Kapitel 4
»War das Schild wirklich nötig?«, frage ich am nächsten Morgen und sehe zweifelnd zu Mom, die ein riesengroßes selbst gebasteltes Plakat in ihren Händen hält, auf dem mit schwarzem Filzstift Herzlich willkommen, Kelly! geschrieben steht. Wir befinden uns am fünfundvierzig Minuten entfernten Huntsville International Airport und warten darauf, dass der Flieger von Jamies Austauschpartnerin endlich in Alabama landet. Jamie hat die ganze Zeit nichts Besseres zu tun, als sein Handy zu malträtieren, während Mom die vorbeilaufenden Touristen beobachtet und hin und wieder das Gesicht verzieht, wenn schon wieder jemand mit Cowboystiefeln und -hut an uns vorbeiläuft. Oder mit Sweet Home Alabama-Shirt.
Mom hat mich gezwungen, dabei zu sein, obwohl ich sie heute Morgen beim Frühstück angebettelt hatte, dass ich zu Hause bleiben darf. »Du kommst mit. Schließlich wollen wir, dass Kelly sich hier bei uns wohlfühlt. Das funktioniert am besten, wenn du dich gleich mit ihr anfreundest«, hat sie mir eingetrichtert. Ich bin mir sicher, dass das bloß Taktik war und sie mir
in Wahrheit nur eine neue, nicht religiöse beste Freundin wünscht. Ich kann doch nicht planen, ob Kelly und ich uns anfreunden. Vielleicht verstehen wir uns nicht mal.
Immerhin hat Jamie Reeve nicht mitgeschleppt. Der hätte mir zusätzlich zu Moms guter Laune und ihren spöttischen Bemerkungen über die Outfits der Leute am Flughafen den Rest gegeben.
»Ich muss pinkeln«, verkündet Jamie unnötigerweise und steckt sein Handy in die Hosentasche.
»Nein, musst du nicht«, zischt Mom warnend. »Du behältst deinen Arsch hier bei uns. Schließlich kommt jeden Moment deine Austauschpartnerin.« Ihre grün braunen Augen blitzen meinen Bruder vernichtend an, und das, obwohl ihr Mund zu einem Schmunzeln verzogen ist.
Ich muss mir das Lachen verkneifen und drehe schnell meinen Kopf von den beiden weg, damit es keiner mitbekommt.
»Gott, Mom! Willst du mir jetzt ernsthaft verbieten, pissen zu gehen?«, höre ich Jamie verständnislos fragen.
»Jap«, bestätigt Mom. Aus dem Klang ihrer Stimme kann ich deutlich raushören, wie breit sie grinst. »Du könntest Weltmeister im Schnellpinkeln sein, und ich würde dich trotzdem nicht gehen lassen. Das ist unhöflich. Stell dir vor, das Mädchen kommt völlig fertig vom Flug und neugierig auf ihre Austauschfamilie hier an, und ihr Gastbruder ist nicht da. Was macht das denn für einen Eindruck?«
»Mom! Ich bin ein Mensch. Menschen müssen aufs Klo.«
Dämlich grinsend, lasse ich den Blick durch den Flug hafen wandern und sehe wie gebannt hinter die Ab sperrung, die uns von den kommenden Fluggästen und dem Gate trennt. Neben uns stehen noch ein paar ande re Personen. Alle scheinen jemanden begrüßen zu wollen. Im Gegensatz zu uns haben sie – bis auf einen Mann im Smoking mit einem riesigen Strauß Rosen in der Hand – keine peinlichen Plakate dabei. Einen Moment zu lange bleibt mein Blick auf dem Kerl im Anzug und seinem dämlichen Blumenstrauß hängen. Fast sagt mein Frühstück noch mal »Guten Morgen!«. Eigentlich will ich jetzt nicht an Dexter denken, doch die Rosen erinnern mich ganz von selbst an den Valentinstagsball Anfang dieses Jahres in der Schule. Als Dexter mich von zu Hause abgeholt hat, hat er mir auch Rosen mit gebracht. Ob er da schon gewusst hat, dass er mich Stunden später betrügen wird, und sich nur einschleimen wollte?
Bevor ich wieder in ein Loch fallen kann, lenkt etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Vom Gate kommen die ersten Passagiere in unsere Richtung ge schlendert. Zuerst läuft eine Familie – Mutter, Vater und zwei kleine Kinder – auf uns zu und schließlich an uns vorbei. Mein Herz macht einen freudigen Satz. Gleich bin ich endlich erlöst und kann den Rest des Sonntags im Bett chillen!
»Leute!« Aufgeregt werfe ich einen Blick auf Mom und Jamie, die beide plötzlich ganz still geworden sind und neugierig die Hälse recken, um besser nach Kelly Ausschau halten zu können.
»Hm?«, macht Jamie, ohne den Blick von dem Schwarm Menschen zu nehmen.
Ich frage mich, ob er hofft, Kelly sei ein australisches Bikinimodel, und wünsche mir zugleich, dass er das nicht denkt. Schließlich ist er mit meiner besten Freun din zusammen. Wenn er Auden verletzt oder betrügt, werde ich ihn windelweich prügeln. Auden ist herzens gut und sollte nicht denselben Mist durchmachen müs sen wie ich. Andererseits traue ich Jamie so was auch gar nicht zu.
»Woher wissen wir eigentlich, welche von denen Kelly ist?«, frage ich und zeige mit einem Kopfnicken auf eine Gruppe Mädchen, die hysterisch lachend die riesige Halle betritt.
»Tja«, macht Mom mit einem triumphierenden Unterton. »Gott sei Dank hat jemand von uns ein Schild gebastelt, was?«
Innerlich verdrehe ich die Augen, während Jamie auf stöhnt. Ich wende meinen Blick wieder suchend den kommenden Menschen zu. So langsam bin ich doch et was nervös. Schließlich wird für ein ganzes Schuljahr ein wildfremdes Mädchen aus Australien bei uns woh nen, und das, obwohl wir uns im neuen Haus selbst noch gar nicht richtig eingelebt haben. Was, wenn sie eine richtige Zicke ist? Oder schlimmer: Wenn sie das Ben & Jerry's aus dem Gefrierfach wegfuttert?
Besorgt beobachte ich die letzten Fluggäste: eine Frau mittleren Alters in einem kanariengelben Kleid, ein blondes Mädchen und einen Junge mit einer schwarzen Beanie, der ungefähr in Jamies Alter ist und sich fahrig durch das unter der Mütze herausragende Haar streicht.
Die Frau im gelben Outfit sieht sich um, als würde sie etwas suchen. In dem Moment, als ihre Augen den Mann mit den Rosen ausfindig machen, stößt sie ein erfreutes Quieken aus und stürmt auf klatschenden Flip- Flop-Sohlen auf ihn zu, um ihn abzuknutschen.
Stöhnend rolle ich die Augen und muss erstaunt fest stellen, dass der Typ mit den braunen Locken, der Mütze und dem ernsten Gesicht gerade genau dasselbe tut. Das blonde Mädchen neben ihm muss Kelly sein. Ihr Blick wandert aufmerksam durch den Flughafen. Im Hintergrund ist das Geräusch rollender Koffer zu hören. Der Geruch von Sonnencreme liegt in der Luft und vermischt sich mit dem von diversen Parfümsorten aus dem Duty-free-Shop in unserer Nähe.
»Komm zu uns, Kelly!«, ruft Mom ihr herzlich lächelnd zu und winkt sie zu uns heran. Sowohl der Junge als auch das Mädchen sehen verwirrt zu uns rüber. Im Gesicht des Mädchens steht ein fettes Fragezeichen geschrieben. Ihr Blick landet auf dem Willkommensplakat in den Händen meiner Mutter. Der Ausdruck in ihren Augen wird panisch. Hektisch umklammert sie den Träger ihrer roten Handtasche, verlässt den abgesperrten Bereich und entfernt sich im Laufschritt von uns, als hätte sie Angst, wir könnten sie uns schnappen, um sie später auf dem Mädchenhandel anzubieten.
Mom, Jamie und ich tauschen einen kurzen Blick mit einander. Moms Arm, in dem sie das bemalte Plakat hält, sinkt entgeistert in Richtung Boden. Ihre Miene ist genauso verständnislos wie meine.
»Hä?«, spricht Jamie das aus, was wir uns wohl gerade alle denken.
»Ich finde es ja sehr nett, dass Sie sich extra die Mühe gemacht haben ... ein Schild für mich zu basteln«, kommt es plötzlich abschätzig von jemandem mit australischem Akzent hinter meinem Rücken. Stirnrunzelnd wirble ich herum und sehe dem Jungen direkt in die türkisblauen Augen. Sein stechender Blick trifft mich mit voller Wucht. »Aber nächstes Mal sollten Sie dann vielleicht auch meinen Vornamen auf das Plakat schreiben.« Ein genervter Ausdruck huscht über sein Gesicht.
»Was?«, platzt es aus Jamie heraus.
»Hey, ich bin Nolan.« Als der Junge uns auffordernd die Hand entgegenstreckt, schimmern im Licht sämtli che silberne Ringe. »Nolan Kelly.«
Was?
Ich bin zu geschockt, um mich zu bewegen, geschweige denn zu atmen oder zu sprechen. Mein Mund ist zu einem überraschten O geformt. Jamie starrt Nolan ungläubig an und fährt sich peinlich berührt durch das dunkelbraune Haar. Ja, schäm dich nur für deine Dummheit und deine nicht vorhandene Fähigkeit, E-Mails richtig zu lesen, du Spaten! Und, Mom: Hör auf, Papier kram zu unterschreiben, den du nicht gelesen hast!
Mom ist die Erste, die aus ihrer Trance erwacht und sich lautstark räuspert. Ihr Blick fällt auf Nolans noch immer ausgestreckte Hand. Hell lacht sie auf, ignoriert die Geste und schließt ihn unverwandt in ihre Arme. Nolans Blick ist zum Brüllen. Er verzieht das Gesicht und sieht dabei so aus, als wollte er Mom am liebsten ein Messer in den Rücken rammen, damit sie ihn endlich wieder loslässt.
»Herzlich willkommen in Alabama, Noah. Ich bin Karen Carmichael, Jamies und Hallies Mom. Da du ja bei uns einziehst, kannst du mich auch gern Karen nennen«, zwitschert Mom und lässt langsam wieder von Nolan ab. »Entschuldige bitte das Missverständnis. Wir dachten, dass wir eine Austauschschülerin bekommen.«
Mir klappt automatisch die Kinnlade nach unten. Ich bin mir nicht sicher, worüber ich mehr geschockt sein soll: darüber, dass Mom den Kerl zum zweiten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten falsch angesprochen hat, oder darüber, dass sie ihm das Du angeboten hat und Auden in den letzten sechs Jahren noch nicht.
»Klar, mach ich. Aber nur wenn Sie sich meinen Namen merken und mich Nolan nennen«, sagt der Typ und zwinkert meiner Mutter zu, deren Lächeln darauf hin ein wenig verrutscht. Jetzt sieht sie so aus, als wollte sie ihm ein Messer in den Rücken stoßen.
»Boah, ich dachte, du wärst ein heißes Chick!«, meint Jamie, der sich prompt zwischen Mom und unseren Gast drängt und ihm brüderlich die Faust hinhält.
»Offensichtlich«, presst Nolan zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und betrachtet mit in die Stirn gezogener Augenbraue Jamies Hand. »Ne, lass mal.«
Unwillkürlich muss ich lachen. »Korb«, merke ich an und unterdrücke ein lautes, peinliches Kichern. Das lenkt Nolans Aufmerksamkeit direkt auf mich. Seine blauen Augen mustern mich aufmerksam und fahren plötzlich ungeniert meine Silhouette nach – obwohl ich nicht mal sonderlich viel zu bieten habe.
»Da ich neuerdings ein Mädchen bin, können wir uns ja gleich gegenseitig die Fingernägel lackieren und über Jungs lästern. Ich wäre dafür, wenn wir mit deinem Bruder anfangen«, sagt Nolan, nachdem seine Augen wieder bei meinem Gesicht haltgemacht haben.
Seine Stimme ist kühl und ernst. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass das, was er gesagt hat, bloß ein Scherz ist, aber allein an seiner Miene könnte ich das nicht mal mit viel Fantasie erraten. Mein Lachen bleibt mir im Halse stecken. Jamie neben mir grinst idiotisch und zieht eine Fratze.
»Na ja«, sagt mein Bruder. »Wie auch immer. Ich bin Jamie.«
»Wie dieser britische Koch?«, hakt Nolan nach. »Ne«, wirft Jamie sofort ein. »Wie Jamie Dornan.« Keine Reaktion. Nolan sieht ihn immer noch so an,
als redete er gerade fließend Chinesisch.
»Du weißt schon, der von Fifty Shades of Grey? Von
den Filmen? Mr Grey? Christian? CEO? Nein?«
So würde er vielleicht gern aussehen.
»Nein«, sagt Nolan tonlos. »Wenn ihr mich jetzt
durchlassen würdet? Ich muss meine Koffer holen.«
Die Autofahrt nach Hause ist ein einziger Albtraum – und das nicht nur wegen des Fahrens selbst. Mom fährt, Jamie sitzt auf dem Beifahrersitz, und ich muss mir den Platz auf der Rückbank mit Nolan teilen, der immer wieder zweifelnd nach hinten sieht und den Gummisei len, die seine Koffer auf der Ladefläche des Pick-ups halten, offensichtlich nicht traut.
»Wie ist Australien so?«, will Mom nach einer Weile wissen und sieht lächelnd durch den Rückspiegel.
»Kalt und windig.«
»Aber es ist doch Sommer«, sagt meine Mutter verständnislos. Sie trommelt mit ihren Fingernägeln auf dem Lenkrad zur aus dem Radio rieselnden Musik.
Achselzuckend sieht Nolan aus dem Fenster und betrachtet mit einem Blick, als hätte er in eine Zitrone gebissen, ein Feld am Straßenrand, auf dem ein paar Kühe in der prallen Sonne stehen und das vertrocknete Gras abfressen. »Bei uns nicht.«
»In Australien ist momentan Winter, Mom«, sagt Jamie, ohne den Blick von seinem Handybildschirm zu nehmen.
Als ich über seine Schulter auf das Display linse, er kenne ich allein schon an den zig roten Herzchen, dass er sich mit Auden schreibt. Grummelnd verdrehe ich die Augen und lehne mich wieder in meinen Sitz zu rück. Das ist ja kaum auszuhalten. Erst Dexter gestern, dann Mr Bachelor mit seinen Rosen am Flughafen und jetzt mein Bruder. Wenn Amor weiterhin wild mit Herzchenpfeilen durch die Gegend schießt, sehe ich mich gezwungen, ihm bald die pinken Flügel auszureißen.
»Ist es schön dort?«, fährt meine Mutter damit fort, unseren Gast auszufragen.
Ich schicke Stoßgebete gen Himmel, dass sie damit bald aufhören und uns weitere Peinlichkeiten ersparen wird, da Nolan ganz offensichtlich kein Interesse daran hat, sich mit ihr zu unterhalten. Er streckt die Beine und stößt ein Schnauben aus, das vermutlich nur ich hören kann, weil ich neben ihm sitze.
»Es ist okay.«
»Wie bist du zu diesem Auslandsjahr gekommen?«, hakt Mom nach und dreht für einen kurzen Moment den Kopf zu Nolan herum.
Dass ich leicht mit dem Kopf schüttle und ihr zu verklickern versuche, dass sie die Klappe halten soll, scheint sie nicht zu bemerken. Oder sie will es schlicht weg nicht.
»Ich hab mich einfach angemeldet. Mein Bruder hat mal davon geredet.«
»Es gibt zwei von dir?«, fragt Jamie erstaunt, dreht sich zu uns um und fängt schließlich an zu lachen. Nolans Blick ist wie versteinert, seine Augen kalt wie Eis. »War nur ein Witz, Alter.«
»Ich lach mich tot«, erwidert Nolan humorlos und kramt aus dem schwarzen Rucksack, den er auf dem Schoß hält, Kopfhörer und sein Handy. Damit ist das Gespräch für ihn wohl beendet.
Augenrollend ziehe ich mein iPhone aus meiner Hosentasche und schicke Jamie eine Nachricht.
wie charmant er doch ist. bestimmt könnt ihr euch später in deinem zimmer gegenseitig zöpfe flechten.
Von hinten erkenne ich, wie mein Bruder die Nachricht öffnet und mir als Antwort bloß einen Mittelfinger schickt. Zum Glück hat er ihn mir nicht live gezeigt. Denn dann hätte Mom einen Tobsuchtsanfall bekommen.
Jamies Strafe für seine Dummheit ist, dass Nolan bei ihm im Zimmer schlafen muss. Die Tatsache, dass er ein Junge ist, sorgt dafür, dass Mom ihm nicht zutraut, unbeaufsichtigt irgendwo sonst im Haus zu schlafen. Ich weiß echt nicht, was sie sich denkt. Dass ich ihn heirate? Keine Sorge, Mom. Ich will nicht bis an mein Lebensende Hallie Kelly genannt werden.
Was mich noch mehr aufregt als die Tatsache, neben meinem eigenen Bruder einen weiteren, noch unfreundlicheren und anscheinend dauergenervten dazu gewonnen zu haben, ist, dass ich jetzt dabei helfen muss, Nolans Krempel in Jamies Zimmer zu tragen.
»Wundere dich nicht, warum hier manches im Haus noch so kahl und neu aussieht. Wir sind selbst gestern erst eingezogen«, erklärt mein Bruder, während wir den Flur entlang zu seinem Zimmer laufen.
Nolan, der hinter Jamie und vor mir läuft, sieht sich eingehend um. Viel zu sehen gibt es im Gang aber nicht. Eine gestreifte Tapete und Türen – das wars.
»Okay.«
»Bist du schon aufgeregt wegen der Schule morgen?« Jamie wirft ihm einen Blick über die Schulter zu, wel chen Nolan kopfschüttelnd erwidert.
»Nope.«
»Bist du immer so ... motiviert?«, will mein Bruder wissen, bleibt vor seiner Zimmertür stehen und drückt lachend die Klinke hinunter.
»Kommt drauf an. Bist du immer so drauf, als hättest du was geraucht?«, kontert Nolan und stützt sich am ausgefahrenen Henkel seines Koffers ab, den er hinter sich hergezogen hat. »Diese Fröhlichkeit hält ja keiner aus. Disney hat angerufen. Sie wollen ihre Prinzessin zurück.«
»Ja! Der ist immer so. Unsere kleine Arielle«, bestätige ich ihm nickend, woraufhin Jamie mir einen mordlustigen Blick zuwirft.
»Nein, bin ich nicht«, stellt mein Bruder klar – eine glatte Lüge! –, »ich bin nur meistens gut gelaunt.«
»Hm.« Unbeeindruckt schiebt Nolan sich an Jamie vorbei und betritt vor uns dessen Zimmer.
Sobald wir allein auf dem Gang sind, sehen Jamie und ich einander an. Ich ihn spöttisch und er mich gequält. »Na, bereust du es schon, dich für dieses Projekt eingeschrieben zu haben?«, ziehe ich ihn grinsend auf.
»Halt die Klappe. Das macht sich später gut bei den College-Bewerbungen. Soziale Ader und so«, zischt er und stapft in sein Zimmer. Ich mache es ihm nach und stelle Nolans Koffer zu dem anderen vor Jamies Schreibtisch.
Wow! Beeindruckt stelle ich fest, dass mein Bruder im Gegensatz zu mir schon all seine Kisten ausgepackt und deren Inhalt ordentlich im Raum verteilt hat. Sogar
die Fotos von sich und unseren Freunden haben ihren Platz an der Pinnwand über dem Schreibtisch gefunden. Nolans Blick heftet sich auf ebendiese Polaroidbilder und bringt unseren Tauschbruder dazu, noch mehr aus zusehen, als wäre er gerade in einen Hundehaufen getreten.
»Nett.« Nolan reißt seinen Blick von den Fotos los und sieht sich im Zimmer um. Die Wände sind hellgrau gestrichen, die Möbel weiß, und hier und da finden sich dunkelblaue Farbakzente in Form eines Teppichs, Ja mies Bettwäsche und der flauschigen Decke über der Lehne seines Schreibtischstuhls.
»Hast du eine Freundin?«, fragt Nolan und sieht da bei nur so knapp an mir vorbei, dass ich zuerst glaube, er meint mich. Doch er redet mit meinem Bruder.
»Ja«, sagt Jamie.
Nolan schnaubt. »Okay. Regel Nummer eins: keinen Sex, solange ich hier bin und in diesem Zimmer schlafen muss.«
»So dumm bin ich dann auch wieder nicht. Außer dem brauchst du dir da echt keine Sorgen zu machen.«
Bei Jamies Worten muss ich mich kaum merklich schütteln. Von Auden weiß ich, dass sie aufgrund ihres Glaubens mit dem Sex bis zur Hochzeit warten will. Trotzdem rollen sich mir bei der Vorstellung von ihr und meinem Bruder in einem besonders intimen Mo ment die Zehennägel auf.
»Regel Nummer zwei: Lern, wann du besser die Klappe halten solltest. Du gehst mir jetzt schon auf die Nerven. Regel Nummer drei: Stellt nicht so viele Fragen. Und jetzt verschwindet – ich will auspacken.«
Gerade als Jamie protestierend den Mund öffnen will, um ihm wahrscheinlich ins Gedächtnis zu rufen, dass das da sein Zimmer ist, legt Nolan jeweils eine Hand an Jamies und an meine Schulter und schiebt uns aus dem Raum. Mit einem lauten Knall, bei dem beinahe das Haus einstürzt, schmeißt er die Zimmertür zu und lässt uns wie begossene Pudel im Gang stehen.
Jamie verdreht genervt die hellbraunen Augen. »Also eine Schnecke wäre mir lieber gewesen.«
ENDE der LESEPROBE ...
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