𝕍𝕚𝕖𝕣𝕫𝕖𝕙𝕟
Mit jedem weiteren Schritt breitete sich ein kaum auszuhaltender Druck auf meinem Brustkorb aus. Es fühlte sich absolut falsch an, ihn nicht über alles aufzuklären und es war an der Zeit, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.
Deshalb begann ich bereits innerlich damit, mir die richtigen Worte zurechtzulegen. Nur was waren die richtigen Worte? Irgendwie bezweifelte ich, dass es sie überhaupt gab.
»Und du?«, richtete er plötzlich das Wort an mich und riss mich somit aus meinen Gedanken. Mittlerweile hatten wir den Fußweg der Brücke erreicht und seine unerwartete Ansprache ließ mich ertappt zusammenzucken.
»Und ich?«, wiederholte ich seine Frage überfordert, während ich einem offensichtlich betrunkenen Touristen auswich und daraufhin unbeholfen zur Seite stolperte. Als ich anschließend zu Dylan blickte, betrachtete er mich mit einer Mischung aus Belustigung und Verwirrtheit.
»Du bist echt schräg, weißt du das?«, erklärte er schließlich kopfschüttelnd. Obwohl die Brückenbeleuchtung recht spärlich war, vernahm ich ein kurzes Grinsen in seinem Gesicht. Natürlich mochte ich es in der Regel nicht, wenn sich jemand auf meine Kosten amüsierte, allerdings störte es mich in seinem Fall überhaupt nicht. Die Tatsache, ihn zumindest kurz zum Lachen gebracht zu haben, ließ mich ebenfalls lächeln.
»Hm, ich schätze das trifft wohl zu«, gab ich also schulterzuckend zurück. Genaugenommen hatte ich genau diese Beschreibung meiner Person schon öfter von meiner Schwester gehört. Allerdings gab ich meistens nicht sonderlich viel auf ihre Sticheleien, so dass ich derartige Aussagen in der Regel nicht allzu ernst nahm.
»Also ... Was machst du so? Wenn du nicht gerade Häuserfassaden oder fremde Leute fotografierst?«
»Im Restaurant meiner Eltern aushelfen und darauf warten, dass meine beste Freundin aus dem Urlaub zurückkommt.« Ich entschloss mich spontan dazu, seine provozierende Bemerkung zu ignorieren und stattdessen neutral zu antworten. Die Tatsache, ihm tatsächlich nachgestellt zu haben, ließ ich natürlich unerwähnt.
»Das ist ... nicht gerade viel für die Sommerferien«, kommentierte er meine – zugegebenermaßen recht spärliche – Aufzählung. Inzwischen hatten wir exakt den Punkt erreicht, wo wir uns das erste Mal begegnet waren. Langsam trat er an das Geländer heran und lehnte sich ein Stück vor, um nach unten auf die Wasseroberfläche sehen zu können.
Währenddessen konnte ich nicht anders, als den Atem anzuhalten. Was, wenn er plötzlich auf die Idee kam, die verpasste Chance auf einen Sprung nun nachzuholen?
»Können wir vielleicht weitergehen?«, brachte ich schließlich im Flüsterton hervor und nur mühsam widerstand ich dem Impuls, ihn einfach am Arm zu packen und eigenhändig von der Brücke zu zerren.
»Wieso?« Er hatte den Blick noch immer starr auf das Wasser gerichtet, als er die Frage aussprach. Das Rauschen des Flusses drang währenddessen zu uns nach oben und obwohl dieses Geräusch sonst immer beruhigend auf mich gewirkt hatte, strahlte es in diesem Moment etwas Bedrohliches aus.
»Weil ich Brücken nicht so gerne mag«, log ich unbeholfen, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfallen wollte.
Gott, ich klang wie eine Fünfjährige.
Als wäre dies sein Stichwort gewesen, fokussierte er sich wieder auf mich. Seine Augen fixierten mich für einen Moment nachdenklich, erst dann trat er endlich einen Schritt zurück.
»Ich hab dir gesagt, dass ich keine gute Gesellschaft bin«, erklärte er gleichgültig, als wir uns wieder in Bewegung setzten. Aus irgendeinem Grund schien er tatsächlich davon überzeugt zu sein.
»Eigentlich ist es immer noch besser, als allein zu sein«, gab ich ehrlich zurück. »Seit meine Schwester ausgezogen ist, ist es ziemlich ruhig geworden.«
»Versteht ihr euch gut?«, hakte er daraufhin zu meiner Verwunderung nach. Noch vor kurzem hätte ich diese Frage wohl mit Nein beantwortet, aber seit sie weg war, fehlten mir unsere kleinen Streitigkeiten doch mehr als ich zugeben wollte.
»Sie ist absolut nervig, weiß immer alles besser und lässt keine Gelegenheit aus, sich über meine Schwächen lustig zu machen, aber jetzt, wo sie nicht mehr häufig zu Hause ist, fehlt sie mir schon ein bisschen.«
»Klingt wie eine typische Geschwisterbeziehung.«
»Irgendwie schon«, stimmte ich ihm nach kurzer Überlegung zu. »Hast du auch Geschwister?«
»Nein«, antwortete er kopfschüttelnd, während wir endlich von der Brücke auf die Promenade abbogen. Der beleuchtete Uferbereich mit den abendlichen Spaziergängern beruhigte mich irgendwie. Nicht, weil Dylan mir Angst machte. Eigentlich war eher das Gegenteil der Fall, denn auf eine seltsame Art mochte ich seine Gesellschaft. Viel mehr belastete mich die Tatsache, ihn noch immer nicht über alles aufgeklärt zu haben. Die gut besuchte Umgebung lenkte mich also ein wenig von meinem inneren Kampf ab.
»Ist das Restaurant deiner Eltern hier in der Nähe?«
»Eigentlich nur ein Stück die Promenade entlang«, erwiderte ich mit einem Fingerzeig in die entsprechende Richtung. »Allerdings würde ich ungern dort vorbeigehen, da meine Eltern denken, ich wäre zu Hause.«
»Hör zu, ich will nicht unhöflich sein, aber ich denke, ich würde den restlichen Abend lieber allein verbringen.«
Oh.
»Kein Problem«, versuchte ich die Situation mit einem Lächeln zu überspielen. Offenbar langweilte ich ihn so sehr, dass er mich schnellstmöglich abwimmeln wollte.
»Ich kann dich aber noch nach Hause bringen«, bot er daraufhin an. Allerdings kam das unter den gegebenen Umständen nicht in Frage.
»Nein, passt schon. Ich wohne ganz in der Nähe«, schlug ich sein Angebot aus.
»Okay ... Also dann ... Nochmal danke für die Hilfe mit meiner Tante. Vielleicht sieht man sich ja nochmal.«
Er hatte sich bereits abgedreht, als ich all meinen Mut zusammennahm: »Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen muss.«
Dylan stoppte daraufhin überrascht in seiner Bewegung und sah mich fragend an. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich endlich in der Lage war, meinen Mund zu öffnen.
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