20. Kapitel
Hyunjin POV:
Das große Versammlungszelt war aus fest verwobenen Fellen und stabilen Stöcken gebaut, die den Wind abhielten. Der Boden war mit weichen Moospolstern ausgelegt, und ein Feuer in der Mitte verbreitete angenehme Wärme. Ich musterte die Szenerie mit verschränkten Armen und spürte Felix' Anwesenheit direkt neben mir. Wir waren vor wenigen Minuten hereingebeten worden, und jetzt starrten uns mehrere Wölfe neugierig und zugleich wachsam an.
Auf einer erhöhten Plattform saßen zwei Gestalten. Der Alpha, namens Minho wie ich mittlerweile erfahren hatte, war groß und muskulös, sein braunes Haar fiel ihm ungezähmt ins Gesicht. Neben ihm saß Jisung, der kleinere Auskundschafter, dessen Blick vor Neugier und unterschwelligem Amüsement funkelte. Die beiden wirkten vertraut, zu vertraut für ein bloßes Arbeitsverhältnis.
Minho sprach zuerst, seine Stimme war tief und bestimmt. „Also, ihr seid die Flüchtlinge, die ohne Einladung unser Territorium betreten haben."
Ich biss mir unsanft auf die Wange und trat einen Schritt nach vorn. „Flüchtlinge? Wir haben uns lediglich verteidigt, als die Stadtwache uns in die Enge getrieben hat."
Minhos Augenbraue hob sich skeptisch. „Und dabei zufällig den Weg in mein Territorium gefunden?"
„Ich wusste nicht, dass Wälder plötzlich privates Eigentum sind", knurrte ich.
Felix stieß mir unauffällig den Ellbogen in die Seite. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, aber er ignorierte es. Die Spannung im Raum stieg spürbar, und einige der Wölfe rückten ein wenig näher, als wollten sie sich auf einen Kampf vorbereiten.
„Hyunjin", flüsterte Felix eindringlich. „Hilf mir doch mal ein bisschen."
Bevor Minho etwas erwidern konnte, lehnte sich Jisung vor, seine Lippen zu einem nachsichtigen Lächeln verzogen. „Beruhig dich, Minho. Die beiden sehen nicht aus wie eine Bedrohung." Sein Blick wanderte zu mir und blieb an meinem angespannten Gesicht haften. „Naja, zumindest einer von ihnen nicht."
Hyunjin schnaubte verächtlich. Felix verzog kurz das Gesicht, doch er wusste, dass Jisung's Bemerkung die Lage tatsächlich entschärft hatte. Minho entspannte sich leicht, auch wenn sein Blick weiterhin streng blieb.
„Ich verstehe, dass ihr auf der Flucht seid", sagte Minho schließlich. „Aber das gibt euch noch lange nicht das Recht, hier einfach einzudringen. Unser Rudel duldet keine Fremden, die sich wie egoistische Alphas aufführen."
Felix setzte an, bevor ich erneut eine bissige Bemerkung machen konnte. „Wir hatten keine Wahl", erklärte er ruhig. „Die Stadtwache hat uns gejagt, und wir waren verwundet. Wenn euer Rudel uns nicht geholfen hätte, wären wir jetzt tot. Wir sind dankbar für eure Unterstützung."
Minhos Gesicht blieb undurchdringlich. „Dankbarkeit ist nett, aber nicht genug."
„Oh, komm schon", warf Jisung ein und lehnte sich lässig zurück. „Die beiden sind verletzte Überlebende, kein Alphapaar, das versucht, hier die Macht zu übernehmen. Sie können doch für eine Weile bleiben und sich erholen."
Minho schien kurz zu überlegen. „Und was ist, wenn sie Ärger bringen? Der Alpha-Rat wird nicht glücklich darüber sein, wenn sie erfahren, dass wir zwei ihrer Gejagten schützen."
„Ach, Minho," sagte Jisung mit einem neckenden Ton, „seit wann interessiert es dich, was der Alpha-Rat denkt?"
Minho warf ihm einen warnenden Blick zu, doch Jisung grinste nur unbeeindruckt. „Außerdem könnten sie ja nützlich sein", fuhr Jisung fort. „Wir haben immer Bedarf an helfenden Pfoten."
Minho ließ ein kurzes Knurren hören, bevor er sich an Felix und Hyunjin wandte. „Einverstanden. Ihr könnt vorerst bleiben - aber nur, wenn ihr im Rudel mithelft. Jagd, Grenzkontrollen, einfache Arbeiten. Wir haben genug Aufgaben."
Ich wollte protestieren, aber Felix war schneller. „Das klingt fair. Wir werden helfen."
Minho musterte ihn prüfend, bevor er nickte. „Gut. Aber keine Alleingänge. Wenn ihr Ärger macht, fliegt ihr raus."
„Verstanden", sagte Felix ruhig.
Jisung klatschte in die Hände. „Seht ihr, das war doch gar nicht so schwer, oder Minho?"
Minho warf ihm einen genervten Blick zu, aber Jisungs Grinsen schien ihn zu entwaffnen. Die beiden tauschten einen kurzen Blick voller Zuneigung.
Als wir das Zelt verließen, herrschte eine ungewohnte Stille zwischen uns. Die Nachtluft war kühl, und der Mond warf silbriges Licht auf die Bäume. Jisung führte uns zu einer kleinen Lichtung, auf der bereits ein einfaches Lager mit Fellen und einem kleinen Feuer vorbereitet war.
„Das sollte fürs Erste reichen", sagte er. „Und keine Sorge - wir stellen Wachen auf. Ihr könnt also beruhigt schlafen."
Felix nickte. „Danke, Jisung."
Jisung zwinkerte ihm zu. „Kein Problem. Und viel Spaß mit Mister Grummel hier."
Ich verschränkte die Arme. „Ich mag ihn nicht."
Felix schnaubte. „Weil er recht hat?"
Ich funkelte ihn an, sagte aber nichts.
Wir setzten uns ans Feuer, und für einen Moment herrschte Ruhe. Felix starrte in die Flammen, während ich gedankenverloren die Sterne betrachtete.
Nach einer Weile sprach Felix leise. „Ich weiß, dass du kein Fan von Rudeln bist. Aber ich denke, das hier könnte unsere beste Chance sein."
Ich seufzte. „Ich mag es nicht, auf jemanden hören zu müssen."
„Verständlich. Aber Minho scheint nicht so schlimm zu sein. Und Jisung... naja, der ist einfach Jisung."
Ich lachte leise. „Das stimmt wohl."
Felix legte eine Hand auf meinen Arm. „Wir schaffen das. Du musst dich nicht sofort an alles anpassen. Aber vielleicht könnten wir das hier als Chance sehen - für eine Weile durchzuatmen."
Ich sah ihn an. Etwas Weiches breitete sich in meiner Brust aus, als ich seinen Ausdruck bemerkte - ruhig, aber fest entschlossen. Schließlich nickte ich. „Na gut. Aber nur, weil du so nervig überzeugend bist."
Felix grinste. „Das nehme ich als Kompliment."
Später lagen wir dicht nebeneinander auf den Fellen, und obwohl ich mich anfangs aufgrund der ungewohnten Nähe steif verhielt, entspannte ich mich allmählich. Die Wärme des Feuers und Felix' Nähe machten die kühle Nacht erträglicher.
Felix zog die Felle etwas höher über unsere Körper, als der Wind durch die Bäume strich. Das Feuer knisterte leise, aber die Flammen begannen bereits zu flackern und kleiner zu werden. Ich spürte die Wärme seines Körpers neben mir und merkte, wie sich die Müdigkeit langsam in meinen Gliedern ausbreitete. Trotz allem war mein Kopf viel zu aufgewühlt, um wirklich Ruhe zu finden.
Felix seufzte leise. „Du bist immer noch angespannt."
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und begegnete seinem ruhigen Blick. „Ich habe einen Haufen Fremder um mich herum, die jederzeit auf uns losgehen könnten. Sorry, dass ich nicht gerade entspannt bin."
„Jisung und Minho wirken aber nicht so, als würden sie uns sofort ans Messer liefern."
Ich runzelte die Stirn. „Minho hat mir trotzdem klar gemacht, dass er hier das Sagen hat. Ich bin nicht gut darin, mich Befehlen zu beugen."
Felix hob eine Augenbraue. „Ach, wirklich? Hätte ich gar nicht bemerkt."
Ich schnaubte leise, aber ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. „Sehr witzig."
Er legte seinen Kopf auf das Fell und sah mich an, seine Augen glitzerten im schwachen Licht. „Weißt du, ich verstehe dich. Mir geht es doch genauso. Die Vorstellung, in einem Rudel zu leben, wo jemand anderes bestimmt, was wir tun und lassen sollen... das ist verdammt ungewohnt."
„Aber du willst trotzdem bleiben?"
Felix zögerte einen Moment. „Ich will nicht für immer hierbleiben. Aber wir brauchen eine Pause, Hyunjin. Wenn wir jetzt direkt weiter machen, gehen wir hundert Prozentig drauf."
Er hatte recht, auch wenn ich es hasste, das einzugestehen. Meine Muskeln waren müde, mein Geist ausgelaugt von den letzten Kämpfen und der ständigen Flucht.
„Ich hasse es, dass du recht hast", murmelte ich schließlich.
Felix grinste schief. „Das passiert häufiger, als du denkst."
Ich stieß ihn spielerisch mit der Schulter an, und für einen Moment fühlte es sich leichter an, als hätte er die Schwere aus meinen Gedanken genommen.
„Na schön," sagte ich schließlich. „Wir bleiben. Aber wenn Minho mir irgendwann blöd kommt, dann gehe ich."
Felix nickte zufrieden. „Abgemacht."
Das Feuer knisterte weiter, und die Nacht legte sich ruhig über das Lager. Eine Weile schwiegen wir beide, bis Felix leise fragte: „Hyunjin?"
„Hm?"
„Danke, dass du mich verteidigst."
Ich drehte meinen Kopf zu ihm und sah, dass seine Augen ernst und sanft zugleich waren. „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Das mache ich nicht aus Pflichtgefühl."
„Warum dann?"
Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Die Worte waren schwer zu fassen, aber ich wusste, dass sie irgendwo tief in mir schlummerten. Schließlich entschied ich mich für die Wahrheit. „Weil du mich verändert hast, Felix. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber du bist der einzige, dem ich vertraue."
Felix wirkte für einen Moment überrascht, bevor ein warmes Lächeln über sein Gesicht huschte. „Ich vertraue dir auch, Hyunjin."
Es fühlte sich seltsam an, diese Ehrlichkeit zwischen uns, ohne Sticheleien oder abwehrende Sprüche. Aber zugleich war es beruhigend, als hätte sich etwas in mir gelöst.
Felix schloss langsam die Augen und murmelte: „Vielleicht wird das hier ja gar nicht so schlimm."
Ich beobachtete, wie sein Atem sich verlangsamte und er in den Schlaf glitt. Die Ruhe kehrte zurück, aber ich blieb noch wach, meine Gedanken kreisten um alles, was passiert war und was noch auf uns zukommen würde.
„Vielleicht," flüsterte ich schließlich in die Dunkelheit, „wird es wirklich nicht so schlimm."
Ich legte einen Arm schützend über seine Taille und zog ihn etwas näher. Dann ließ auch ich mich von der Müdigkeit übermannen, die Wärme des Feuers und Felix' Duft waren die einzigen Dinge, die mich in dieser ungewissen Nacht wirklich ruhig atmen ließen.
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