Kapitel 1
Mein ganzes Leben befindet sich in einem braunen Pappkarton. Zusammengefaltet, gestapelt oder zerknüllt.
Die gelben Chucks, die Mom mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hat, liegen unter einem Stapel meiner Lieblingsbücher, deren Seiten zum Teil vom vielen Lesen abgewetzt und eingerissen sind. Darüber befindet sich lieblos die Jeansjacke, die ich von Dad als Trennungs-Trostgeschenk bekommen habe, und ein Haufen Postkarten, die sich in den letzten Jahren auf meinem Schreibtisch angesammelt haben. Ein Sammelsurium an Beweisstücken einer gescheiterten Ehe und ein Schreibtisch, der jetzt nicht mehr in meinem Zimmer steht.
Der Raum mit den leuchtend blauen Wänden, die ich mit dreizehn mal furchtbar cool gefunden habe, ist nicht mehr mein Zimmer, aber irgendwie ist er es doch. Ab dem heutigen Tag habe ich zwei Zuhause. Das bei Mom und das bei Dad. Haus Nummer eins ist dort, wo es meine Lieblingssnacks im Kühlschrank gibt, und das andere ist mein gelegentliches Wochenenddomizil mit dem riesigen Flachbildfernseher im Wohnzimmer und all den Erinnerungen überall.
Seufzend trete ich näher an das Fenster heran, vor dem ich so oft schlaflose Nächte damit verbracht habe, die funkelnden Sterne am Himmel zu beobachten, während ich unten aus dem Wohnzimmer meine Eltern rumbrüllen hörte, als würden sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Oder aber wenn genau das Gegenteil der Fall war und sie die Nächte dazu nutzten, sich in ihrem Schlafzimmer zu versöhnen. Aber das ist Schnee von gestern und definitiv nichts, worüber ich noch länger nachdenken will.
Draußen brennt die Sonne vom Himmel. Der Asphalt flimmert, und keine einzige Wolke ist zu sehen. Müsste ich nicht bei diesem doofen Umzug helfen, könnte ich jetzt entspannt mit Auden und meinem älteren Bruder Jamie am See liegen und in der Hitze schmoren.
Mom, die dabei ist, die letzten Kisten auf die Ladefläche ihres Geländewagens zu befördern, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mein Bruder trägt gerade einen randvoll bepackten Wäschekorb voller Handtücher nach unten und stellt ihn auf dem Gehweg neben dem Wagen ab. Mom deutet mit dem Zeigefinger auf den Pick-up und dirigiert Jamie, wohin er welchen Karton und wo er welche Kiste abstellen soll. Mein Bruder lacht nur und räumt alles, wie sie es sich wünscht, auf den dreckbespritzten schwarzen Transporter. Von Waschanlagen hält Mom nicht viel. Schon allein deswegen nicht, weil man dafür zahlen muss.
»Hallie!«, brüllt meine Mutter von unten so laut, dass ich es durch das geschlossene Fenster hören kann. Ihr suchender Blick wandert die Hauswand entlang und richtet sich schließlich direkt auf mich. »Krieg deinen faulen Arsch hier runter, Schatz! Wir wollen los!« Ob wohl sie versucht, ernst zu klingen, verrät sie ihr breites Grinsen.
Ich glaube, Mom ist die Einzige von uns dreien, die sich über den Umzug freut. Jamie und ich wissen beide nicht so recht, was wir davon halten sollen, und das, obwohl unser neues Haus bloß ein paar Blöcke weiter liegt. Eine allzu große Umstellung dürfte das Ganze also nicht werden.
»Ja!«, rufe ich, bezweifle aber, dass Mom mich hören kann. Mein Stimmorgan ist bei Weitem nicht so laut wie ihres. Ich drehe mich um, klemme mir den Karton unter den Arm und mache mich auf den Weg. Im Tür rahmen bleibe ich noch mal stehen und sauge den An blick in mich auf. Mein altes Bett, der gestreifte Teppich und mein Kleiderschrank sind die einzigen Möbelstücke, die sich noch im Zimmer befinden. Der Rest ist schon bei Mom.
»Tschüss, Zimmer. Ich werde dich vermissen«, murmle ich vor mich hin und verlasse mit einem weh mütigen Lächeln den Raum. Ich weiß, dass ich das Zimmer nicht zum letzten Mal gesehen habe und auch noch oft genug in meinem alten Bett schlafen werde, aber so wie vorher wird es trotzdem nie wieder sein.
Während ich die Treppe nach unten gehe, sauge ich jedes einzelne Knarzen der Holzstufen auf wie ein Schwamm das Wasser. Jamie und ich sind, als wir klein waren, oft in einem Wäschekorb die Treppe runtergerutscht, bevor Dad uns danach verarztet und Mom uns zum Trost wegen der Verletzungen heiße Schokolade gekocht hat. In der Küche haben wir vier uns jeden Abend zum Essen getroffen und oft so sehr gelacht, dass uns die Augen getränt und die Bäuche wehgetan haben. Aber das war lange vor Dads Beförderung und den Streitereien, die darauf folgten.
Von meinem Vater muss ich mich nicht verabschieden. Denn der hat sich für diese Woche extra Urlaub genommen und ist weggeflogen, damit er uns nicht da bei zusehen muss, wie wir unser gesamtes Hab und Gut aus dem Haus schleppen.
»Was hast du so lange da oben gemacht? Ist dein Handy mal wieder ins Klo gefallen?«, neckt mich Jamie, der schon im Hausflur auf mich wartet und mir den Karton bereitwillig abnimmt.
»Das ist bloß ein einziges Mal passiert, du Schwachkopf!«, maule ich, kann mir ein Lachen aber nicht ver kneifen. Dieser Vorfall war wirklich zu dumm. Selbst für meine Verhältnisse.
»Hast du deine Justin-Bieber-Poster noch schnell unter dem Bett vorkramen müssen, oder was?«, spottet Jamie weiter, wofür ich ihm mit dem Ellenbogen spielerisch in die Seite knuffe.
Er stößt einen erstickten Laut aus und lässt den Kar ton mit meinen Sachen mit voller Absicht ein paar Zentimeter Richtung Erdboden fallen, bevor er die Kiste wieder auffängt. Mir bleibt das Herz stehen. »Ups!«, macht Jamie gespielt erschrocken, wofür er sich einen Klaps gegen den Oberarm einfängt.
»Du bist ein Trottel«, sage ich beleidigt und laufe hocherhobenen Hauptes nach draußen. »Außerdem hab ich nie Justin-Bieber-Poster gesammelt, sondern welche von Harry Styles. Pff! Und da war ich dreizehn, Doppel- Pff!«
»Die sehen doch eh alle gleich aus«, winkt Jamie ab und zieht die Mundwinkel noch weiter in die Höhe.
»Gar nicht! Und ey! Lieber besitze ich lebensgroße Poster von Harry Styles, als heimlich den Playboy unter meinem Bett zu verstecken.« Jetzt liegt es an mir, dämlich zu grinsen.
Jamie verlagert sofort das Gewicht meines Kartons auf einen Arm, zückt mit der freien Hand seinen Mittelfinger und hält ihn mir direkt vor die Nase.
Mom knallt die Luke der Ladefläche runter, dreht sich zu uns um und stemmt die Hände in die Hüften. Sie ist gerade noch schnell genug, um Jamies Mittelfinger zu bemerken. »Was habe ich euch beiden immer gesagt? Wir zeigen unseren Mittelfinger nur Leuten, die es verdient haben, und auf keinen Fall Familienmitgliedern!«
»Was ist mit Dad? Dem hast du neulich doch auch 'nen Wichser gezeigt«, wirft Jamie ein, schleudert meinen Karton schon fast über die Ladefläche des Pick-ups und dreht sich mit einem hämischen Lächeln zu Mom um. Bei der Art und Weise, wie er mit meinen Habseligkeiten umgeht, rutscht mir das Herz glatt noch mal in die Hose.
Meine Mutter seufzt. »Der ist bloß angeheiratet. Ich bin nicht mit ihm verwandt, also zählt das nicht. Und jetzt schwingt eure Hinterteile ins Auto, Babys.«
Unser neues Haus ist im Vergleich zum alten ein Witz. Es hat zwar zwei Stockwerke, aber bei Weitem nicht so große Zimmer. Ein graues leicht abgeflachtes Dach mit schmutzigen Ziegeln und eine Veranda mit weiß gestrichenem Holzgeländer sind die einzigen beiden Dinge, die es mit seinem Vorgänger gemeinsam hat. Es gab wohl irgendwann auch mal eine Scheune hinter dem Haus. Ja, gab.
Die dunkelroten Fenster und eine Haustür in derselben Farbe sehen total lächerlich aus. Genauso wie die Rosenbüsche im Garten, die bei Moms nicht vorhandenem grünem Daumen sowieso spätestens in einem Monat eingehen werden. Beim Aussteigen aus dem Pick-up verkneife ich mir dennoch jeglichen Kommentar und zwinge mich zu lächeln.
»Hallie!«, schreit urplötzlich jemand meinen Namen.
»O Gott!« Erschrocken presse ich eine Hand auf mein rasendes Herz und starre Auden Woods, die wie aus dem Nichts auf uns zujoggt, anklagend an. Ihr honigblondes Haar hat sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, und das geblümte Kleid flattert bei ihren schnellen Bewegungen wie eine Wolke hinter ihr her. Die schlichte Kreuzkette, die um ihren schlanken Hals baumelt, glitzert silbern im Sonnenlicht.
»Was machst du denn hier?«, frage ich sie erstaunt, als sie mit geröteten Wangen vor mir zum Stehen kommt und sich die Seite hält. Sport ist genauso wenig ihre Leidenschaft wie meine. »Gott, A! Nächstes Schuljahr solltest du echt öfter im Sportunterricht mitmachen und nicht immer behaupten, du hättest Krämpfe.«
»Sei ... still«, presst sie keuchend hervor und nimmt einen tiefen Atemzug.
Im Hintergrund höre ich Mom, die Jamie verzweifelt zu erklären versucht, in welchen Raum er welchen Karton bringen soll. Hätte sie meinen Rat befolgt und die Kisten – wie ich meine – beschriftet, hätte sie dieses Problem jetzt gar nicht.
»Ich wollte nur meine beste Freundin besuchen, die jetzt endlich in derselben Straße wohnt wie ich«, meint Auden und strahlt mich bis über beide Ohren an. »Es ist so cool, dass ihr jetzt hier seid!«
»Jaaa«, mache ich gedehnt und will ihr gerade erklären, wie bescheuert ich den Umzug trotzdem finde, als Jamie von hinten auf uns zukommt, mich zur Seite schiebt, als wäre ich ein ekliges, gammeliges Thunfischsandwich, und Auden die Lippen auf den Mund drückt. Innerlich stöhne ich laut auf. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, dass meine beste Freundin mit meinem Bruder zusammen ist und die beiden gelegentlich ihren Speichel miteinander tauschen. Ich zähle geistig bis zehn, bis ich mich lautstark räuspere und die beiden abrupt auseinanderfahren.
»Tut mir leid«, meint A und versucht sich an einem Lächeln. Ihr Gesicht hat fast dieselbe Farbe wie die gestrichenen Fensterläden des neuen Hauses.
»Gott im Himmel! Mach, dass die beiden nie wieder vor mir rummachen!«, flehe ich und sehe gequält nach oben in den blauen Spätsommerhimmel.
Jamie lacht, während Auden schnell die grüne Krone des Ahornbaums im Garten anvisiert. Zumindest ist es zwischen uns mittlerweile nicht mehr ganz so seltsam und peinlich wie am Anfang ihrer Beziehung vor zwei Jahren.
»Hey, Babe? Kommst du später mit uns zum Lagerfeuer?«, fragt Jamie Auden, die daraufhin mit den Achseln zuckt.
»Kommt drauf an, ob meine Eltern es erlauben«, sagt sie, woraufhin Jamie und ich die Luft anhalten und einen erschrockenen Blick miteinander wechseln. Das wars. Auden kommt nicht mit – Ende der Geschichte.
Als sie unsere Gesichter bemerkt, fängt sie an zu lachen. »Das war ein Witz! Ich bin doch nicht bescheuert. Ich hab ihnen erzählt, dass ich bei Hallie übernachte. Ich bin dabei.«
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»Das ist toll, Auden«, mischt sich da Mom mit ironischem Unterton ein, die plötzlich wie ein Geist hinter uns aufgetaucht ist. O mein Gott. Sie tut es schon wie der! Gleich kommt irgendwas Peinliches.
»Du kannst dich jetzt aber gern nützlich machen und Hallie beim Auspacken helfen.« Die Art und Weise, wie sie meinen Namen ausspricht, schließt die Möglichkeit aus, dass A später eventuell im Zimmer meines Bruders verschwindet.
»Sehr gern, Mrs Carmichael!« Auden lächelt zuckersüß. Das Verrückte an der Sache ist, dass ihr Lächeln nicht mal fake ist. »Ihre Bluse ist mal wieder superstylish!«
Ich halte den Atem an, Jamie tut dasselbe, und Mom sieht Auden mit erstarrtem Gesichtsausdruck an, bevor sie laut auflacht.
»Netter Versuch, Schätzchen. Aber selbst wenn du dich bei mir einschleimst: Ich lasse dich trotzdem nicht bei meinem Sohn übernachten.« Mit diesen Worten wuschelt sie Jamie durch das dunkelbraune Haar, das sie uns beiden samt den Karamellaugen vererbt hat, schnappt sich eine Kiste und läuft triumphierend grinsend zur Haustür.
»Eigentlich war das mein voller Ernst«, sagt Auden und sieht zu Jamie auf, der gerade mit grimmiger Miene damit beschäftigt ist, seine Haare zu richten.
»Jemand sollte dringend mal wieder zum Friseur. Du siehst aus wie Big Foot«, ziehe ich ihn augenbrauenwackelnd auf und greife nach meinem Karton, der noch auf der Wagenladefläche steht.
Jamie zieht eine Grimasse und äfft meine Stimme nach, während ich begleitet von Auden die Stufen der Veranda hochsteige und das Haus betrete. Vorher wirft sie meinem Bruder noch schnell einen verknallten Blick zu.
»Ich freue mich so«, meint A, als wir in meinem Zimmer angekommen sind, ich den Karton zu dem Stapel mit den restlichen Kisten auf den Boden stelle und mich stöhnend aufs Bett fallen lasse. Auden lässt sich neben mich plumpsen und schaut sich neugierig um. Obwohl sie erst vor ein paar Tagen hier war und mir beim Streichen der Wände geholfen hat, sieht sie jetzt so aus, als bekäme sie mein neues Zimmer mit den eisblauen Wänden zum ersten Mal zu Gesicht. Der künstliche Geruch der Wandfarbe liegt immer noch in der aufgeheizten Luft. Abgesehen davon riecht es nach neuen Möbeln, die ebenfalls erst vor Kurzem aufgebaut worden sind.
Auden legt nachdenklich den Zeigefinger an ihr Kinn. »Weißt du, was deinem Zimmer einen gemütlicheren Touch verpassen würde?«
»Wenn du jetzt wieder mit Grünzeug anfängst, dann ...«
»Aber eine Monstera wäre echt toll hier drinnen und ...«
»Nein!«
»Aber ...«
»Du kannst gern mit mir tauschen und hier einziehen«, schlage ich vor und greife nach einem der vielen Zierkissen, die über meinem Kopf auf dem Bett liegen. Die einzigen Dekoartikel, die schon ausgepackt sind. »Wenn du mit meinem Bruder zusammenleben würdest, fändest du ihn gar nicht mehr so scharf. Glaub mir.«
»Hallie«, knurrt Auden und bewirft mich mit einem Stofftier, das letzte Woche nur knapp dem Haufen mit
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den Sachen, die ich zur Müllhalde gebracht habe, entgangen ist. Eine ausgewaschene Plüschkatze.
»Ja, ja«, sage ich grinsend. A hat ihr Gesicht zu mir gedreht und sieht mich aus ihren hellblauen Augen an. Die Lust, über ihre Beziehung mit meinem Bruder zu reden, vergeht mir, also wechsle ich prompt das Thema. »Ich hab keine Ahnung, warum wir ausgerechnet am letzten Wochenende der Sommerferien hier einziehen mussten.«
»Um für Extraspannung vor Schuljahresbeginn zu sorgen?«, mutmaßt Auden. »Eure Mom liebt doch dramatische Auftritte.«
»Ich würde es ihr sogar zutrauen. Vor allem, weil morgen dieser dämliche Schüleraustausch von Jamie losgeht. Ich glaube, Mom wollte nur heute hier einziehen, damit sie einen Vorwand hat, dass morgen definitiv alles fertig ausgepackt und aufgeräumt ist.«
»Hey!«, sagt Auden plötzlich und setzt sich kerzengerade auf. Ihr belustigter Blick von gerade eben ist wie weggeblasen und hat einer leicht panischen Miene Platz gemacht.
Stirnrunzelnd setze ich mich auf, schlinge die Arme um das lila glitzernde Kissen auf meinem Schoß und se he sie erwartungsvoll an.
»Wenn morgen dieses Mädchen hier einzieht, verbietest du ihr, dass sie in Jamies Zimmer schläft, okay?«
Fast verschlucke ich mich vor lauter Lachen an meiner eigenen Spucke. Keuchend klopfe ich mir auf die Brust und starre Auden ungläubig an. »Was? Das ist deine größte Angst?«
»Was denn sonst?« Zumindest grinst sie jetzt wieder. »Vielleicht ist sie ja ein braun gebranntes Supermodel mit langen Beinen, Beachwaves und trainiertem Bauch?«
»Wenn das der Fall ist, kicke ich sie höchstpersönlich hier raus, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn ich den Kühlschrank öffne«, versichere ich ihr und schwinge mich auf die Beine. »Und jetzt hilf mir, meinen Kram auszupacken, bevor Mom mit dem Nudelholz reinkommt und uns den Allerwertesten versohlt. Oder schlimmer noch: uns nicht zur Party gehen lässt.«
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