1. Kapitel
Felix POV:
Der Wind trug den Duft von feuchtem Moos und altem Holz mit sich. Zwischen den Bäumen raschelten Blätter, als sich ein Reh durch das Unterholz schlich. Ich saß auf einem breiten Ast, die Beine baumelten über dem Boden, während ich die untergehende Sonne durch die Baumkronen beobachtete. Die letzten Strahlen färbten den Himmel blutrot.
Die Wildnis war still, bis auf das Flüstern der Natur um mich herum. Keine Menschen, keine Befehle, keine Regeln. Hier draußen war ich frei. Und das war alles, was zählte.
Nicht dass Freiheit selbstverständlich war. Nicht für jemanden wie mich. Ein Omega, geboren in einer Gesellschaft, die mich seit meiner ersten Hitze auf einen einzigen Zweck reduziert hatte: nützlich sein. Verfügbar sein. Für Alphas, die glaubten, die Welt drehe sich nur um ihre Befehle und ihre Macht.
Ich schnaubte leise und schüttelte den Kopf. Diese Gedanken brachten mir nichts. Nicht hier draußen. Ich hatte die Städte hinter mir gelassen, ihre steinernen Mauern und den stinkenden Geruch nach Unterwerfung. Kein Rat, keine Gesetze konnten mich in den Tiefen dieses Waldes erreichen.
Mein Blick glitt über die Baumwipfel zum entfernten Gebirge. Hinter diesen Gipfeln lag die Stadt, eingekreist von Mauern und bewacht von Patrouillen, die die Bevölkerung in Schach hielten. Alphas herrschten mit eiserner Faust, unterstützt von gehorsamen Betas. Omegas? Wir waren die Stufen, über die sie in ihre Machtpositionen aufstiegen.
Ich ballte die Fäuste. Freiheit war mehr als ein Ort. Es war ein Zustand des Seins. Und ich würde mir niemals wieder nehmen lassen, was ich mir so hart erkämpft hatte.
Meine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem ich das erste Mal beschlossen hatte zu fliehen. Damals war ich noch ein Junge gewesen, kaum alt genug, um meine Wolfsform zu kontrollieren. Die Stadt war ein Gefängnis aus Stein, regiert von einem Rat aus Alphas, die über alles und jeden bestimmten. Betas lebten in relativer Sicherheit, unsichtbar und angepasst. Doch für Omegas war das Leben ein Käfig.
Wir waren keine Menschen in ihren Augen. Wir waren Besitz. Ressourcen, die geschützt, kontrolliert und verwaltet werden mussten. Meine Mutter hatte ihr Leben damit verbracht, mir einzubläuen, dass Gehorsamkeit Überleben bedeutete. „Beuge dich, und du wirst in Ruhe gelassen", hatte sie gesagt.
Ich hatte es versucht. Hatte mich klein gemacht, meinen Blick gesenkt und gehofft, dass sie mich vergessen würden.
Aber das war eine Lüge. Alphas vergaßen Omegas nie.
Ich ballte die Fäuste, als die Erinnerung an meine erste Hitze durch mich flammte. Die panischen Blicke meiner Familie, das Dröhnen von Stiefeln auf dem Kopfsteinpflaster, als die Wächter kamen. Sie hatten mich mitgenommen, ohne eine Erklärung. Meine Mutter hatte geschrien, aber niemand hörte auf das Flehen einer Omega-Frau.
Ich schüttelte den Kopf und zwang mich zurück in die Gegenwart.
Das Leben in den Lagern war eine Lektion in Überleben gewesen. Man lernte schnell, wem man vertrauen konnte und wem nicht. Die Wachen waren die geringste Gefahr. Es waren die Alphas, die für den Rat arbeiteten, die mich jede Sekunde auf der Hut hielten. Manche waren brutal, andere einfach gleichgültig. Aber alle hatten eines gemeinsam: Sie sahen mich nicht als gleichwertig.
Doch ich hatte einen Vorteil gehabt. Meine Kontrolle über meinen Wolf war stärker gewesen, als sie erwartet hatten. Sie dachten, Omegas seien schwach, unfähig, ihre Verwandlungen zu meistern. Ich hatte das Gegenteil bewiesen.
Eines Nachts, während einer Hitzeperiode, hatte ich die Mauern überwunden. Mein Wolf hatte mich durch die Dunkelheit getragen, und ich hatte geschworen, nie wieder in Ketten zu leben.
Seitdem war ich hier draußen, in der Wildnis. Frei.
Aber Freiheit hatte ihren Preis.
Ich war ständig auf der Flucht. Der Rat ließ keine rebellischen Omegas am Leben, besonders keinen wie mich. Ich wusste, dass sie mich suchten. Vielleicht nicht heute, aber bald würde ein Jäger kommen. Und ich musste bereit sein.
Ein leises Rascheln ließ mich den Kopf heben. Meine Sinne schärften sich automatisch. Der Wind wechselte die Richtung und trug den Geruch von Reh und Laub zu mir. Keine Gefahr. Ich atmete langsam aus und lehnte mich zurück.
Die Natur war gnadenlos, ja. Aber sie war ehrlich. Hier gab es keine Masken, keine Hierarchien. Nur Überleben. Und das hatte ich besser gelernt als jeder Alpha hinter den Stadtmauern.
Trotzdem nagte manchmal ein Gedanke an mir, leise und beharrlich: Wie lange würde ich das durchhalten?
Allein zu leben war nicht dasselbe wie frei zu sein. Der Hunger nach Gesellschaft war eine Bürde, die ich verdrängte, aber niemals wirklich loswurde. Ab und zu begegnete ich anderen Gestalten im Wald - Betas auf der Flucht oder verwilderte Wölfe, die den Verstand verloren hatten. Doch ich hielt mich fern. Vertrauen war ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte.
Ein kalter Windstoß fuhr durch die Bäume, und ich zog den Mantel enger um mich. Es würde bald Winter werden. Ich musste meine Vorräte auffüllen und meinen Unterschlupf sichern.
Das Leben eines freien Wolfes war niemals einfach. Aber es war besser als unterdrückt zu werden und sich aufgrund der Klischees zu verstellen.
Ich ließ mich von meiner Sitzgelegenheit langsam runter gleiten und setzte meinen Weg durch den Wald fort. Die Dämmerung zog herauf, und der Geruch von Kiefernharz erfühlte die Luft. Mein Wolf schlummerte in mir, wachsam, aber ruhig.
Noch war alles friedlich. Doch ich wusste, dass das nicht lange so bleiben würde.
Der Blutmond wird bald aufgehen. Und mit ihm würde die Welt sich verändern.
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