecklich fand. Er war die Inkarnation jeglicher Farbe in meinem Leben. Meine Definition von Bunt; meine Beschreibung von Liebe.
Ich werde es ihm morgen sagen, nahm ich mir vor, doch wusste gleichzeitig auch, dass ich die Konfrontation mit dieser Ausrede schon den ganzen Sommer vor mich herschob. Ich war so ein Feigling!
Da Trübsal zu blasen mich jedoch auch nicht weiter brachte, verstaute ich den Liebesbrief wieder in der Kiste unter meinem Bett, in der ich den Sommer über, wie ein verrückter Stalker, Dinge von ihm gesammelten hatte. Eines seiner T-Shirts, das er mir gab, nachdem er mich mit Klamotten spaßeshalber in den See geschmissen hatte; einen Zettel mit aufmunternden Worten, den er schrieb, als ich mir vor zwei Jahren die Hand verstaucht hatte; einen alten Turnschuh von mir, den er einst bemalte; und zahlreiche Bilder, die ich von ihm gemacht hatte, weil er mir helfen wollte meine Fotografie Fähigkeiten auszubauen.
Seufzend schnappe ich mir den Rucksack mit meinen Badesachen für den See und lief die Treppe hinunter, an deren Ende mein Bruder Caleb wartend auf den untersten Stufen saß. Seine dunklen Haare waren nicht - wie gewöhnlich - ordentlich gegelt, sondern standen ihm in wirren Locken vom Kopf ab. Der diesjährige sonnenverwöhnte Sommer Arizonas hatte die zahlreichen Sommersprossen in seinem Gesicht hervorgehoben und gleichzeitig seiner normalerweise blassen Haut den Hauch von Bräune geschenkt. Das war eine Sache, die ich an meinen Bruder wirklich beneidete. Ich wurde auch dann nicht braun, wenn ich den gesamten Sommer nur in der Sonne lag. Nach rot kam bei mir stets wieder kalkweiß. Und zu allem Übel hatte ich noch nicht einmal die süßen Sommersprossen geerbt, die ansonsten alle auf der mütterlichen Seite meiner Familie hatten. Meine Haut war quasi nur eine farblose Leinwand, auf die der Künstler in peinlichen Situationen manchmal rote Farbe verschüttete.
»Was hast du vor?«, fragt er mich irritiert, als er mich sah. Sonnenlicht schien so grell durch die Glasfront unseres Eingangsbereichs, dass ich kleinste Staubpartikel in der Luft um ihn herum tanzen sah.
»Romeo holt uns gleich ab und wir fahren zum See, schon vergessen?« Über seinen verwirrten Gesichtsausdruck grinsend, setzte ich mich neben ihn auf die hölzernen Stufen.
Calebs Mimik wandelte sich von Verwirrtheit zu Besorgnis. Er zog die Lippen missmutig zu einer dünnen Linie zusammen und musterte mich mitleidig. Seine schmächtigen Schultern sackten hinab, als hätte man einer Marionette die Fäden abgeschnitten.
»June«, begann er sanft und biss sich unsicher auf die dünnen Lippen, die stets etwas rissig waren. »Hat Romeo noch nicht mit dir geredet?«
Ich horchte auf und musterte Caleb irritiert. Was sollte das heißen? Stand Romeo etwa auf mich?
Mein Herz flatterte unruhig in meiner Brust und ich konnte nicht unterdrücken, dass meine Stimme höher und etwas quietschig wurde, als ich »Worüber?« fragte.
Die Farben verschwammen vor meinen Augen und das Blut, das in meinem Körper zu vibrieren schien, legte einen rosanen Schleier über alles um mich herum. Endlich verstand ich die Metapher mit der rosaroten Brille!
»Er möchte dich nicht mehr dabei haben«, murmelte er schuldbewusst und wich meinem Blick aus, indem er seinen senkte.
Irritiert weiteten sich meine Augen und ich legte meine Stirn in Falten. »Wie meinst du das?«
»So wie ich es gesagt habe.« Calebs Stimme war leise und er schien unruhig, als er sich durch sein dunkles Haar fuhr. »June, es tut mir so Leid für dich, aber...«
»Soll das ein dummer Scherz sein? Wenn ja, ist das ganz und gar nicht lustig.« Ich sprang auf und funkelte erzürnt auf ihn herab.
Caleb spielte gerne Streiche, doch manchmal ging er damit zu weit. Und Romeo war momentan mein wunder Punkt. Ich hatte meinem Bruder zwar nie gesagt, was ich für seinen besten Freund empfand, doch vermutlich konnte er es sich denken. Meine Gefühle habe ich noch nie gut verbergen können.
»Das ist kein Scherz«, beteuerte er und Verzweiflung trat in seine hellblauen Augen, als er nach meiner Hand griff, die ich ihm sogleich wieder entzog. »Bitte setz dich hin, dann reden wir darüber. Ich will nicht, dass du traurig bist!«
In diesem Moment sah ich, wie Romeos alter VW in unserer Einfahrt einbog. Die rote Lackierung leuchtete in der Sonne, wie eine reife Erdbeere.
»Weißt du was? Du kannst mich nicht verarschen! Ich gehe jetzt zu Romeo«, verkündete ich meinem Bruder, drehte mich auf dem Absatz um und stapfte zielgerichtet auf meinen besten Freund zu, der gerade aus seinem Wagen stieg.
Seine dunklen Haare wurden durch den leichten Wind, der an jenem Tag herrschte, aufgewirbelt, und brachten seine abstehenden Ohren, die sonst stets von der Länge seines Haarschopfs überdeckt wurden, zum Vorschein. Er trug ein schlichtes weißes T-Shirt, das seine leicht gebräunte Haut gut betonte, und eine hellblaue Badeshorts. Seine vollen Lippen, die normalerweise mitsamt seiner erschreckend hellen, aber minimal zu großen Vorderzähnen ein strahlendes Lächeln bildeten, waren zusammengepresst und seine Stirn lag besorgt in Falten, als bedrücke ihn etwas. Neben dem Muttermal schräg unterhalb seines Auges, entdeckte ich tiefe, blaue Ränder der Sorge. Romeo wirkte nicht wie er selbst. Für gewöhnlich hatte er diese besondere Ausstrahlung, die alles in einem Raum einnahm, die dafür sorgte, dass man nicht anders konnte, als sich in ihn zu verlieben.
Dass er gut aussah konnte man nicht abstreiten, aber die Wirkung, die er auf andere hatte, war wahrlich das, was alle Mädchenherzen zum Schmelzen brachte. Dieser Schalk, der alltäglich in seinen Augen glitzerte und die Wärme, die von seinem Herzen ausging; seine Art wie er alles stets genau zu analysieren schien und sich auf die Lippen biss, wenn er nachdachte und dabei wirkte, wie ein missverstandener Poet; Abenteuer und Zuflucht standen ihm gleichzeitig ins Gesicht geschrieben. Wenn man Romeo Callahan ansah, fühlte man sich sofort zu Hause und als wäre man zeitgleich auf der spannendsten Reise seines Lebens. Er war ein Paradoxon. Gelb und Violett; Blau und Orange; Rot und Grün.
Doch heute war etwas an ihm anders. Er wirkte traurig, als hätte er seit Tagen keine Sonne mehr gesehen, obwohl sie so plakativ über ihm stand und auf den Asphalt knallte. Als er mich sah, bemerkte ich ein leichtes Zucken seiner geraden Nase und wie sein Adamsapfel in seiner Kehle unruhig auf und ab hüpfte.
Ich wollte mich nicht von dem merkwürdigen Ausdruck in seinem Gesicht irritieren lassen und lief - wie immer - mit einem breiten Lächeln auf ihn zu, um ihn zur Begrüßung zu umarmen, schließlich schaffte ich es schon seit meiner jüngsten Kindheit ihn aufzumuntern, wenn er einen schlechten Tag hatte, doch er streckte abwehrend seine Hand aus und hinderte mich somit daran.
Einige Steinchen meines Kaleidoskopherzens zerbrachen.
Wieso wollte er mich nicht umarmen?
Wieso hielt er mich auf Distanz?
Wieso sah er mich so betrübt an?
»Hey«, begrüßt er mich zögernd und richtet seinen Blick auf die Spitze seiner Turnschuhe, als wären sie so interessant für ihn, wie die Optometrie Zeitschriften, die er immer las. »Ähm ... ich kann dich leider nicht mitnehmen, June.«
»Wieso nicht?«, fragte ich sogleich. Ein unangenehm flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Das Gefühl von Verrat.
»Ich glaube es ist besser, wenn wir Abstand zueinander halten«, murmelte er kleinlaut, ohne mich anzusehen; ohne mir diese eiskalten Worte ins Gesicht zu sagen. Normalerweise war er selbstbewusst, doch jetzt stand er vor mir, wie ein Häufchen Elend. Ein Häufchen Elend, das mir mein Herz aus der Brust riss. Ein Häufchen Elend, das ich liebte.
»Wieso willst du das?« Wie Dolche aus Eis schossen meine Worte auf ihn zu, doch bevor sie ihn attackieren konnten, schmolzen sie durch die Wärme, die ich stets in seiner Nähe empfand.
»Es tut mir wirklich leid, June, aber es ist besser so. Ich kann nicht mehr mit dir befreundet sein«, antwortete er und blickte mir endlich in die Augen. Das Grün wirkte trüber als sonst und die goldbraunen Sprenkel darin waren verschwunden, als hätte man das Kaleidoskop in ihnen zerstört.
»Wir kennen uns schon, seit wir kleine Kinder sind«, brachte ich hervor und musste schlucken, um den Kloß in meinem Hals zu vertreiben. Verzweifelt blinzelte ich gegen die Tränen in meinem Augenwinkel an. Ich konnte nicht vor ihm weinen. Nicht jetzt. Obwohl ich es schon so oft getan habe, wollte ich mir nun nicht die Blöße geben.
»Ich weiß.« Er seufzte. So laut, dass ich das Gefühl hatte mein Trommelfell würde platzen. Ich blendete sämtliche Geräusche um uns herum aus und alles, was er sagte, klang so entsetzlich laut. Jedes einzelne fürchterliche Wort, hallte wie ein Echo in meinem Kopf wider, als wäre er ansonsten vollkommen leergefegt: »Aber das hier ist jetzt leider das Ende unserer Freundschaft.«
Das Klirren von Scherben hallte schmerzhaft durch meinen Kopf.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, hauchte ich den Tränen nahe. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso wollte Romeo nicht mehr mit mir befreundet sein?
»Nein, du bist ein wunderbares, kreatives und intelligentes Mädchen und mit dir befreundet zu sein war super ... aber es geht leider nicht mehr. Weißt du, ich habe jemanden kennengelernt und bin zum ersten Mal richtig verliebt. Sie heißt Chloe und sie ist umwerfend«, begann er und das kurze Strahlen, das in seine Augen trat, als er sie erwähnte, fraß sich in mein Hirn, als hätte man es den Wölfen vorgeworfen, »doch sie ist sehr unsicher und will deswegen nicht, dass ich Kontakt zu anderen Mädchen habe. Ich möchte einfach, dass sie sich sicher sein kann, dass ich es ernst mit ihr meine. Das tue ich nämlich. Das verstehst du doch bestimmt, oder?«
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und bohrte meine Fingernägel so fest in meine Handflächen, das diese quälend pochten. Irgendwie musste ich den Schmerz in meinem Inneren betäuben.
»Weißt du was?« Ich schnaufte wütend und versuchte meine Verletzlichkeit in die hinterste Ecke zu verbannen. »Wenn dir dieses Mädchen wichtiger ist, als unsere elfjährige Freundschaft, dann verpiss dich einfach! Ich habe mich so entsetzlich in dir geirrt. Du, Romeo Callahan, tust immer so, als wärest du der netteste Junge auf der Welt, aber in Wirklichkeit unterscheidest du dich kein Stück von allen Arschlöchern auf diesem Planeten!«
Bevor die zurückgehaltenen Tränen ihren Weg aus meinen Augen fanden, drehte ich mich um und lief zügig Richtung Haus.
»June, warte.« Seine Stimme zitterte auffallend.
Ich hielt inne, ohne mich jedoch zu ihm umzudrehen.
»Du weißt gar nicht, wie leid mir das tut! June, du warst meine beste Freundin und ich bin dir so dankbar für die wunderbare Zei-«
Ich schnitt ihm das Wort, indem ich ein letztes Mal herumwirbelte und in sein trauriges Gesicht blickte. Tränen rannen über meine vor Wut geröteten Wangen.
»Spar dir das! Ich wünsche dir und deiner Chloe-« Ich spuckte ihm ihren Namen förmlich entgegen, »ein tolles halbes Jahr zusammen. Länger wird das doch eh nicht halten! Und danach brauchst du bei mir nicht mehr ankommen! Ich will dich hier nie wieder sehen! Verstanden?«
Ich wartete nicht ab, dass er etwas erwidern konnte, sondern drehte mich wieder um und eilte ins Haus. Mein schlechtes Gewissen erschlug mich fast, als ich in das geschockte Gesicht meines Bruders und meiner Eltern, die den Streit anscheinend auch mitbekommen hatten, blickte. So zickig kannte ich mich selbst nicht. Doch in diesem Moment schien alles anders. Die Wut und Trauer füllten jede noch so kleine Zelle meines Körpers aus und hatte mich vollkommen in Besitz genommen.
»Ich will ihn in diesem Haus nie wieder sehen! Versteht ihr? Nie wieder! Und ich will nicht, dass jemals wieder in meiner Gegenwart ein Wort über ihn verloren wird! Unter keinen Umständen!«, brüllte ich und fühlte mich gleichzeitig so klein - verweint, verrotzt, unbedeutend und - am schlimmsten von allem - ungeliebt.
»Schatz, ganz ruhig, wir können darüber reden«, sagte meine Mutter in einem beruhigenden Tonfall und streckte die Hand nach mir aus, als wolle sie mich aus den Fluten meiner Tränen ziehen.
»Romeo ist ab heute für mich tot, da gibt es nichts mehr zu reden!«, keifte ich aufgebracht und eine weitere dunkle Welle von Tränen ließ meinen Körper beben. Ich schob meinen Bruder zur Seite und rannte hinauf in mein Zimmer.
Die Tür fiel donnernd zu, während das Klirren in meinem Kopf zunahm. So lange, bis plötzlich alles ganz still wurde - und ich nur noch einen Haufen bunter Scherben vor meinem inneren Auge sah. Denn Romeo Callahan war mein Kaleidoskop.
Ich hoffe euch hat das erste Kapitel bisher gefallen und ihr freut euch schon darauf bald mehr über June und Romeo zu erfahren! :)
Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr Votes & Kritik/Lob dalasst ♡
Und ja, ich weiß, dass der Name Romeo anfangs vermutlich etwas gewöhnungsbedürftig ist, weil man dabei immer direkt an „Romeo & Julia" denkt, aber ich liebe diesen Namen einfach. Außerdem kann man ihn sehr gut in eine Dating Show einbauen :D
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