Kapitel 2
Daichi Sawamura Pov
Mit offenem Mund starrte ich den grauhaarigen jungen Mann an, der da keuchend auf dem Boden lag, nachdem ich einen Schuss nach ihm abgefeuert hatte.
Seine Lippe war ein wenig aufgeschürft und auch an seiner Stirn prangte ein Kratzer.
Zum Glück schien es dennoch so, als hätte ich ihn nicht getroffen.
Ich hatte Suga sofort erkannt, er sah immer noch genauso aus wie damals.
Sein Anblick hatte mich aus dem Konzept gebracht und sofort meldete sich auch ein Stich in meinem Herzen.
Ich hatte Koushi bestimmt acht Jahre lang nicht gesehen.
Nicht, seit er weggezogen war, um zu studieren. Kaum eine Woche nach unserem letzten Schultag...
"Wa-was machst du hier?", stotterte ich, während er sich ächzend aufsetzte.
"Ich wollte eigentlich nur die Abendsonne bei einem Spaziergang genießen. Und dann hab ich plötzlich Schüsse von der alten Fabrik gehört", erklärte er und blinzelte mich an.
"Du bist Polizist?", fragte er erstaunt und für einige Sekunden spiegelte sich Angst in seinen Augen. Vermutlich war das alles im Moment zu viel für ihn.
"Ja, ich... Ach du Kacke, Suga! Du bist verletzt!"
Entsetzt nahm ich das Blut wahr, das sein weißes Hemd an der Seite langsam dunkelrot färbte.
Ich hatte ihn also doch angschossen...
Er sah an sich herunter, als würde er die Wunde jetzt erst bemerken.
"Was? Achso, das. Keine Sorge, das ist nur ein leichter Streifschuss. In einer Woche ist das wieder verheilt", versuchte er mich zu beruhigen, doch ich hörte ihm gar nicht mehr zu.
"Emi!", rief ich einer Kollegin zu, "Wir haben einen Zivilisten verwundet!"
Die Blonde kam sofort zu uns geeilt. "Wie bitte?! Wie konnte das passieren? Ich rufe sofort einen Krankenwagen!"
"Nein!", rief Suga hastig und wir sahen ihn überrascht an.
Der Grauhaarige lief rot an. "Ich hab keine guten Erfahrungen mit Krankenhäusern. Und es war auch meine Schuld, dass ich verwechselt wurde. Entschuldige bitte, dass ich vor den Polizisten weggerannt bin, nur ich habe so Panik bekommen, als alle auf mich zugerannt kamen. Da hat sich mein Gehirn einfach ausgeschaltet."
Betreten sah er zu Boden. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich das vermutlich süß gefunden, doch gerade überwiegte die Sorge.
Ich hatte ihn angeschossen.
"Suga, du musst aber in ein Krankenhaus!", beharrte ich, doch er schüttelte vehement den Kopf.
Zu gern hätte ich jetzt seine Gedanken lesen gekonnt, um ihn zu verstehen.
Emi seufzte.
"Daichi, ihr scheint euch doch zu kennen. Wenn er wirklich nicht ins Krankenhaus möchte, dann nimm ihn doch mit zu dir und kümmer dich ein wenig um ihn", schlug sie vor.
Suga und ich wurden blass.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich hier eigentlich einen wildfremden Mann vor mir hatte...
Einen Mann, den ich in meiner Jugend geliebt hatte und der mir damals das Herz gebrochen hatte.
Einen Mann, mit dem ich fast ein Jahrzehnt nicht mehr gesprochen hatte. Ein Anruf hätte genügt, ein Brief, eine SMS, ein Besuch.
Doch keiner von uns hatte sich gemeldet. Ich nicht, weil ich den Verlust überwinden und die Scherben meines zerbrochenen Herzens aufkehren musste und Sugawara nicht, weil- ja, warum eigentlich nicht?
Eine Hand wedelte vor meinem Gesicht herum. "Sawamura, bist du noch anwesend?", fragte Emi und ich räusperte mich.
"Ja ähm... das wäre eine Alternative. Außerdem kam die Kugel auch aus meiner Waffe, ich habe also etwas gutzumachen. Ich weiß nicht, Suga... Was meinst du?", stotterte ich und wich seinem Blick aus.
Auch er schien sich unwohl zu fühlen, gab aber unter Emis strengem Blick nach.
"Solange ich nicht in ein Krankenhaus muss", murmelte er und meine Kollegin nickte zufrieden.
"Na geht doch", lächelte sie, während ich Koushi beim Aufstehen halt.
Mein Angebot, ihn zu stützen, lehnte er ab.
Langsam gingen wir zurück zu dem alten Fabrikgelände.
Mike kam auf mich zu.
Er war vor drei Jahren aus den USA hierher nach Japan gezogen und wir hatten uns von Anfang an gut verstanden.
"Lagebericht?", fragte er und ich nickte unkonzentriert.
"Unser Mittelsmann ist tot. Erschossen von der Gegenpartei; vermutlich hätte er uns ein Phantombild geben können.
Außerdem haben wir niemanden festnehmen können, es war also ein absoluter Reinfall. Das Einzige, was wir haben, ist eine Pistole eines der Mitglieder. Vielleicht finden wir ja Fingerabdrücke oder ähnliches", erstattete er Bericht und ich tat es mit einem unzufriedenem Murren ab.
Suga neben mir bekam einen Hustenanfall, was meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zog.
"Alles in Ordnung?"
Er nickte angestrengt und ich vermutete, dass ihm die Wunde doch mehr zu schaffen machte, als er zugeben wollte.
Mit einem Nicken verabschiedete ich mich von Emi, Mike und den anderen Kollegen und führte Suga widerwillig zu meinem Auto.
Koushi Sugawara Pov
Fest biss ich die Zähne aufeinander, um die Schmerzen in meiner Seite zu ignorieren.
Ich hatte die Wahrheit gesagt, es war nur ein leichter Streifschuss gewesen, der nicht weiter schlimm war, dennoch tat es weh.
Auch behagte es mir keineswegs, mit Daichi allein zu sein - einem Polizisten und auch gerade noch er.
"Tut mir leid, dass wir uns so wiedersehen mussten", murmelte Daichi, während wir durch die dunklen Straßen fuhren.
Tut mir leid, dass wir uns überhaupt wiedersehen mussten, erwiderte ich in Gedanken.
Das Auto ruckelte und jeder Hopser, jede Biegung, jeder Stein, über den wir fuhren, schmerzte.
"Was war das überhaupt? Auf wen habt ihr geschossen? Ich habe niemanden gesehen", versuchte ich weiterhin den ahnungslosen Passanten zu spielen.
Daichis Blick verfinsterte sich. "Diese Leute gehören zu einer kriminellen Organisation, die wir schon seit längerer Zeit verfolgen", antwortete er und plötzlich witterte ich meine Chance, möglichst viele Informationen über den Kenntnisstand der Polizei zu erhalten.
"Kriminell?", hakte ich also mit einem erstaunten Unterton nach.
"Drogenhandel, Diebstähle und auch einige Morde gehen auf das Konto dieser Typen", erklärte Daichi bereitwillig.
Ich verbiss mir einen Kommentar. Wir hatten noch nie zum Spaß getötet - nur in den äußersten Notfällen und keiner von uns konnte es sich verzeihen. Wir waren keine Mörder.
"Warum tut man so etwas?", fragte ich und tat so, als würde mir ein Schauder über den Rücken laufen.
Weil die Welt nunmal ungerecht ist. Und die Leute, die unter meiner Führung stehen, das Geld dringend brauchen, um überleben zu können.
"Ich weiß es nicht. Ich will diese Arschlöcher auch gar nicht nachvollziehen können, wenn ich ehrlich bin."
Ich brummte zustimmend. Wir waren keine Arschlöcher.
"Weiß man denn irgendetwas über die Mitglieder dieser Organisation?"
"Nein, leider nicht", knurrte mein Sitznachbar, "Die Typen stellen sich schlauer an als es uns allen lieb ist. Wir denken aber, dass die Gruppe aus ungefähr 20 Leuten besteht..."
9, korrigiere ich in Gedanken.
"...Sie sich hauptsächlich des Geldes wegen kriminell betätigen..."
Richtig, aber aus plausiblen Gründen.
"Und es einen Drahtzieher gibt. Irgendeine Art Chef; einer, der den Überblick hat."
Schon wieder ins Schwarze getroffen.
"Vielleicht gibt uns die Pistole, die wir gefunden haben, mehr Hinweise."
Bitte nicht. Andererseits gibt es keinen Grund, mich damit in Verbindung zu bringen, und meine Fingerabdrücke sind auch nirgendwo registriert.
Aus den Augenwinkeln musterte ich Daichi.
Er hatte sich in den acht Jahren kaum verändert. Ein wenig muskulöser und im Gesicht älter war er geworden, doch die dunklen Haare sahen noch immer so weich und strubbelig aus wie damals, seine Augen hatten ihren entschlossenen, begeisterten Glanz nicht verloren und selbst seine Haltung war dieselbe.
Und doch war etwas anders.
Er war mir fremd.
Fremd, obwohl wir uns versprochen hatten, genau dies nicht zu werden. Es war nur eines von vielen Versprechen, die ich ihm gegenüber gegeben und erfolgreich gebrochen hatte.
Nun, da Stille zwischen uns eingekehrt war, begann ich langsam die Situation zu realisieren.
Ich hatte geplant, Daichi nie wieder zu sehen.
Nie hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, was ich sagen würde, wenn er eines Tages wieder vor mir stehen sollte.
Niemals hatte ich mir eine Entschuldigung zurechtgelegt.
Er wusste, dass ich ihn gerade beobachtete, doch er wich meinem Blick aus; konzentrierte sich lieber übertrieben fokussiert auf die Straße.
Wir würden nicht drüber reden, stellte ich erleichtert fest.
Wir würden es totschweigen, ich musste nichts längst Vergangenes erklären.
Erleichtert ließ ich mich tiefer in den Sitz sinken und schloss die Augen.
"Nicht einschlafen", ermahnte mich Daichi unsicher, als wüsste er nicht genau, welchen Ton er anschlagen sollte, "Nicht, bevor ich mir sicher bin, dass deine Wunde harmlos ist. Danach kannst du gerne schlafen."
Ich nickte müde und öffnete die Augen schweren Herzens wieder.
Ein leises Klingeln teilte mir einen eingehenden Anruf mit.
Bestimmt war das Yasuo oder einer der anderen.
Riskant.
Zögernd nahm ich den Anruf an, redete aber los, bevor mein Gesprächspartner etwas sagen konnte.
"Hi, ich bin es, Sugawara. Ich bin gerade mit einem Freund unterwegs, kann ich dich morgen zurückrufen?"
Yasuo verstand. "Klar, bis morgen dann."
Ich legte wieder auf und lächelte Daichi schief an.
"Dein Freund?", fragte dieser bemüht unbeteiligt und ich schüttelte verlegen den Kopf.
"Nein, ich ähm bin in keiner Beziehung. Und du?"
Ein erneuter Ruckler ließ mich zusammenzucken und meine Wunde brennen.
Stumm schüttelte Daichi den Kopf und ich ärgerte mich sofort über das freudige Gefühl, das mich bei seiner Antwort durchströmte.
Denk gar nicht erst dran, Koushi! Er ist ein Polizist, das kannst du wirklich gar nicht gebrauchen. Es ist zu gefährlich, ihr solltet nichtmal Kontakt haben. Außerdem glaubst du doch wohl selbst nicht, dass er dir noch einmal vertrauen würde, nach dem, was du damals verbockt hast?
"Wir sind da", verkündete der Dunkelhaarige nun und stellte den Motor ab.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er vor einem Wohnblock eingeparkt hatte.
"Schön hier", versuchte ich mich an einem erneuten Smalltalk, was kläglich scheiterte.
Innerlich seufzte ich.
Nur die nächsten Stunden. Ich musste nur die nächsten Stunden normal erscheinen und dann würden sich Daichis und mein Weg sowieso schon wieder trennen.
Vielleicht nur für die nächsten acht Jahre, hoffentlich aber für immer.
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