Kapitel 6
„Ivy?", ein Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich aus meiner dumpfen Gefühlsstarre aufschrecken.
Vorsichtig streckt mein Vater seinen Kopf durch die Tür. Sein Blick ist warm und voller Mitleid.
„Was ist denn?" Meine Stimme ist brüchig und mein Hals kratzt. Die letzten Tage habe ich nicht viel gesprochen und wenn waren es hauptsächlich kurze Worte und Schluchzer.
Langsam kommt mein Vater auf mich zu und setzt sich zu mir auf die Bettkante. Ich sehe ihm an, dass er gerne mehr für mich tun würde, doch ich will das nicht. Auch wenn ich weiß, dass er es nur gut meint und sich alle Mühe gibt, muss ich selbst damit irgendwie fertig werden. Ich lehne seine Hilfe nicht ab weil ich sie nicht bräuchte, sondern weil ich Zeit für mich brauche. Ohne zu reden, ohne zu handeln, einfach nur Zeit in der ich fühlen konnte.
„Du weißt ich will dich nicht alleine lassen, aber das Museum hat eben angerufen. Es gibt einen Notfall." In seinen Augen kann ich die Schuldgefühle sehen, denn auch wenn ich ihm am meisten bedeute, seine Arbeit bedeutet ihm auch viel.
„Ist okay." Das ist es wirklich für mich. Seit dem Vorfall vor zwei Wochen war er mir nicht mehr von der Seite gewichen, obwohl er gleich mehrere neue Forschungsangebote erhalten hatte. Jede der quälenden Minuten dieser Zeit war er in meiner Nähe, auch wenn ich lieber allein sein wollte. Es bedeutet mir viel, dass er sich so bemüht, obwohl ich es ihm nicht gerade einfach mache.
Ein Gewicht scheint von seinen Schultern abzufallen und auch wenn er es zu verstecken versucht, sehe ich, dass ihn der Gedanke ans Museum mit Freude erfüllt. Doch keine Sekunde später durchzieht Sorge erneut seinen Blick.
„Bist du dir sicher? Ich kann auch hier bleiben."
„Nein, geh nur. Ich komm klar."
Sein Blick scannt mich prüfend von oben bis unten und im Geiste scheint er abzuwägen in wie weit ich die Wahrheit sage. „Du kannst ruhig gehen", versichere ich ihm mit Nachdruck erneut.
Überzeugt nickt er. „Also gut. Aber wenn irgendwas sein sollte rufst du mich sofort an und ich komme nach Hause! Dabei ist es egal ob du dich schlechter fühlst oder einfach jemanden brauchst der in deiner Nähe ist, okay?"
Zustimmend nicke ich und er erhebt sich wieder, jedoch ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Ein wenig unschlüssig steht er noch vor mir, läuft dann aber doch zur Tür. Kurz hält er inne.
„Versprich mir, dass du mich wirklich anrufst, wenn du mich brauchst." Ich kann förmlich spüren wie sehr er dieses Versprechen braucht um gehen zu können. Dafür spricht eine viel zu tiefgreifende Sorge aus ihm und blitzt mir in seinen Augen entgegen.
Seufzend nicke ich. „Ich verspreche es dir. Und jetzt geh schon, bevor du noch zu spät zu dem Notfall kommst." Auch wenn ich mir bei besten Willen nicht vorstellen konnte, was für eine Art von Notfall ein Museum haben konnte.
Ein kleines, beruhigtes Lächeln zupft an den Mundwinkeln meines Vaters ehe er mein Zimmer verlässt. Minuten später höre ich das Klimpern seiner Schlüssel, die er sich von dem kleinen Tischchen im Flur nimmt.
„Ich gehe dann. Denk an dein Versprechen!", ruft er mir noch zu während sich die Haustür schließt.
Die Stille, die mich nun empfängt, ist überwältigend. Wie eine schwere Decke legt sie sich über mich. Doch im Gegensatz zu den letzten Tagen wirkt sie jetzt nicht mehr schützend und beruhigend sondern mehr wie eine schwere Last, die einen nach unten zieht.
In meiner Brust spüre ich das ruhige Schlagen meines Herzens, doch ich weiß nicht mehr wofür es schlägt. Die ganzen Gefühle unter denen ich gelitten hatte, haben nun ein Loch hinterlassen, dass dumpf in meiner Brust sitzt. Ich spüre nichts mehr, außer dieser Leere und das ist immer noch besser als der Schmerz der dieses Loch ausgehöhlt hat.
Unruhig strecke ich die Beine über die Bettkante und stehe auf. Ich kann nicht mehr hier rumliegen, sonst würde ich noch wahnsinnig werden. Doch mein Gehirn liefert mir auch keine sinnvolle Beschäftigung, der ich nachgehen kann, also verlasse ich zum ersten Mal seit damals wieder mein Zimmer. Ich laufe die Treppe herunter und komme nicht umhin darüber zu staunen, wie aufgeräumt alles ist. Mein Vater muss die Zeit wohl dafür genutzt haben das Haus komplett aufzuräumen. Das erklärt nun auch die seltsamen Geräusche, die ich manchmal durch meine Zimmertür gehört hatte und die ich nicht hatte zuordnen können. Da mein Vater oft nicht da war, kümmerte ich mich normalerweise darum, doch Ordnung gehörte definitiv nicht zu meinen Stärken.
Leise geistere ich weiter durchs Haus ohne zu wissen, was ich machen soll. Mein Handy habe ich in meinem Zimmer gelassen, denn auch wenn ich selbst glaube vorerst über den Berg zu sein, will ich mich nicht der Gefahr aussetzen wieder in mein Gefühlsloch abzustürzen und mir unsere Nachrichten durchzulesen. Den Fehler habe ich bis jetzt einmal gemacht und darunter zwei Tage lang gelitten.
In der Küche gleitet mein Blick über die vielen Bilder, die mit kleinen, bunten Magneten an der Kühlschranktür angeheftet sind. Einige sind auf den Forschungsreisen meines Vaters oder in unseren gemeinsamen Urlauben entstanden. Doch meine liebsten Bilder sind die, die hier am Strand aufgenommen wurden. So wie das Bild auf dem ich zum ersten Mal auf einem Surfboard stand und inmitten des blauen Meers frech in die Kamera grinse.
Behutsam streiche ich mit den Fingerspitzen über das Bild. Damals war alles noch so einfach. Nur ich, mein Board und die Wellen. Es gab keine Sorgen sondern einfach nur den Moment.
In mir kommt der Wunsch auf wieder den Sand unter den Füßen zu spüren und die Wellen auf meiner Haut. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, folge ich diesem Wunsch, schnappe mir meine Tasche und mache mich auf den Weg.
Es ist wie ein Urinstinkt, der mich immer weiter dazu antreibt in Richtung Strand zu gehen. In diesem Moment ist mir egal, dass ich die falschen Klamotten zum surfen anhabe oder das der Wind viel zu kalt und stürmisch ist und mir damit eigentlich schon zeigt, dass es nicht der beste Tag für mein Vorhaben ist. Etwas in mir treibt mich immer weiter, bis ich endlich durch die kniehohen Gräser, die um den Strand wachsen, hindurchbreche und wieder das Meer rieche.
Für einen kurzen Moment bleibe ich stehen und blicke einfach nur auf die Weite des Wassers. Es ist unruhig und nicht so blau wie an Sonnentagen. Im Moment hat es beinah die selbe graue Farbe wie der Himmel an dem schwere Wolken hängen. Das Rauschen der Wellen ist heute lauter als sonst und die Gischt spritzt wilder als üblich.
Immerhin hat das Meer heute nicht die Farbe seiner Augen.
Um meine Gedanken nicht weiter in eine Richtung abdriften zu lassen, die mich ganz sicher vom surfen abhalten würde, gehe ich schnell auf eine Hütte zu, die unter mehreren Palmen versteckt steht. Wie alle anderen, die gerne surfen, habe ich mein Board dort drin gelagert und greife eilig nach dem Vorhängeschloss um es zu öffnen. Drinnen ist es, trotz der kleinen Lampe an der Decke, düster. Lange muss ich aber nicht suchen um es zu finden, denn ich achte immer darauf, dass es weiter hinten liegt, da die meisten Surfer ihr Board einfach im Eingangsbereich platzieren und zu faul sind um nach hinten durchzugehen.
Wie von alleine greifen meine Hände nach dem dunkelroten Board mit den zwei weißen Streifen links und rechts und ziehen es heraus. Darauf bedacht nichts umzuschmeißen und dadurch einen Dominoeffekt auszulösen, klemme ich es mir unter den Arm und verlasse die Hütte. Die Tür schließe ich sicherheitshalber wieder ab.
Meine Schuhe und Socken streife ich im gehen einfach ab und lasse sie achtlos am Strand verteilt liegen. Ich würde sie später schon wiederfinden.
Dort wo Strand und Meer sich treffen, spüre ich die ersten feinen Spritzer auf meinen nur von Shorts bedeckten Beinen. Wie kleine, eisige Nadelstiche treffen sie auf meine Haut und ich liebe es. Ohne zu zögern gehe ich weiter und ein Schauer jagt mir über den Körper während mich das kalte Wasser empfängt. Ein kurzer Schrei löst sich aus meiner Kehle und ich lege mich auf mein Board.
Mit den Armen schwimme ich immer weiter raus und tauche damit immer wieder in die Kälte. Immer weiter entferne ich mich vom Strand und bin eigentlich schon viel zu weit weg, aber ich will nicht umkehren. Die Wellen nehmen mich ein, machen mich zu ihrem Spielball doch es ist mir egal. In einer fließenden Bewegung stehe ich auf und reite ohne Vorsicht auf der nächsten machtvollen Welle.
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