
Kapitel 21
Cassiel
Nichts fällt mir schwerer, als der Abschied von Ivy, als ich sie bei sich zu Hause am nächsten Morgen absetze. Die Nacht hat sie, auch wenn es nicht geplant war, bei mir verbracht und es war eine gute Entscheidung. Somit hatten wir eine Chance über uns zu reden. Aber diesmal waren unsere Worte voller Hoffnung und es gab keinen schöneren Klang als Ivys Stimme, eingefärbt von Hoffnung.
„Bitte sei vorsichtig", haucht sie, ihre Augen von Sorge verschleiert.
„Mir passiert schon nichts. Du weißt doch wie großartig ich bin und den Großartigen passiert nie etwas. Dafür werden sie viel zu sehr vom Schicksal geliebt." Da wir uns wieder näher sind als zuvor, traue ich mich auch wieder solche Sprüche.
Wie erhofft, sieht sie mich spottend an, schürzt die Lippen. Jetzt erinnert sie mich an eine kleine, niedliche, aufgebrachte Ente, doch das darf ich ihr nicht sagen. Sonst wird aus der kleinen Ente eine große.
„Die Großartigen erkennen durch ihren eigenen Schatten meist nicht, dass sie bereits am Rand des Abgrunds stehen. Sorg dafür, dass deine Großartigkeit nicht hinabstürzt." Herausfordernd blinzelt sie mich an, dann steigt sie aus dem Auto und läuft zur Tür.
Ich sehe ihr nach, mein Herz leicht und doch schwer, in Anbetracht der Aufgabe, die vor mir liegt. In das Haus meines Vaters zu gelangen, wird nicht einfach. Ich habe zwar einen Schlüssel, doch es wird nur so von seinen Männern wimmeln, die sein Eigentum bewachen. Jeder von ihnen stellt ein Hindernis, eine Gefahr da, denn wenn auch nur einer von ihnen meinem Vater Bescheid gibt, sind wir aufgeschmissen. Und auch wenn ich recht gut kämpfen kann, sind es einfach zu viele, als dass ich eine Chance hätte. Selbst mit einer Waffe käme ich nicht besser voran.
Mein Blick fliegt zur Uhr an meinem Handgelenk. Das treffen zwischen Léon und meinem Vater müsste jeden Moment beginnen. Angespannt verfolge ich die Bewegungen des Sekundenzeigers, der ununterbrochen seine Runden dreht.
Ein lautes, prägnantes Klingeln meines Handys, lässt mich aufschauen. Noch bevor ich darauf sehe, weiß ich, dass es Léon sein muss. Wir hatten ausgemacht, dass er mir ein Zeichen gibt, wenn mein Vater eintrifft.
Tatsächlich findet sich in unserem Chatverlauf ein Daumen nach oben von ihm. Augenblicklich zieht Aufregung heiß durch meine Adern. Um keine Zeit zu verschwenden, starte ich das Auto und fahre los, während mein Herz kräftig in meiner Brust schlägt.
Da mein Vater ein gutes Stück außerhalb der Stadt wohnt, dauert die Fahrt länger, als mir lieb ist. Angeblich hasst er den Lärm der Menschenmassen, aber ich glaube, dass er hier einfach ungestörter seinen Geschäften nachgehen kann, ohne dass neugierige Nachbarn ihn dabei stören.
Das Auto stelle ich in einiger Entfernung ab und laufe den Rest zu Fuß, denn ich kann es nicht gebrauchen, dass die Männer den Motor hören. Durch ein kleines Loch in der Hecke, die das Grundstück umgibt, spähe ich vorsichtig hinein.
Das Haus ähnelt durch die vielen Balkone, großen Fenster und reichlichen Verzierungen mehr einer Villa. Für mich ist das Alles zu protzig, zeigt zu viel Stolz. Einzig die dunkle Fassade entspricht in etwa meinem Geschmack. Selbst die großen Blumenbeete, die aussehen wie aus Versailles, verdeutlichen das Bedürfnis meines Vaters nach einer hohen Machtstellung.
Achtsam suche ich die Balkone und Fenster nach Menschen ab, aber zu meiner Überraschung kann ich niemanden entdecken. Sollten hier nicht überall Wachposten stehen um jeden Fremden fernzuhalten? Hätte mir vorher einer gesagt, dass keiner da ist, hätte ich auch gleich durch die Vordertür reinspazieren können.
Leise schleiche ich weiter, hin zu dem kleinen Gartentor, dass von der Hecke beinah gänzlich verschluckt wird. Als Kind habe ich mich immer hierdurch nach draußen geschlichen, wenn ich meinem Vater wieder lästig wurde. Was eigentlich die meiste Zeit der Fall war.
Mit einiger Kraftanstrengung schaffe ich es, das Tor durch das Grünzeug hindurch aufzustoßen. Ein Quietschen zerschneidet die Luft und ich halte angespannt die Luft an, lausche auf Geräusche von drinnen. Doch wieder regt sich nichts.
Eilig betrete ich den hinteren Garten, während kleine Regentropfen beginnen vom Himmel zu fallen. Das könnte für mich noch ein Problem werden, denn wenn sich die Wolken am Himmel zu einem Sturm verwandeln würden, würde ich nicht mehr hören, ob ein Auto vorfährt oder nicht.
An der Hintertür ziehe ich den Schlüssel hervor, denn ich bei meinem Auszug vor etlichen Jahren mitgehen lassen habe. Keine Ahnung ob mein Vater davon weiß, aber da er nie danach gefragt hat, gehe ich davon aus, dass er es nicht mitbekommen hat.
Geräuschlos betrete ich das Haus. Das erste, dass mir neben der Abwesenheit von Wachpersonal auffällt, ist der penetrante Geruch nach Sandelholz, der mich wieder an meine Zeit in diesem Haus erinnert. Schon als ich klein war, hat mein Vater diesen Geruch geliebt und dafür gesorgt, dass er überall im Haus verteilt war. Weder meine Mutter noch ich mochten es, aber unsere Meinung zählte nie.
Zu meinem Glück ist der Boden dunkel, sodass eventuelle Erdkrümel von meinen Schuhsohlen nicht auffallen.
Auch wenn ich nicht damit rechne, fliegt mein Blick in die Ecken des Raumes, auf der Suche nach Kameras. Erneut habe ich Glück, denn die Ecken sind leer. Vater ist kein Freund von Technik, denn die kann gehackt werden und somit hat er keine Kontrolle mehr. Männer aber sind etwas anderes. Bei Männern kann er ihnen in die Augen schauen, sie durchschauen, sie kontrollieren und sie von sich abhängig machen, wenn es sein muss.
Geschwind spähe ich um jede Ecke, eile die Treppe nach oben, bleibe hinter einer Wand stehen und lausche wieder. Adrenalin rast dabei durch meinen Körper und lässt meine Gedanken still werden. Um wachsam zu bleiben, darf ich nicht denken.
Konzentriert schaue ich auf eine Reihe verschlossener Türen. Wozu ein einziger Mann so viele Zimmer braucht ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich um ungebetene Gäste, wie mich, zu verwirren. Aber wenn mein Vater nichts umgeräumt hat und ich mich richtig erinnere, müsste am Ende des Ganges sein Büro liegen.
Kurz darauf knie ich mich auch schon vor die abgeschlossene Tür und ziehe ein Paar Harnadeln aus meiner Hosentasche. Mit einigen geübten Handgriffen bearbeite ich das Schloss. Das ist auch eine Sache, die mein Vater mir beibrachte. Ich habe zwar weder damals noch heute verstanden wieso man das einem Zehnjährigen beibringt, aber immerhin ist es mir jetzt nützlich.
Ein leises Klicken ertönt und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit in Richtung der dahinter liegenden Dunkelheit.
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