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Ich war kein Lügner. Ich war der festen Überzeugung, dass mein Vater nicht immer alles wissen musste, aber wenn er danach fragte log ich ihn nie an. Bis jetzt hatte ich auch nicht wirklich etwas angestellt, nichts wofür man Ärger bekommen konnte. Doch heute war ich mir bewusst, dass ich, wenn ich ihm die Wahrheit über den Verbleib meiner Schultasche sagen würde, nicht bloß mit einer kleinen Moralpredigt davonkommen würde. Meine Argumente waren nutzlos, er war irrational, wenn es um das Thema Mitfahren bei Fremden ging. Er wollte ja noch nicht einmal, dass ich bei Tante Maja mitfuhr. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich klatschnass nach Hause gelaufen wäre, das wusste ich. Doch trotz allem war ich kein Lügner.
„Ich hab' sie vergessen.", antwortete ich leise. Das war keine Lüge.
„Okay.", seufzte Paps bloß und kickte seine Schuhe in die Ecke, „dann bis heute Abend.".
Erleichtert, dass er nicht nachgefragt hatte, griff ich nach dem Regenschirm neben der Tür und schlüpfte hinaus in das kalte graue Nass. Der Wind pfiff und ich zog den Kopf ein als ich den Weg zur Brücke hinunter stapfte. Ich würde definitiv klatschnass sein, bis ich in der Schule ankam. Meinen eigenen Stolz verfluchend bemerkte ich den schwarzen Audi, der am Gehweg parkte zuerst gar nicht. Erst als ich direkt davor stand hob ich den Kopf. Langsam öffnete sich das Fenster auf der Beifahrerseite. „Sieht ungemütlich aus.", begrüßte mich Wes grinsend.
„Man darf nicht am Gehweg parken!", antwortete ich perplex und deutete auf sein Auto.
„Ich halte ja nur kurz um einer Freundin in Nöten zu helfen.".
„Wir sind keine Freunde!", murmelte ich. Im Inneren des Autos sah es warm und gemütlich aus.
Er lachte laut und schüttelte ungläubig den Kopf. „Entschuldige bitte diese frevelhafte Behauptung Sophie!".
„Hast du meine Schultasche?", fragte ich und ging näher an den Wagen heran.
Er griff hinter sich und zog meinen Rucksack von der Rückbank.
„Soll ich dich mitnehmen?", sein Blick wurde weich und er deutete auf mich, „bei dem Wetter kannst du doch unmöglich zu Fuß gehen, da wirst du noch krank!".
Ich kaute angestrengt auf meiner Lippe herum und sah mich gehetzt um. Das Gestern war eine Ausnahme gewesen, das hatte ich mir fest versprochen. Doch das Wetter war wirklich unangenehm. Normalerweise fuhr Paps mich zur Schule, wenn es so ungemütlich war. Und es interessierte ihn ja anscheinend sowieso nicht wie ich unterwegs war. Er hatte gestern einfach auf mich vergessen und mich heute einfach ziehen lassen. Wut kochte auf in mir und bevor ich mich anders entscheiden konnte, hatte ich bereits den Türgriff in der Hand.
Das Auto war, wie erwartet, warm und gemütlich. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke und zog meinen Rucksack auf meinen Schoß.
„Danke.", murmelte ich und grinste Wes schief an.
„Gerne.", antwortete er mit rauer Stimme.
„Sophie?", fragte er wenige Augenblicke später.
„Ja?", ich setzte mich auf und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich hab' deinen Rucksack geöffnet.", er sog seine Oberlippe zwischen seine Zähne und schob die Unterlippe vor. Mit großen Augen warf er mir einen Dackelblick zu, den er eindeutig nicht zum ersten Ma benutzte um jemanden zu besänftigen.
Im Rucksack war die Zusammenfassung die ich für ihn gemacht hatte. Ich hatte seinen Namen auf den Umschlag der Mappe geschrieben. Was ohne Erklärung wahrscheinlich so aussehen musste, als ich hätte ich seinen Namen auf meine Schulsachen gekritzelt. Wie peinlich.
„Ich...", meine Wangen brannten und ich sah zu wie er sichtlich nervös wurde.
„Ich hab bloß eine Mitschrift zu viel ausgedruckt, die war eigentlich für Tristan, damit ich nicht mit ihm reden muss und dann hab' ich mir gedacht ich geb' die andere dir.". Mein Herz klopfte wie wild gegen meine Rippen, fast so als wollte aus rausspringen und davon laufen um sich dieser unfassbar peinlichen Situation nicht stellen zu müssen.
Ruckartig ließ Wes seine Oberlippe frei und sein Mund stand vor Überraschung leicht geöffnet. Ich zupfte nervös an meiner Jacke und sah auf meine Schuhe.
Da begann er laut zu lachen. Nun war ich diejenige die überrascht drein blickte.
„Du willst nicht mit Tristan reden?", japste er und warf mir einen ungläubigen Blick zu, „Du bist so ein seltsames Mädchen, Sophie.".
Wieder war die Art wie er es sagte nicht gemein, sondern irgendwie liebevoll. Erleichtert lachte ich auf und nickte.
Als wir am Schulparkplatz anhielten, wurde ich nervös. Eine Gruppe Schüler, darunter die Jungs aus dem Schwimmteam und ein paar Mädchen die ich nur vom Sehen her kannte, standen nicht weit entfernt um einen großen SUV herum. Alle hielten Coffe-to-go Becher in den Händen und lachten gerade über etwas was einer der Jungs erzählte.
Wes bemerkte wohl meine Stimmungsschwankung und lächelte mich aufmunternd an. „Die sind alle netter als du denkst, auch Tristan.", er grinste amüsiert und zwinkerte mir zu, „Na los, jetzt komm schon Sophie, wir können nicht den ganzen Tag in meinem Auto verbringen, wir haben gleich Geschichte.".
Ich seufzte und nickte ihm zu. Als ich ausstieg, hielt ich meinen Rucksack umklammert und starrte auf meine Füße. „Danke für's Mitnehmen.", presste ich hervor, „bis gleich.", und mit diesen Worten marschierte ich an der Gruppe vorbei die ihr Gelächter unterbrochen hatten und Wes und mich anstarrten.
„Was? Aber... Sophie!", rief Wes mir verdutzt hinterher, „Du..Komm zurück!".
Aber ich ignorierte ihn und steckte meine zitternden Hände in die Taschen, während ich davoneilte. Ich konnte mich nicht von einer Menge Fremder begutachten lassen. Ich wollte keine Späße auf meine Kosten hören, nicht von den Mädchen still beurteilt werden und auch keine unangenehmen Fragen gestellt bekommen. Mir war schlecht vor Aufregung und als ich endlich bei Linda und Kai ankam, hätte ich am liebsten losgeheult.
„Was ist denn mit dir passiert?", begrüßte Kai mich und reichte mir selbstverständlich einen der Smoothies, der heute eine sehr eigentümliche Violette Farbe aufwies. „Rote Beete, Blaubeer, Sauerkraut.", seufzte Linda.
Ich erzählte ihnen am Weg hinein die Ereignisse der letzten 7 Stunden. Beide starrten mich mit offenem Mund an und Kai schüttelte seinen Kopf. „Der Junge steht auf dich!", seufzte er theatralisch.
„Und du hast ihn abblitzen lassen,", lachte Linda, „schon zweimal!".
Ich verdrehte genervt die Augen, „Der kennt mich doch gar nicht!", brummte ich.
„Na und? Aber du interessierst dich nicht für ihn und das ist ein Typ wie er eher nicht gewohnt.", erklärte Kai nachdrücklich.
„So etwas macht dich für ihn ja erst richtig interessant.", bekräftigte Linda seine Behauptung.
„Ihr spinnt. Alle beide.", genervt marschierte ich zu meinem Spint und ignorierte die Protestrufe der Geschwister.
Doch als ich in der Mitte des Ganges war, sah ich ihn bereits gegen die Wand gelehnt auf mich warten. Frustriert stöhnte ich auf. Wieso konnte mich denn eigentlich plötzlich niemand in Ruhe lassen?
Ich trottete missmutig auf ihn zu.
„Sag mal,", begann er ohne Umschweife loszuplappern, „Habe ich dir eigentlich irgendwas getan?". Er wirkte angespannt, irgendwie sauer.
„Nein!", antwortete ich knapp.
„Wieso verhältst du dich dann so?", kam die Gegenfrage spitz.
„Wie denn?", ich blickte ihn nicht an und öffnete meinen Spint um meine Jacke hineinzuhängen.
„Sobald wir nicht alleine sind, läufst du vor mir davon!".
„Ich laufe vor gar nichts davon!", knurrte ich und knallte die Tür zu.
„Und ob du das tust! Ich versteh dich einfach nicht. Ich bin nett zu dir und du benimmst dich, als würde ich dich beleidigen!".
Ich vermied weiterhin seinen Blick: „Du kennst mich nicht Wes.", ich flüsterte beinahe als ich es sagte.
„Und wieso lässt du mich das nicht ändern?", der verzweifelte Ton in seiner Stimme ließ mich gequält aufblicken.
Das was ich jetzt sagte, fühlte sich an wie Säure in meinem Mund. Ich meinte es nicht so, aber ich musste es, um meiner eigenen Sicherheit zu Liebe, vor seine Füße spucken.
„Weil du nichts als Ärger machst!".
Er sog getroffen die Luft ein und musterte mich abschätzend: „Lieber das als ein langweiliges Streberleben hinter Gittern!", schoss er zurück und traf damit gezielt meine wunde Stelle.
„Das muss ich mir wirklich nicht geben.", zischte ich und rannte davon in Richtung Unterricht. Dieses Mal rief er mir nicht hinterher. Er ließ sogar die Stunde ausfallen, schwänzte einfach und ließ mich, mit schlechtem Gewissen und Wut im Bauch, verwirrt und verletzt alleine zurück. Alleine mit Tristan, der anscheinend schon darauf brannte mich eine ganze Stunde lang mit seinen aufdringlichen Fragen zur Weißglut zu treiben.
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