Kapitel 5
Nietzsche räusperte sich stumm, ehe er sich schließlich vom Anblick seiner eigenen Spiegelung losriss und zügigen Schrittes den Gang hinunter ging.
Noch immer fühlte er sich durch die Wirkung des Tavors leicht benebelt und etwas flau in der Magengegend war ihm auch, doch er versuchte jegliche Bedenken beiseite zu schieben und sich erstmal um einen Ausweg aus diesem Irren-/Krankenhaus zu bemühen.
Der lange Flur wurde links und rechts von großen, breiten, weiß bemalten Türen bewacht, doch diese glichen einander wie ein Ei dem Anderen.
Nietzsche war ratlos.
Hatte er womöglich ein Schild mit der Beschriftung „Ausgang" übersehen?
Ganz wie von selbst verlangsamte sich sein Schritt mit einem Mal und sich nun doch etwas verloren fühlend, blieb er erneut mittig im Gang stehen, wand den Kopf einmal nach links, dann nacht rechts, ehe ihn ein bellender Ruf plötzlich zusammenfahren ließ.
„Hey!"
Augenblicklich wirbelte Nietzsche herum, riss den Kopf dabei so schnell nach hinten, dass es ihn für einen kurzen Moment dermaßen schwindelte, dass er glaubte er vergesse wie man atmet und müsse dran ersticken.
Nachdem sich seine Visionen binnen weniger Augenaufschläge wieder stabilisiert hatte, erkannte er das hysterische Blondchen, an dessen Seite sich das Fräulein Mori befand.
„Sie können nicht einfach aufstehen!", krakelte das lästige Frauenzimmer, setzte sich dann ebenfalls in Bewegung und wirkte dabei nicht wenig burschikos.
Nietzsche war es beinah etwas peinlich, doch nun blieb wirklich keine Zeit sich über fehlende Sittlichkeiten zu pikieren.
Hastig schaute er nach links, dann nach rechts, ehe sich, begleitet von einem leisen Klingeln, wie von Geisterhand und ganz plötzlich, die Wand zu seiner linken auftat.
Die stählernden, silbernen Türen schoben sich und das ganz ohne das jemans sie auch nur berührte, zur Seite und gaben den Blick frei auf einen hell ausgeleuchteten, mit Spiegeln verkleideten Raum.
Für den Bruchteil einer Sekunde starrten er und die Person, welche in der Mitte des kleinen und wie durch Geisterhand plötzlich erschienen Raumes stand, einfach nur stumm und mit großen Augen an.
„Ähm...", begann der Herr mittleren Alters sich dann zu räuspern, „Fahren Sie mit?"
Und mit diesen Worten trat er einen Schritt zur Seite, als hätte er Nietzsche Eintritt in seinen kleinen, schmalen, allerdings hellen Raum gewähren wollen.
Der Philosoph schlug einmal verwundert mit den Augen auf, wandte dann den Blick nach vorne, nur um zu erkennen, dass die blonde Hysterie-Patientin ihm inzwischen bedrohlich nahe gekommen war.
Das Fräulein Mori folgte, circa mit einem halben Meter Abstand und weitaus weniger energisch vor sich hinschreitend.
Wie von selbst bewegten sich plötzlich Nietzsches Füße, er nickte stumm, huschte dann in den kleinen, doch recht beengten Raum und kaum war er drinnen, da schlossen sich hinter ihm die Türen auch bereits wieder, was ihn instinktiv einen halben Meter zurück weichen ließ, so dass er plötzlich die Spiegelwand in seinem Rücken spüren konnte.
Von draußen konnte man das Blondchen schimpfen hören: „Das gibts doch nicht! Genshi? War das mit Doktor Asbeck besprochen?"
Zitternd atmete Nietzsche auf, strich sich dann etwas peinlich berührt die brauen Haare zurecht, doch der Mann (Nietzsche schätzte ihn ungefähr so alt wie sich selbst) hatte dafür bloß ein heiseres Lachen übrig.
„Nach unten?", fragte er dann plötzlich, worauf Nietzsche nur irritiert blinzelte.
„Ich ähm,... suche den Ausgang." , erklärte er schließlich, worauf der Mann bloß nickte.
„Unten also."
Nietzsche verstand nicht ganz, doch lange Zeit darüber nachzudenken blieb ihm nicht, denn im nächsten Moment bereits begann der Raum leicht zu ruckeln und instinktiv krallte sich der Philosoph an den Haltegriffen feste.
Mit wild klopfendem Herzen hob er den Blick, musterte seinen Gegenüber schockiert, welcher nun doch etwas besorgt schien.
„Geht's Ihnen gut?"
Nietzsche brachte keinen Ton heraus und es war, zugegeben, doch recht selten, dass er sich um Worte verlegen sah und dennoch...
Er konnte spüren, durch die einwirkende Kraft F, das eine Beschleunigung vorlag.
Beschleunigung implizierte Geschwindigkeit, als Bewegung und Bewegungen waren Richtungen immanent.
Soviel hatte er dann doch noch aus der Vektoren-Lehre mitgenommen, auch, wenn er in Relation zu anderen Fächern gesehen, in Mathe doch von je her beschämend schlechtere Resultate erzielt hatte.
Doch dafür reichte es.
Und wenn ihn nicht alles täuschte, dann bewegten sie sich gerade nach unten...
„Ist das ein Aufzug?", platzte er heraus und grämte sich im nächsten Moment bereits für sein Verhalten.
Doch man mochte es ihm, unter solch sonderbaren Umständen, mit Sicherheit verzeihen. - Das hoffte er zumindest.
„Ja?" Kritisch zog der junge Mann seiner gegenüber die dunklen, buschigen Augenbrauen zusammen, legte dann nachdenklich die Stirn in Falten und musterte ihn abschätzig.
Nietzsche verbat sich einen Kommentar.
Der Herr betrachtete ihn, als wäre er ein Ausstellungsstück im Museum, blieb dabei mit dem prüfenden Blick immer wieder an seiner Kleidung hängen, als wäre es Nietzsche, der sich nicht anzuziehen wusste.
Tatsächlich wirkte der Mann wie der reinste Flodder, bei genauerem Hinsehen, dunkle Hosen, welche am Knie des linken Beines ein großes Loch zierte, dazu trug er einen grauen, verwaschenen Pullover und eine abgetragene, kurze Lederjacke.
Die Frisur war zerzaust, doch was das anging wollte Nietzsche sich eines Kommentars enthalten, er selbst sah, zurückgezogen ins Einsiedlertum doch seltener einen Barbier manchmal, als es ihm lieb war und sich selbst die Haare zu schneiden war ein gefährliches Unterfangen, zumindest wenn er sich nicht von Lieschen tagelang Belustigungen und ab und an auch etwas Schimpfe anhören mochte.
„Sie erinnern mich an irgendwen...", brach der Flodder dann plötzlich das Schweigen und für einen Augenblick brachte es Nietzsche dermaßen aus dem Konzept, dass er sogar kurzzeitig vergas, dass er sich in einem Aufzug befand.
Er hatte Köselitz mal von einer solchen Gerätschaft erzählen hören, das war aber bereits etwas länger her.
In Amerika schien die Produktion dieser Maschinen bereits im vollen Gange, doch Nietzsche selbst hatte bislang nur von schlechten Fotografien einen Vorgeschmack auf die Personentransportierende Zukunft bekommen können - geschweige denn, dass er sich jemals in einem solchen Transportmittel befunden hätte.
„Ich komme nur gerade nicht drauf,... aber an irgendwen erinnern Sie mich.", brummte der Mann weiter, ehe der Aufzug plötzlich mit einem Ruck zum Stillstand kam, die eisernen Türen sich öffneten und die Sicht auf eine große Halle freigaben.
„Ich wünsch Ihnen was.", verabschiedete sich der Mann schließlich, hob dann einmal kurz die Hand, ehe er den Aufzug dann verließ.
Nietzsche stand da, wie bestellt und nicht abgeholt, machte dann ebenfalls ein paar unsichere Schritte nach vorne und ließ den wachsamen Blick dann durch die riesige Empfangshalle des Krankenhauses schweifen.
„Ausgang...", sprach er dann leise zu sich selbst, schaute sich ein letztes Mal absichernd um, doch konnte erleichtert feststellen, dass weder das Fräulein Mori, noch das Blondchen ihm gefolgt waren, ehe er eiligen Schrittes in die Richtung ging, in welcher er den Ausgang vermutete.
Die gegenüberliegende Wand war durch eine Reihe langer Glasscheiben gesäumt, durch welche immer wieder vereinzelte Menschen in das Gebäude hinein, sowie auch hinaus gelangten.
Nietzsche trat näher, blieb dann plötzlich wie angewurzelt stehen, sowie er erkannte, dass die Türen sich, ganz ähnlich wie die Türen des Fahrstuhls, tatsächlich wie von selbst bewegten.
Für einen kurzen Augenblick war er wie paralysiert, starrte die sich zur Seite schiebenden und wenige Zeit später wieder zusammenfügenden, Glaswände aus weit aufgerissenen Augen an.
Hastig blickte er sich um, doch niemand der anderen Leute schien durch diese geisterhaften Scheiben irritiert, ganz im Gegenteil, gingen sie bloß vollkommen unbekümmert auf die Fenster zu, als wären sie sich dem Umstand, dass diese ihnen Durchlass gewähren würden, vollkommen sicher.
War so etwas denn normal?
War er etwas dermaßen lange im Endagin und an der französischen Küste versauert, dass er den Fortschritt der Welt verschlafen hatte?
Oder etwa... konnte es sein...
Mit einem Mal klopfte sein Herz schneller, als es das gewöhnlich tat und seine Beine fühlten sich gefährlich schwach an.
Doch auch, wenn ihm plötzlich ganz und gar nicht wohl war, bewegte er sich möglichst unauffällig auf die Scheiben zu, welche tatsächlich auch für ihn zur Seite hin Platz machten, sowie er näher kam.
Er erschauderte, zuckte dann kaum merklich zusammen, als ihm plötzlich kühle, frische Luft entgegen schlug.
Er atmete tief ein, dann aus und hatte den Eindruck dadurch würde sich sein Kreislauf zuletzt zumindest etwas beruhigen können.
Oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein...
Auf dem kleinen Plaza vor dem Krankenhaus herrschte reges Treiben.
Obwohl es in großen Schritten auf den Herbst zuzugehen schien, die Bäume verloren langsam ihre goldbraunen Blätter und auch die Luft war kühl und roch nach Winter... und nach Schmutz.
Schlimmer als Räucheröfen, aber diesen Gestank konnte er nicht zuordnen.
Welches Gas auch immer sich da in seine Nase verirrt hatte, es war sich kein der Gesundheit zukömmliches.
Nietzsche räusperte sich einmal, denn je mehr er darüber nachdachte, desto eher machte sich ein unangenehmes Kratzen in seinem Hals sowie am hinteren Teil seiner Kehle bemerkbar.
Eine kleine Gruppe Patienten, nicht weit von ihm, er erkannte sie an den Latschen, welche sie trugen, der losen Kleidung und den Infusionsständern, die sie mit sich führten, schaute auf und direkt in seine Richtung.
Nietzsche wand sich stumm zum gehen, auch wenn er kein genaues Ziel vor Augen hatte, immerhin kannte er sich in Berlin so gar nicht aus (vorausgesetzt der Annahme, dass er sich tatsächlich und wahrhaftig in Berlin befand und man ihn was das anging, nicht auch noch angelogen hatte - Was nicht unwahrscheinlich schien.)
Es war ein schöner herbstlicher Spätnachmittag.
Die Sonne stand tief und warf lange Schatten, trotz der kühlen Luft und dem lauen Lüftchen, welches bei Zeiten immer wieder durch die Baumkronen strich, war ihm nicht kalt, es war sehr angenehm.
Mildkalt war ihm ohnehin bloß rechtens, wenn dann auch noch trocken, dann versprach es meistens und mit etwas Glück ein Migräne freier Tag zu werden.
Die Menschen, um ihn herum, alle sonderbar gekleidet, flodderig, genau so wie der Mann im Aufzug und die Frauen.
Er blinzelte kurz irritiert, sah dann ein zweites Mal hin, immerhin waren seine Augen schon lange nicht mehr die besten, doch es bestand kein Zweifel: Die Frauen trugen Hosen!
Allesamt!
Enge Hosen, aus einem ihm unbekannten Material, irgendein Feststoff, aber was für einer, das konnte er beim besten Willen nicht sagen - Ja, war er denn ein Schneiderling?
Woher sollte er sowas denn auch kennen.
Vielmehr als das Material wunderte ihn aber die Form, der Schnitt, denn dieser war eng und lag an wie eine zweite Haut.
Etwas wundersam war es doch, dass sich die Damen dennoch so gut darin zu bewegen wussten.
Nietzsche ging weiter, den Plaza hinunter, gen Straße, auch wenn es ihn etwas vor diesen sonderlichen Blechbüchsen grauste.
Bei jedem Schritt, den er tat, zog sich sein Magen mehr und mehr zusammen, krampfte zuletzt richtig, so dass er, kurz bevor er den, an den Platz anknüpfenden Bürgersteig betreten konnte, noch einmal kurz inne zu halten hatte.
Er atmete tief ein, dann aus, doch trotz alle dem schien es ihm beinah, als würde die Luft auf halbem Wege stecken bleiben, irgendwo zwischen Kehlkopf und Luftröhre einhalten und plötzlich merkte er, dass er panisch wurde.
„Beruhig dich.", mahnte er sich selbst, das half etwas, allerdings doch bloß mäßig.
Es war eine bizarre Situation, die er für schwer erklärbar hielt und im Grunde war er auf seinen Lebtag um Erklärungen noch nie verlegen gewesen.
Letztlich fand man bei allem eine Ursache, die wiederum ein Ergebnis ihrer eigenen Mutter war.
Nichts passierte grundlos.
Offenbar hatte er einen Unfall gehabt, irgendwas in der Art musste vorgefallen sein, was Ätiologie seiner noch immer anhaltende Amnesie schien.
Den Umstand, wie er schließlich während seines Bewusstlosseins in eine ganz andere Stadt gelangt war, konnte er sich bislang noch nicht so genau erklären, denn eines war sicher: Das hier war nicht Italien.
Er war zurück auf deutschem Boden, zumindest dabei schien das Blondchen recht behalten zu haben.
„Dafür wird es eine Erklärung geben.", sprach er sich selber Mut zu und tatsächlich beruhigte er sich langsam, wenn auch sein Herz noch immer schnell pochte und seine äußeren Gliedmaßen sich schwach anfühlen und er am ganzen Leibe zitterte.
Er ging weiter und auf dem Weg, die Straße entlang, die dich befahren war, von schnell an ihm vorbei blitzenden Hippomobilen (sofern diese Bezeichnung denn die adäquate war).
Auf seinem Weg kamen ihm noch mehr dieser sonderlichen Gestalten unter und tatsächlich, jetzt wo er es sich näher betrachtete, musste er feststellen, dass nicht wenige von ihnen tatsächlich bunte Haare besaßen!
Pink, blau, rot - Beinah alle Farben der Unnatürlichkeit waren vertreten und dabei trugen sie allesamt seltsame Kleidung, wo er sich doch ernsthaft fragte, wo man solche Stücke denn erwerben konnte und vor allem warum man dies tun sollte.
Hatten diese Leute Geld dafür ausgegeben?
Vor allem die Frauenmode Utopias irritierte ihn, nicht nur, dass die Damen enge Hosen trugen, sondern obendrein auch noch äußerst aufreizende Obergewänder, die sowohl Schultern, Arme, als auch den Ansatz ihres Busens offen legten.
Ihm war es beinah etwas peinlich hinzusehen.
Diese Damenschaft schien ihm sonderbar, nicht nur, dass sie sich oben rum kaum bedeckte, stellenweise waren ihre Oberteile so kurz, dass sie den halben, oder beinah gesamten Bauch freilegten.
Das sah bei manchen hübsch aus, bei manchen weniger.
Aber ungeachtet dessen befand er für sich, dass es sich nicht ziemte hinzuschauen und so zwang er sich den Blick abzuwenden.
Die meisten beachteten ihn gar nicht weiter, sie alle schienen abgelenkt, meistens schien ihr Fokus auf ein kleines, viereckiges... er konnte nicht sagen was es war... es wirkte wie ein viereckiges kleines Plättchen, dass sich in ihrer Hand befand.
Beinah alle trugen sie so eines mit sich und beinah alle hatten den Blick darauf gesenkt und schienen von ihrer Umwelt abgenabelt.
Nur wenige warfen ihm ab und an den ein oder anderen verstohlenen Blick zu, zogen dann kritisch die Brauen zusammen, ehe sie ihn genauer inspizierten.
Er gab nicht viel darauf, wunderte sich aber dennoch über diese penetrante Musterung und fragte sich allen ernstes, womit er es verdient hatte bei diesen letzten Menschen aufzuwachen.
„Komisches Volk.", raunte er zu sich selbst, wendete sich dann zum gehen, von einer Versammlung dieser seltsamen Gestalten, nicht weit von ihm.
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