Teil 37
Jack
Da es nur eine Frage der Zeit ist, bis Alexander seinem Schlafbedürfnis nachgibt, tue ich so als wenn ich ihn vollkommen ignoriere.
Ihm scheint das allerdings herzlich wenig zu interessieren, da er in seinen Gedanken abschweift und geistig gar nicht mehr anwesend zu sein scheint.
Mir war klar, dass er völlig fertig sein muss, aber dass seine Reizbarkeit immer noch so hoch ist und dieses bockige Verhalten sich zunehmend steigert, stimmt mich nicht gerade positiv.
Ein Punkt, der mich ebenfalls seit geraumer Zeit beschäftigt, ist dieses Mädchen.
Im Normalfall meiden Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen triggernde Situationen, Orte oder Personen.
Doch Alexander klammert sich fast schon an dieses Kind fest, das selbst so verloren zu sein scheint.
Ich verstehe noch nicht ganz, ob er hofft, sich durch die Rettung dieses Kindes selbst zu retten oder was ihn genau zu diesem penetranten Verhalten bewegt.
Vielleicht denkt er auch, er könne seinen Fehler, den er bei seiner Schwester seiner Meinung nach getan hat, wieder gut machen.
Nachdem ich meinen Tee soweit fertiggestellt habe, schnappe ich mir meine Tasse und wende mich wieder meinem Kumpel zu.
Mit gegen die Küchenzeile gelehnten Körper, sehe ich dabei zu, wie ihm immer wieder die Augen zufallen und er mit aller Gewalt versucht dagegen anzukämpfen.
Höchstens noch zwei Minuten...
Man kann regelrecht zusehen, wie sein Körper in die Ruhephase umswitcht.
Seine Schultern verlieren an Spannung und senken sich leicht ab.
Seine verschränkten Arme gleiten langsam Bauch Abwärts und liegen einige Sekunden später locker auf seinen Oberschenkeln.
Des Weiteren entspannen sich nach und nach seine Gesichtszüge, während sein Kopf eine leichte Neigung nach links einschlägt.
Nachdem sein linkes Bein kurz gezuckt hat, bin ich mir vollkommen sicher, dass er jetzt schläft.
Dieses Geheimnis hat mir Phil anvertraut, da die Jungs in der WG fast jede Eigenschaft und Macke voneinander kennen und manche Indikatoren somit für meine Arbeit ziemlich nützlich sind.
Wenn auch nur, wie in diesem Fall, um genau zu wissen, ob er auch wirklich schläft.
Somit mache ich mich auf den Weg zum Sofa und notiere für mich selbst die ersten Schritte:
Phase 1: Stabilisierungsphase
• sichere Umgebung schaffen ✔️
• Entspannungsübungen
- Autogenes Training
- Progressive Muskelrelaxation
- Hypnose
Bei den Gedanken an die Entspannungsübungen atme ich jetzt schon schwer auf.
Das letzte Mal haben wir Tage dafür gebraucht, bis er sich auf diese Dinge eingelassen hat.
Alexander hat es nicht zulassen wollen und immer behauptet, das er sich damit lächerlich fühlt.
Allerdings weiß ich ganz genau, das er nur Angst hat, die Kontrolle zu verlieren.
Durch die ständige Anspannung schränkt er seinen Körper und auch seinen Geist in gewisser Weise ein und zwingt ihn somit auf sich zu hören.
So gaukelt er sich vor, seinen Körper unter Kontrolle zu haben.
Ein leises Brummen erregt meine Aufmerksamkeit.
Ich lege meinen Stift beiseite und werfe einen Blick auf Alexander.
Der hat sein Gesicht in alle Richtungen verzogen und weist eine leicht glänzende Stirn auf.
Mit einem Ruck erhebe ich mich vom Sofa und laufe auf den Schlafenden zu.
Da diese Position absolut unmöglich für einen erholsamen Schlaf ist, packe ich den Herrn an den Füßen und ziehe ihn ein kleines Stück weiter nach unten.
Die unsanfte Landung bekommt er gar nicht richtig mit, sondern rollt sich sofort auf die Seite und nimmt die Embryostellung ein.
Kurz nachdem ich mich neben ihn auf die Matratze gesetzt habe, wird er zunehmend unruhiger, was sich auch in seiner Atmung widerspiegelt.
Das erneute Aufbrummen lässt mich erahnen, dass er in seinen Träumen stark zu kämpfen hat.
Nach einer erneuten Drehung liegt Alexander auf dem Rücken und gibt mir nun freie Sicht auf sein glänzendes Gesicht.
Vorsichtig wische ich ihm über die Stirn und stelle fest, dass er kaltschweißig ist.
Mit einem plötzlichen Ruck, der von einem erschreckten Laut begleitet wird, sitzt er kerzengerade neben mir und starrt mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin.
Solch ein Pavor Nocturnus, auch Nachtschreck genannt, tritt gerne bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung auf und es wundert mich daher auch nicht, dass mein Freund das durchlebt.
Meine Hand gleitet ein paar Mal über Alexander's Rücken, damit ihm bewusst wird, dass er nicht alleine ist.
Das Ansprechen vermeide ich absichtlich, da er eh gleich wieder weiter schlafen und sich an nichts erinnern wird.
Nachdem er sich ein paar Mal hektisch umgesehen hat, fallen ihm wieder die Augen zu.
Meine linke Hand fasst als Stütze in seinen Nacken und meine rechte schiebt seinen Oberkörper sanft in eine liegende Position zurück.
Nachdem ich ihn noch ein paar Minuten beobachtet habe und mir dann sicher bin, dass er jetzt in einen friedlichen Schlaf verfallen ist, widme ich mich wieder meiner weiteren Therapieplanung.
Phase 2: Traumaaufarbeitung
• SUD*
• "sicherer Ort"
• Traumakonfrontation
Die dritte Phase wird einige Zeit auf sich warten lassen und deshalb werde ich mich mit dieser erst auseinandersetzen, wenn sich Phase zwei dem Ende nähert.
Thalia
Völlig verkatert öffne ich halbwegs meine Augen.
Mein Kopf schmerzt fürchterlich und fühlt sich an, als wenn er jeden Augenblick explodieren würde.
Auf der Suche nach einem passenden Versteck habe ich den Rest der Jacky-Flasche in mich reingeleert.
Ich konnte die Gedanken an Marc nicht mehr ertragen und die Angst vor den drei Jungs hat mir ebenfalls zu schaffen gemacht.
Eigentlich sollte ich zurück auf das Internat, dort wäre ich zumindest sicher vor einem überraschenden Übergriff dieser gruseligen Typen.
Allerdings sehe ich keinen Sinn darin.
Ich habe alles verloren, was mir jemals wichtig war und weiß nicht mehr, wofür sich das Kämpfen noch lohnen soll.
Als ich mich genauer umschaue, sehe ich, dass ich am Rheinufer gelandet bin.
In meinem Vollrausch habe ich mich anscheinend unter die Sitzbank gezwängt und mir eingebildet, dass mich so niemand finden kann.
Ein Wunder, dass ich nicht direkt in den Rhein gesprungen bin, um mich unter Wasser zu verstecken.
Eventuell hätte mir das einiges erspart und ich hätte endlich wieder mit Marc vereint sein können.
Um diesen Schritt jedoch bei vollem Bewusstsein durchzuführen, fehlt mir schlichtweg der Mut.
Die Leute, die an mir vorbeilaufen, werfen mir einen mitleidigen Blick zu oder rümpfen die Nase.
Ich bin nicht böse darüber, denn gerettet werden will ich nicht.
Es gibt keine Hoffnung mehr für mich, in meiner grauen Welt.
Als ich versuche, mich aufzurichten, befördert sich ein Schwall Mageninhalt meine Speiseröhre hinauf.
Mein kompletter Körper wird mit einer Gänsehaut überzogen und das darauffolgende Schütteln verschafft mir eine Karussellfahrt der Extraklasse.
Stöhnend lasse ich mich wieder auf den kalten und feuchten Boden nieder und beobachte die Schiffe, die auf dem Rhein an mir vorüberziehen.
Als die Menschenmassen langsam zunehmen, beschließe ich endlich mich aus dem Staub zu machen, bevor irgendein Gutmensch noch auf die Idee kommt, einen Krankenwagen oder gar die Polizei zu rufen.
Mit der größten Selbstbeherrschung, die ich jemals aufbringen musste, krieche ich unter der Bank hervor und stelle mich im Zeitlupentempo auf die Füße.
Die Ausläufer des Alkohols sind immer noch zu spüren und auch die Schmerzen, meiner Verletzungen, erinnern mich immer wieder an ihr Dasein.
Mein unsicherer, torkelnder Gang lässt sich kaum unterdrücken und wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, wird bald ein Leichenbestatter mit einem Sarg hier anrollen.
Kaum habe ich das Rheinufer verlassen, kommt mir ein Streifenwagen entgegen.
Ich ziehe die Mütze meines Hoodie weiter in mein Gesicht und konzentriere mich auf meine Schritte.
"Entschuldigung!", ertönt eine Stimme nicht allzu weit weg.
Da ich mit niemanden reden möchte, ignoriere ich es und laufe einen Schritt schneller.
Als ich eine Autotüre zuknallen höre, bekomme ich leichte Panik.
"Hey, bleib doch mal stehen!"
Thalia, du kannst nicht wegrennen...
Heute würde dich sogar eine Oma mit Krückstock einholen und mindestens dreimal überrunden...
Eine Hand an meiner Schulter animiert mich letztendlich dazu, stehen zu bleiben.
"Hey, dreh dich bitte mal um!", die Männerstimme ist zwar betont freundlich, doch sie wird von einem Unterton beherrscht, der keine Widerrede zulässt.
Total unbegeistert drehe ich mich der männlichen Stimme zu, halte meinen Blick allerdings auf den Boden gesenkt.
Meine Augen erfassen eine Hose, die der Dienstkleidung der Polizei entspricht.
"Polizei Köln. Ich bin Stephan Sindera. Kannst du mich mal bitte anschauen?"
Oh, einer meiner "Freunde"...
Hoffentlich erkennt der mich nicht!
Ich schüttle meinen Kopf und atme tief durch.
"Geht es dir nicht gut?", die besorgte Tonlage erwärmt mir für einen klitzekleinen Moment mein Herz, aber nur so lange, bis mein Verstand sich meldet und mir sagt, dass das einfach zu seinem Job dazugehört.
Der Polizist geht vor mir in die Knie und versucht einen Blick auf mein Gesicht zu erhaschen, doch ich senke meinen Kopf weiter nach unten, damit er maximal die untere Hälfte sehen kann.
"Bist du das Mädchen, das unter der Bank geschlafen hat?"
Ich schüttle heftig mit dem Kopf, was ich auch zugleich bereue.
Eine große Gänsehautwelle erfasst meinen Körper und mein Magen macht wirklich kurzen Prozess.
Der Mageninhalt, der zuvor schon einmal in die Freiheit gelangen wollte, schafft es diesmal tatsächlich und vermischt sich mit dem blauen Farbton der Uniform vor meiner Nase.
Ich kann gerade noch so ein kleines "Entschuldigung!", aus meinem Mund hervorbringen, als auch schon die nächste Ladung ungehindert ihren Weg in die Freiheit sucht.
Dieses Mal hat der Polizist mehr Glück, denn irgendjemand hinter mir sorgt dafür, dass mein Körper zur Seite gedreht wird und ich somit nur den Gehweg beglücke.
Nachdem mein Körper die Show beendet hat, fühle ich mich um einiges besser.
Ich wische mir mit meinem Hoodieärmel über den Mund und atme erleichtert auf.
"Warte kurz hier, bin gleich wieder da!", diese Männerstimme meine ich auch schon einmal gehört zu haben, aber darauf lege ich momentan keinen Wert.
Nach einem kleinen Seitenblick sehe ich den einen Polizisten zum Streifenwagen laufen, während der andere sich anscheinend beherrschen muss, nicht selbst zu kotzen.
Jetzt oder nie!
Ich atme einmal tief durch und sprinte einfach los.
"Halt! Bleib stehen!", brüllt mir dieser Stephan hinterher, doch ich denke gar nicht daran.
Da ich nicht weis, ob mich einer der beiden verfolgt, renne ich einmal direkt durch den dichten Verkehr über die Straße.
Die Schmerzen meiner Blessuren sind unglaublich stark, aber ich muss das so gut wie möglich ignorieren und mich so weit wie möglich von den Polizisten entfernen.
Das laute Hupkonzert und die bösen Zurufe nehme ich ebenfalls gerne in Kauf, solange die blau Uniformierten mich nicht in ihre Finger bekommen.
Erst nach etlichen Minuten und vielen verborgenen Gassen später, bleibe ich stehen, um eine Verschnaufpause einzulegen.
Der Sprint hat mir absolut nicht gut getan, aber er war bitter nötig, denn sonst würde ich spätestens heute Abend wieder im Internat sitzen.
Ein paar Gewissensbisse gegenüber dem Polizisten habe ich schon, denn es war keinesfalls meine Absicht, ihn mit meiner Kotze zu beglücken.
Wenn er aber nunmal im Weg steht, kann ich auch nichts dafür.
Ich nehme mir vor, als nächstes auf einer Toilette in einem der Kaufhäuser einzubremsen, um mein Gesicht zu waschen und meinen Mund auszuspülen.
Jetzt werde ich allerdings noch vorsichtiger sein müssen als zuvor, denn die polizeilichen Buschtrommeln werden bestimmt schon sehr bald tätig werden.
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* SUD: subjective units of discomfort
- Der Patient wird vor Beginn der Sitzung dazu aufgefordert, die Schmerzhaftigkeit seiner Erinnerungen auf einer Skala von 0 - 10 anzugeben.
Ziel ist es, bis zur Beendigung der Therapie auf einen Wert von 0 - 1 zu kommen.
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