Kapitel 2
„Nietzsche?"
Er nickte.
Hatte er sich unverständlich ausgedrückt?
Nun, der Name ging offenbar auf seine Abstammung von polnischen Edelsleuten zurück und ihn täte es nicht wundern, wenn dieses einfältige Frauenzimmer ihn nicht einmal würde ausschreiben können.
Er konnte nicht genau sagen was es war, aber diese ruppige Art und generell das beinah schon maskuline, bäuerliche Auftreten waren dermaßen undamenhaft, dass er dem Blondchen absolut nichts abgewinnen konnte.
Doch er zwang sich zur Ruhe, so wie er es meistens tat.
„Nietzsche... Friedrich. Wie der Philosoph?", wollte die Schwester dann wissen, was ihn kurz misstrauisch die Brauen zusammen ziehen ließ.
„Ihnen ist mein Werk bekannt?" Konnte er sich den Kommentar dann dennoch nicht verkneifen.
Hatte man sowas schon gehört?
Eine einfache Schwester, die aber offenbar philosophisch belesen war, mehr noch, sogar bereits über seine eigenen Lektüre unterrichtet.
Zugegeben, er war noch nicht ganz sicher, ob er dies als Kompliment, oder Anmaßung aufzufassen hatte.
„Nietzsches? Sicher."
Überrascht zog Nietzsche die Brauen hoch, setzte sich dann schließlich in eine etwas aufrechtere Position.
Es war ihm immer eine Freude auf Leser seiner Bücher zu treffen, auch wenn er argen Zweifel daran hegte, dass dieses Weibchen die hinreichende Auffassungsgabe verfügte, aus seinen Aphorismen die nötigen Konklusionen zu ziehen.
„Nun...", begann er also mit etwas belegter Stimme zu sprechen, „Es freut mich außerordentlich, dass Sie sich für meine Bücher interessieren. Darf ich fragen, welches meiner Werke Sie gelesen haben?"
Kurz herrschte Schweigen und ganz schlau wurde er aus dem misstrauischem Blick, mit welchem er nun gemustert wurde nicht.
In der Regel waren die Damen, mit denen er gewohnheitsmäßig verkehrte, dann doch etwas zurückhaltender.
Eine Ausnahme war mit Sicherheit Lou gewesen, aber diese Ära war bereits vor einiger Zeit zu Ende gegangen.
„Ihre Werke?", wiederholte das Blondchen dann, worauf Nietzsche nickte.
„Professor Friedrich Wilhelm Nietzsche. Vorgestellt hatte ich mich doch soeben.", erinnerte er sie, worauf sie nickte, sonst allerdings nichts weiter sagte.
„Und es ist mir immer wieder eine große Freude mit meinen Lesern Bekanntschaft zu machen."
Kurz musterte er das Frauenzimmer eingehend, studierte mit seinem Blick die etwas zusammengesunkene Haltung, das kurze, hellblonde Haar, die unförmige, unvorteilhaft geschnittene grüne Uniform, sowie das Klemmbrett, welches die Dame mit ihren beiden Händen nun umklammerte.
„Entschuldigen Sie...", murmelte die Frau dann schließlich, schien zum ersten Mal etwas weniger dominant in ihrem Umgang, er hätte beinah gesagt etwas irritiert.
Ja, war sie denn womöglich solch eine große Anhängerin seiner Philosophie, dass es sie dermaßen überrumpelte?
„Entschuldigen Sie, Sie sagen, Sie sind Professor Friedrich Nietzsche, der weltbekannte Philosoph?" , fragte sie schließlich und diesmal war er derjenige, der für einen Augenblick verwirrt blieb.
Weltbekannt?
Der eigentlich zu erwarten gewesene Ruhm war dann bislang doch etwas geringer ausgefallen, als er angenommen hatte, aber das hatte er auf die Umstände geschoben.
Die Menschen waren einfach noch nicht bereit, seinen Gedanken zu folgen, die ihrer Zeit doch sehr weit voraus waren.
Seine Jünger waren noch nicht geboren, immerhin war sein Schreiben an den Posthumanen adressiert.
In diesem Zuge stellte er sich erneut die Frage, wie lange er geschlafen hatte.
„Welches Datum haben wir?", fragte er schließlich, noch bevor die Krankendame erneut den Mund öffnen konnte.
Sie hatte doch eine recht lästige Stimme und er wunderte sich, wann er endlich einen richtigen Arzt zu sprechen bekommen würde.
„Nun, wir haben..." Kurz hob das Blondchen seinen Arm, warf einen flüchtigen Blick auf die daran hängende Uhr, als würde das Ziffernblatt ihr das aktuelle Datum verraten können und schaute dann wieder zu dem im Bett liegenden Nietzsche, „Wir haben den 14.09.2019."
Kurz herrschte Schweigen und für einen unheimlichen Moment, in dem beide sich bloß gegenseitig in die Augen schauten, war nichts weiter zu hören, als das rege Treiben, welches draußen vor der Tür, auf dem Flur zu herrschen schien, doch selbst der bunte Tumult schien mit einem Male seltsam weit entfernt.
Das Frauenzimmer schlug einmal mit den Augen auf, ohne sonst ein Körperglied zu rühren, offensichtlich erwartete sie eine Antwort seitens Nietzsche.
Dieser wiederum versuchte abzuwägen, ob die Dame sich soeben einen sehr unpassenden Scherz erlaubt hatte, oder ob sie nicht womöglich eher ins Krankenbett gehörte, als er es in diesem Moment tat.
„Wissen Sie,...", begann er dann und musste sich bemühen, dass sein Unmut sich nicht durch seiner Tonlage verriet.
Was bildete dieses Weibsbild sich denn ein?
Nun war wirklich nicht die rechte Zeit für Witzelein!
„Ich kann mich nur schwer erinnern, was vor meinem Unfall war, um ehrlich zu sein, habe ich kaum Erinnerungen daran, wie ich hierher gekommen bin, von daher würde ich es begrüßen, wenn Sie mir ehrliche Antwort geben und mir das tatsächliche, aktuelle Datum verraten würden."
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, doch noch immer starte das Blondchen ihn an, als wäre er einer der drei Gorgonen.
„Das habe ich.", begann sie dann nach einem weiteren kurzen Moment der Stille und klang erstmalig wirklich unsicher.
Nietzsche war verwirrt.
Mit ihrem Verhalten wusste er nichts anzufangen, geschweige denn, dass er es hätte einordnen können.
Mal ganz davon abgesehen, dass er inzwischen tatsächlich langsam die Geduld verlor, wo war denn dieser Herr Doktor Asbeck, den die kleine Schwarzhaarige hatte herzitieren sollen?
„Heute ist der 14.09.2019."
„Nun machen Sie sich nicht über mich lustig.", mahnte er sie strengen Tones, „Ich bin derweil wirklich nicht zum Scherzen aufgelegt."
„Ich mache mich nicht lustig...", begann sie, warf einen flüchtigen Blick auf das Klemmbrett in ihrer Hand, schaute dann zurück zu ihm.
Nietzsche schnaubte ungeduldig.
Machte das Weib dies denn extra? Oder war sie womöglich einfach nicht ganz klar im Kopf?
Wie nannte sich dieses neuartige Phänomen noch gleich, was letztlich in aller Munde war?
Hysterie.
Er erinnerte sich daran, dass Rée und Lou an einem Abend darüber diskutiert hatten, doch für ihn war die Hysterie weniger eine Krankheit, als mehr eine Geistesschwäche.
Rée und Lou hatten das beide als anstößig empfunden, es allerdings überspielt, aber er hatte es dennoch bemerkt.
Er atmete einmal tief ein, sich zu beruhigen, ehe er merkte, dass er seinen Kiefer ziemlich verspannt hatte, während sich die Erinnerungen bildhaft vor sein inneres Auge geschlichen hatten.
„Herr Nietzsche?"
Er hob den Blick, hatte beinah ganz vergessen, dass er sich ja nach wie vor im Gespräch mit dem hysterischen (ja, man würde es wohl so nennen können) Blondchen befand.
„Professor Nietzsche.", erinnerte er sie an seinen Titel, hob dann eine Braue nach oben und musterte sie abwartend.
Die Dame nickte, wich seinem prüfenden Blick dann aus, ehe sie sich einmal räusperte.
„Herr Professor Nietzsche... entschuldigen Sie mich bitte einen Moment."
Und mit diesen Worten war sie auch bereits aus der Tür hinaus.
Nietzsche warf ihr einen kritischen Blick hinterher.
Was für eine irritierte kleine Person diese Damenschaft war.
Blieb nur zu hoffen, dass der Doktor sich etwas mehr beisammen hatte, vielleicht täte man gut daran ihn darüber zu unterrichten, dass eine seiner Pflegerinnen glaubte sie schrieben das Jahr... welches war es gewesen... 2019?
„So!"
Er zuckte inständig zusammen, als die Tür zu seinem Zimmer plötzlich mit Schwung geöffnet wurde und auf der Schwelle ein großgewachsener Mann mit Halbglatze und dünnem grauen Haar stand. Neben einer Brille mit dicken Gläsern trug er einen langen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals.
Nietzsche atmete innerlich auf.
Endlich würde er mit jemandem sprechen können, der sich etwas mehr im Griff hatte als diese neunmalkluge Weibchen.
Er fragte sich doch ernsthaft, wie und unter welchen Umständen solche Leute mit Philosophie in Berührung kamen, vor allem aber mit seiner.
„Professor Nietzsche.", grüßte der Doktor ihn, worauf Nietzsche schwach nickte, „Freut mich, dass Sie wach sind, mein Name ist Doktor Asbeck. Ich werde kurz ein paar Dinge überprüfen, dann würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wären Sie damit einverstanden?"
Erneut nickte Nietzsche, stemmte sich dann von der Matratze hoch, so dass der Doktor ihn abhorchen konnte, seine Pupillenreaktion und weitere Körperfunktionen überprüfen konnte.
„Reflexe soweit in Ordnung... sehen Sie schlecht?" , wollte der Doktor dann wissen, worauf Nietzsche zustimmend brummte.
„Vor allem morgens, oder nach längerem Lesen.", erklärte er, worauf Herr Asbeck nickte.
„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht sich einer Laseroperation zu unterziehen?"
„Bitte was?"
Doch Herr Asbeck schüttelte bloß den Kopf, beugte sich dann wieder hoch und warf den beiden Krankenschwestern, der hysterischen Blonden, sowie der jungen Schwarzhaarigen einen Blick zu, welchen Nietzsche nicht ganz deuten konnte.
„Erstmal keine Auffälligkeiten, ich würde Sie bitten dennoch kurz unten in der Radiologie anzurufen, ob wir ihn nicht vielleicht dazwischen schieben können."
Radiologie?
Nietzsche zog misstrauisch die Brauen zusammen und sein kritischer Blick huschte zwischen den Schwestern, sowie dem Doktor hin und her.
Was bei allem in der Welt war eine Radiologie?
Kurz überlegte er, rief sich seine philologische Herkunft in Erinnerung, eher er versuchte aus den Wortbausteinen schlau zu werden.
Radio womöglich von radius, also Strahl und „logie"?
Ziemlich sicher abgeleitet vom Logos.
Lehre der Strahlen? Wissenschaft der Strahlen?
Doch auch das schien für ihn nur wenig Sinn gebend.
„Soweit so gut, Herr Nietzsche, ich würde Ihnen gerne dann noch einmal Blut abnehmen lassen, vor allem um den CRP-Wert zu überprüfen, die letzten Werterhebung fiel eher weniger gut aus."
„Bitte, Sie sind der Arzt.", brummte Nietzsche ungeduldig.
Was auch immer ein CRP-Wert sein sollte - Vielleicht fühlte dieser sonderbare Arzt sich überlegen indem er ihn selbst durch die Verwendung spezifischer Termini in die Position des Nachfragenden drängte.
Aber bestimmt nicht mit ihm!
„Sehr gut,...", entgegnete der Doktor, nickte dann den beiden Schwestern kurz zu, woraufhin die Blonde kurzerhand aus dem Raum verschwand, was Nietzsche selbst allerdings nur begrüßte.
„Können Sie mir vielleicht sagen, woran Sie sich erinnern können?", wand der Doktor sich dann erneut dem Philosophen zu, welcher nur unglücklich das Gesicht vollzog.
Wenn er das könnte, dann hätte er bei Dionysus weit aus weniger Probleme, doch noch immer war das Einzige woran er sich erinnern mochte der Piazza San Carlo in Turin und an ein Pferd.
Nietzsche schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich.", gab er dann schließlich zu, ehe er kurz überlegt, „Ich hatte gehofft, Sie hätten mir genauere Auskunft bezüglich der Umstände meiner Einlieferung geben können, Herr Doktor Asbeck."
Der Doktor schnaubte nur einmal amüsiert, schüttelte dann den Kopf: „Ich wünschte wirklich, das könnte ich tun. Sie sind bewusstlos auf dem Gehweg liegend aufgefunden worden, Passanten haben den Rettungsdienst gerufen. Das war vor drei Tagen."
Urplötzlich weiteten sich Nietzsches Augen ein Stück und entgeistert starrte er den Doktor an, warf dann einen flüchtigen Blick auf das verschreckte, schwarzhaarige Frauenzimmer, doch dieses schien mit der Situation maßlos überfordert und hielt sich demnach bedeckt.
„Drei Tage?", wiederholte er dann noch einmal, worauf der Doktor nickte.
„Können Sie sich erinnern, was zu ihrem Zusammenbruch geführt haben könnte, oder was Sie kurz davor gemacht haben. Wohin Sie unterwegs gewesen waren?"
Erneut schüttelte Nietzsche den Kopf, seufzte dann einmal und er hatte den Eindruck es würde sich langzeitig noch negativ auf seine Migräne auswirken, in diesem vulnerablen Zustand, in welchem er sich zwischenzeitlich nun einmal befand.
„Ich habe einige Tage in Turin pensioniert, im Winter pflege ich die Tage meist in subtropischen Zonen zu verbringen, meiner Krankheit wegen. Ich pflege seit je her nach der morgendlichen Nahrungsaufnahme einen Spaziergang zu tätigen, das belebt Körper und Sinne, vermutlich hatte ich kein tatsächliches Ziel vor meinem geistigen Auge und habe mich einfach von der italienischen Architektur leiten lassen, welche mich zum Piazza San Carlo führte."
Das Gesagte noch einmal unterstreichend nickte Nietzsche zwei Mal, ehe er das Wort breitwillig an den Doktor zurück übergab, welcher es allerdings nicht ergriff, stattdessen schwieg.
Tatsächlich wirkte er, als würde er angestrengt nachdenken, ehe er einmal tief einatmete, dann Nietzsche eingehend musterte.
„Turin, sagen Sie? Also haben Sie sich zuletzt in Italien befunden?"
Nietzsche zog kritisch die Brauen zusammen, nickte dann jedoch, denn ganz sicher, worauf Herr Asbeck hinaus wollte war er sich nicht.
„In der Tat, das habe ich. Wie gesagt, ich ziehe es vor während der Wintertage in warmen Gebieten zu hospitieren. Hospitieren nicht im eigentlichen Sinne, ich verstehe meine Wenigkeit als freien Philosophen und damit Menschen.", erklärte er sich dann und erstmalig warf der Arzt einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück, gen der schwarzhaarigen Schwester, welche deutlich verwundert schien.
Nietzsche hingegen fragte sich, wie man es sich als Mediziner erlauben konnte dermaßen viele geistig Verwirrte zu beschäftigen.
Einen guten Eindruck machte das nicht, zumindest nicht auf ihn, der aus Armeezeiten noch Zunft und Ordnung gewohnt war und diese auch durchaus schätzte.
„Professor Nietzsche...", begann Herr Asbeck dann schließlich und klang beinah etwas zu sanft, so empfand der Professor es „Wissen Sie denn, wo Sie sich aktuell befinden?"
„Ganz offensichtlich im Krankenhaus." Nietzsche musste sich beherrschen nicht unwirsch zu klingen, aber ihn nach solchen Trivialfakten zu fragen schien ihm angesichts seines Geisteszustandes doch etwas verfehlt.
Herr Asbeck nickte, schien dann kurz nachzudenken, ehe er die großen Hände stumm seufzend in den Taschen seines Kittels verschwinden ließ und sich schließlich mit dem Unterkörper leicht gegen den unteren Bettrand sinken ließ.
„Momentan befinden Sie sich im Franziskus-Krankenhaus in Berlin in Deutschland.", eröffnete er Nietzsche dann.
„Berlin?", wiederholte Letzterer irritiert, fuhr sich dann einmal mit der flachen Hand nervös durch die hellbraunen Haare, schüttelte dann den Kopf, „Berlin, das kann nicht sein..."
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