Der Tod der Jude Dagger
Als ich den Arm meiner Mutter herabsausen sah, wusste ich, dass es vorbei war.
Sie hatte dieses ekelhafte Insektengetier schon immer gehasst wie die Pest, hatte jedes der elenden Tierchen ausgelöscht, was sich je in unsere kleine, stickige Wohnung getraut hatte.
Jenn Dagger hatte nicht mehr viel, was sie ihr eigen nennen konnte, aber die wenigen Quadratmeter, die ihr noch gehörten, hielt sie stets frei von Ungeziefer, das hatte sie schon immer getan. Selbst, als wir noch im großen Haus gewohnt hatten, in dem hübschen Vorstadthaus mit den hellgelben Fensterläden und der Hängematte im Garten. Selbst, als noch alles in Ordnung gewesen war, hatte Mom sie gehasst. Hatte Mom uns gehasst.
Manchmal, wenn die Abendsonne durch das kleine, schmutzige Küchenfenster fiel und ihre Haare im goldenen Licht glänzten, dann sah man sie noch in ihr, die Frau, die sie einst gewesen war, als Dad noch gelebt hatte.
Wenn ich jetzt sterben würde, dann wollte ich sie so in Erinnerung behalten. Als die große, jung gebliebene Frau mit den hellbraunen Haaren und den haselnussfarbenen Augen, mit den Sommersprossen und den kleinen Grübchen, wenn sie lachte. Ich wollte mich an die bunten Kleider erinnern, die sie so gern getragen hatte, und an die klimpernden Ohrringe, die Dad ihr damals zum Jahrestag geschenkt hatte. An die Gute-Nacht-Geschichten und die Himbeermuffins, die sie immer gebacken hatte, an die Blumenkränze, die sie mit uns geflochten hatte und an die vielen Bilder, die sie damals gemalt hatte.
Jetzt, in diesem Moment sah ich nur die Unterseite ihres Kinns, die wie ein Fels über mich hinweg ragte und den Ausdruck auf ihrem bleichen Gesicht, das zufriedene Funkeln in ihrem sonst so abgestumpften Blick.
Sie hatte sich verändert, nachdem Dad gestorben war. Alles hatte sich verändert, nachdem Dad gestorben war, das Haus, die Schule und zuletzt auch Mom selbst.
Sie hatte ihn so, so sehr geliebt. Hatte die Ärzte angefleht dann angeschrien, dann angegriffen, weil sie es nicht glauben wollte, weil sie es nicht glauben konnte. Niemand konnte es glauben, nichtmal Ian mit seiner sonst so blühenden Fantasie. Er hatte die ganze Nacht geweint, Mom hatte die ganze Nacht geweint. Wir alle hatten geweint, bis keine Tränen mehr übrig waren, bis es nur noch weh getan hat und wir nichts mehr dagegen tun konnten.
Und dann sind wir umgezogen, weil sie sich das Haus nicht mehr leisten konnte, ans andere Ende der Stadt in ein kleines, schmutziges Viertel in dem es nach Abwasser roch und das durch den Schatten des alten Fabrikrohres, der wie ein warnender Zeigefinger über den Häusern zu hängen schien, selbst am hellichten Tag unnatürlich düster wirkte. Ian und ich gingen jetzt auf eine neue Schule, eine, in der man hässliche, braune Hemden trug und in der es nur grauen Kartoffelbrei zum Mittagessen gab.
Am Anfang waren wir beide so unglaublich wütend gewesen, wütend unsere alte Schule verlassen zu müssen, wütend über den Umzug, wütend auf Mom.
Was würde mit Ian passieren, wenn ich jetzt sterben musste? Ich musste ihn doch beschützen, wenn sie ihm in der Schule weiß Gott welche Namen hinterher riefen, ihn ablenken, wenn Mom wieder weinte, ihn trösten, wenn er Angst hatte, Dad zu vergessen.
Er würde denken, ich sei abgehauen, hätte ihn zurückgelassen. Ian würde denken, seine große Schwester wäre ohne ihn gegangen.
Mom würde meinen zerstampften Insektenkörper mit angeekeltem Blick in den Mülleimer befördern, wie sie es schon mit all den anderen getan hatte, die ihr unter die Fliegenklatsche gekommen waren, würde später nach ihrer Tochter suchen und sie niemals mehr finden.
Ich hasste es. Ich hasste dieses Leben, ich wollte nicht, dass es so aufhörte. Ich hasste diese jämmerliche Gestalt, hasste es, dass andere Wandler große Raubtiere sein konnten, während ich eine Scheißhaus-Fliege hatte sein müssen, wie Mom die hässlichen Viecher immer genannt hatte. Ich hasste es, dass das die Gestalt sein musste, in der Mom und Ian mich unwissentlich zuletzt zu Gesicht bekommen würden. Als zermatschte, schwanz glänzende Fliege, an der Unterseite der alten Fliegenklatsche klebend.
Das war ein armseeliger Tod, eine unglaublich armseelige Art, zu sterben.
Kein Mal mehr würden sie der ebenfalls nicht umbedingt hübschen, aber immerhin menschlichen Jude Dagger in die matschfarbenen Augen sehen können, kein einziges Mal würde ich ihnen sagen können, dass ich sie lieb hatte.
Wäre ich gerade ein Mensch gewesen, hätte ich furchtbar geweint, geschrien, um mich getreten, doch es war zu spät.
Natürlich hatte es heute passieren müssen, dass ich mich versehentlich verwandelte, als ich eine Mücke in dem kleinen Kinderzimmer, dass ich mir seit unserem Umzug mit Ian teilte, herumschwirren hörte, natürlich heute, wo ich mich noch mit Mom gestritten hatte, nachdem schon die Schule so unausstehlich gewesen war.
Ich war so, so dumm gewesen. Hätte ich nicht einfach in dem kleinen, ungemütlichen Zimmer auf der viel zu harten Matratze sitzen bleiben können und warten, dass ich mich zurück verwandtelte?
Nein, ich hatte losfliegen müssten, durchs rostige Schlüsselloch der dünnen Tür in die Küche fliegen müssen, hatte mir eingebildet, das kleine, eingerahmte Foto, das Dad damals an meinem ersten Schultag geschossen hatte, würde mir helfen, mich zurückzuverwandeln.
Dass Mom in der Küche war, hatte ich doch gewusst, also warum hatte ich es also gewagt, warum verdammt hatte ich nicht einfach im Zimmer bleiben können? Dann würde ich jetzt nicht sterben müssen, würde nicht sehen müssen, wie Ian entsetzt zu Mom herübersieht, während sie ihre einzige Tochter tötet, ohne den Hauch einer Ahnung davon zu haben.
Ian hatte es schon immer nicht gemocht, wenn sie das tat. Er hatte Mitleid mit all den Ratten gehabt, mit den Spinnen und Käfern, den Mücken, Fliegen und selbst den Küchenschaben, die Mom beseitigt hatte.
Er hatte es nie gewusst, nie auch nur geahnt, dass seine Schwester eine von ihnen sein könnte und trotzdem hatte er sie gemocht, hatte nicht gewollt, das Mom sie alle umbrachte. Er war ein so unglaublich guter Mensch, eine so unschuldige Seele, selbst nach all dem, was wir erlebt hatten.
Erst fünf war er gewesen, als Dad diesen Herzinfarkt gehabt hatte. Fünf Jahre alt, mit seinen großen, blauen Augen und ebenso dunklen Haaren wie ich. Nur das seine ganz lockig waren, nicht so dünn und strähnig wie meine.
Vielleicht konnten Fliegen ja doch weinen, wenn auch nur ein kleines bisschen. Wie verrückt war ich durch die Küche gesaust, nachdem sie mich bemerkt hatte, hatte versucht, durch ein Fenster zu entkommen, oder hinter einen Schrank zu krabbeln.
Erst als sie die Fliegenklatsche herausgeholt hatte, hatte ich Angst bekommen. Hatte versucht, mich zu verwandeln, mir verzweifelt meine Menschengestalt vor Augen gerufen, ohne das etwas passiert war.
Wie eine Furie hatte sie mich durch die Wohnung gejagt, die einem als Fliege längst nicht so klein vorkam, wie als Mensch, hatte mich immer wieder verfehlt, bis ich schließlich eine Millisekunde zu lang in einer Raumecke gehockt hatte.
Ich hatte versucht, kurz Luft zu holen, mich einen Wimpernschlag lang auszuruhen, als sie mich mit dem harten Plastik getroffen hatte. Nur seitlich, fast hätte ich es geschafft, auszuweichen, aber eben nur fast.
Der Schlag hatte mich auf den Boden geschleudert, auf die fleckigen, gelblich angelaufenen Küchenfliesen, vor denen ich mich beim Einzug besonders geekelt hatte.
Und nun lag ich dort, die kleinen, ekligen Insektenbeine gen Himmel gestreckt und über mir das triumphierende Gesicht der Jenn Dagger, als sie zu ihrem letzten Schlag ausholte, als die verhasste, dreckige Fliegenklatsche hinabsauste.
Hätte ich es gekonnt, hätte ich jetzt die Augen geschlossen, aber dank meiner Fliegengestalt sah ich meinen eigenen Mörder gleich mehrere hundert Mal, und das gestochen scharf.
Der Schmerz blieb aus und nicht mal einen Schrei brachte ich heraus, bevor meine Sicht sich schließlich verdunkelte, ich nichts mehr spürte als ein dunkles, schwarzes Nichts.
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