(1/1) Hoffnung
Es stand nicht gut. Der zweite Tag war vergangen, die dritte Nacht angebrochen, seit Magnus ihn draußen gefunden hatte. Die Euphorie darüber, dass er zurück war, dass er ihn wieder hatte, war quälender Sorge und Verzweiflung gewichen. Und doch war es so viel besser! Denn lieber hatte er ihn schwer verletzt hier bei sich und ertrug die Hilflosigkeit, nichts für ihn tun zu können - oder kaum genug - als sich weiterhin zu fragen, wo Valerio steckte und ob er überhaupt wieder zurück kommen würde.
Ja, es war so viel besser, er war unendlich dankbar. Keinen Tag länger hätte er diese Unsicherheit ertragen. Zuletzt hatte er sogar angenommen, er sei tot - oder es ginge ihm gut und er würde nur nicht daran denken, jemals zurück zu kommen. So unerträglich war ihm sein Gefühl des Verlassenseins gewesen, dass er zuletzt die Möglichkeit, er könnte seine Hilfe brauchen, ganz ausgeblendet hatte. Aber jetzt war er wieder da - und brauchte Hilfe in einem Ausmaß, das alles überstieg, was er sich jemals hätte vorstellen können.
Seit er ihn durch die Halle und nach oben geschleppt hatte, war Valerio nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Erst hatte er darin einen Vorteil gesehen; es wäre schwierig gewesen, ihn still zu halten, während er ihn wusch oder seine Wunden versorgte. Aber langsam fragte er sich, ob er der Sache gewachsen war. Was wusste er schon, wie man das anstellte - einen Vampir, einen Wanderer von seiner Blutgier weg zu bringen! Und die grausamen Verletzungen. Über Kamille und Thymian hatte er etwas in Valerios Kräuterbüchern gelesen und beides nach einigem Suchen sogar unten im Baderaum gefunden. Aber das war lachhaft! In jeder modernen Klinik hätte man ihn auf die Intensivstation gebracht und ihm hochdosierte Antibiotika verpasst. Nachdem man ihm die Hand amputiert und ihn ins Koma gelegt hatte.
Wenn das heilte - und das war zu hoffen, denn Valerio hatte auch seine Selbstheilungskräfte erwähnt, als sie über vampirische Eigenschaften gesprochen hatten - dann war noch längst nicht alles in Ordnung. Er hatte Menschenblut getrunken und schien ihm nun gefährlich werden zu können. Geh ins Haus, schließ alle Türen, waren seine Worte gewesen, nachdem er ihn aus dem Wasser heraus und ans Ufer gezerrt hatte. Er wollte, dass er ihn einfach liegen ließ, draußen! Die Eindringlichkeit seiner Warnung stand ihm noch quer im Kopf. Aber warum sollte er sich vor ihm schützen? Gehörte nicht auch das Blut seiner menschlichen Spender zu den Dingen, aus denen er sich ernährte, jenseits von Wein, Rosinen oder Trauben? Wie konnte menschliches Blut ihn dann auf einmal so gefährlich machen? Da musste es etwas geben, wovon er nichts wusste.
Also sollte er ihn einschließen - in seiner Schlafkammer vielleicht? Die Türen würden wohl kaum ein Hindernis für ihn sein. Oder konnte er es sich leisten zu warten, bis Valerio wach wurde und ihm sagen konnte, was er tun sollte?
Er konnte das nicht. Ihn nach draußen bringen und sich selbst überlassen. Er hatte Angst, er würde ihn ein zweites Mal verlieren. Vorhin, am Nachmittag, da hatte er endlich den Schlüssel zu der schweren Eichentür unten in der Halle gefunden. Jetzt war sie abgeschlossen und der Schlüssel zwischen den Matratzen seines Lagers versteckt.
Müde sah er zu der schlanken Gestalt hinüber, die in Decken gehüllt und reglos vor dem Kamin lag. Er hatte ihm aus der Hälfte der Polster aus seinem Raum ein breites Lager auf dem Fußboden eingerichtet. Es war ihm praktischer erschienen. Weil es hier in der Nacht Licht und Wärme gab, weil er von allen Seiten an ihn heran kam - und weil Wasser und Essen von hier aus gut erreichbar waren.
Er selbst hatte die ganze Zeit noch kaum ein Auge zugetan. Er hatte Dreck und Blut von ihm herunter gewaschen, seine Laken gewechselt und ihn mit den Mitteln, die er im Haus finden konnte und die er für hilfreich hielt, versorgt. Seitdem wachte er über ihn in der Hoffnung, er würde zu sich kommen. Mit ihm reden vielleicht, wenigstens ein paar Worte. Er vermisste den Blick aus seinen Augen. Sie sprachen so sehr; er würde es ihnen ansehen, wenn er Hoffnung haben durfte.
Noch immer rührte Valerio sich nicht. Seltsam war aber, dass er kein Fieber hatte. Der Rücken sah gar nicht gut aus und die Hand... Für die Hand konnte er nichts tun, sie war blaugrau verfärbt und hart angeschwollen. Es war entsetzlich gewesen, die braunen Krusten abzuwaschen und zu entdecken, dass darunter die Fingernägel fehlten. Erst in dem Augenblick war es ihm voll bewusst geworden: Er musste jemandem in die Hände gefallen sein. Jemandem, der ihn gefoltert hatte. Das waren absichtlich und gezielt zugefügte Verletzungen. Auch der Rücken erklärte sich auf dieselbe Weise, die Spuren im Gesicht und auf den Rippen ... Er hatte geweint vor Wut und Mitgefühl, als er ihn erstmals bei Licht gesehen und verstanden hatte, was Valerio durchgemacht haben musste. Auch jetzt noch fiel es ihm schwer sich vorzustellen, wie es überhaupt geschehen konnte, dass ihm jemand so etwas antat. Man griff sich dieses Wesen doch nicht einfach und stellte solche Dinge mit ihm an! Hatte er sich denn gar nicht gewehrt? Oder war er jemandem begegnet, der ... ihm so sehr überlegen war?
Aber jetzt war er zurück und ihm war bewusst, welch ein Glück das war. All das konnte heilen, wenn seine Kräfte jetzt ausreichend wirkten. Nur an der Hand gab es nichts, was daran erinnerte, wie diese Finger noch vor zwanzig Tagen über die Saiten der Violine geflogen waren. Kaum wagte er zu denken, dass ein Normalsterblicher sich an dieser Hand längst eine tödliche Blutvergiftung zugezogen hätte. Sie starb ab. Nach weltlichen Maßstäben war er nicht zu retten. Selbst für eine Amputation wäre es wahrscheinlich längst zu spät.
Aus welchem fatalen körperlichen Zustand konnte ein Vampir wieder aufstehen? Konnte er auch einen toten Körper ins Leben zurück bringen? Und was brauchte es, dass er starb? Valerio hatte Unsterblichkeit erwähnt. Aber ob es Ausnahmen für ihn gab, irgendwelche Risiken, die sich durch seinen besonderen körperlichen Status ergaben, danach hatte er ihn nicht gefragt. Er ernährte sich durch geringste Mengen menschlichen Blutes, sein Ersatzstoff fand sich in Wein und Weintrauben. Machte ihn das ... sterblicher?
Langsam legte er das Messer, mit dem er das getrocknete Blut unter seinen Fingernägeln heraus gekratzt hatte, auf die steinerne Fläche des Kamins zurück. Er stand auf, ging zu den Fenstern hinüber, öffnete die Tür zum Balkon, schüttete den Eimer mit dem blutigen Wasser über der Brüstung aus.
Die frische Nachtluft strömte in den großen Raum hinein, brachte die Flammen im Kamin dazu, höher zu flackern. Einen Moment wartete er, tiefer atmend, um wach zu werden, dann schloss er die Tür wieder und zog die samtenen Vorhänge zu. Mit einem Holzlöffel kratzte er den Rest des Kräuterbreis, den er für Valerios Rücken verwendet hatte, aus der flachen Schale wieder in den Tiegel zurück. Er wusch sich die Hände in der Schüssel, das prasselnde Feuer hatte das Wasser darin warm gehalten. Die gebrauchten Lappen konnten darin einweichen; später würde er sie ordentlich auswaschen.
Er war sterbensmüde. Wie gerne wollte er jetzt unten im Baderaum in einem Zuber voll mit heißem Wasser versinken... und dann schlafen - im Liegen! Und nicht, wie in den letzten beiden Nächten, aufrecht im Sessel sitzend. Heute Nacht konnte er es wagen, sich einige Stunden guten Schlaf zu holen. Aber noch musste er sich wach halten, er wollte die Verbände wechseln. Wer wusste schon, über wie viele Stunden er das nicht mehr tun würde, wenn er erst in Schlaf gefallen war.
Was für ein gigantischer Zufall, der Valerio ausgerechnet in dem Moment zurück kehren lassen hatte, als er von hier verschwinden wollte. Wenn er in die Wälder gegangen wäre und Valerio hätte hinter dem Haus im Kanal gelegen, das Gesicht zuunterst, und wäre ertrunken! Wie gut, dass er in dem Augenblick gerade erst aus dem Haus gekommen war mit seinem Rucksack ... dass er nicht schon weiter gegangen war. Oder einen Tag früher aufgebrochen, wie er es ursprünglich geplant hatte.
Lena hätte jetzt gesagt, die Dinge passierten manchmal exakt so, wie es sein sollte. Wenn das hier nun eine solche Sache war, dann musste es einen Sinn haben, dass sie einander gerade noch begegnet waren. Dass er ihn aus dem Wasser holen und hier hinauf schaffen konnte. Und sich jetzt um ihn kümmerte. Mit ein wenig Fantasie und Willen ließ sich daraus weiter schließen: Es musste eine Chance für ihn geben.
Zögernd trat er an das improvisierte Lager heran. Er lag auf der Seite, abgestützt durch die Kissen, die er ihm vorsichtig an Rücken und Beine gestopft hatte. Er sah schmaler aus. Und so blass, jetzt, wo er Blut und Schmutz vollständig von ihm herunter hatte. Sogar die Haare, in denen noch die Krusten des Schlamms gehangen hatten, hatte er ihm gewaschen. Es war eigenartig gewesen, ihn so zu halten und zu berühren. Ihm so nahe zu sein. Es war nicht einfach gewesen mit alldem, was es an ihm zu tun gab, er hatte keine Übung in solchen Dingen. Er war kein Krankenpfleger, nicht einmal ein Vater, der gewohnt war, sich um ein Kind zu kümmern, wenn es müde oder krank war. Die einzigen Erfahrungen, die er diesbezüglich hatte, beschränkten sich auf Giulia.
Es war ... eigenartig und verwirrend. Aber es hatte ihn auch so viel ruhiger werden lassen, zu sehen, wie viel er letztlich für ihn tun konnte. Zu sehen, dass durch sein Bemühen aus dem verdreckten und schwer verletzten Mann das Wesen wurde, das da nun vor ihm auf dem Boden lag: Sauber und mit verbundenen Wunden, tief schlafend schien er jetzt zumindest keine Schmerzen zu haben. Er sah unendlich erschöpft und dabei wunderschön aus, beinahe durchsichtig, transparent war, was da von ihm ausstrahlte ... Er wunderte sich über die gigantische Welle, die sich in ihm ausweitete, dieses überwältigende Bedürfnis für ihn da zu sein, sich zu kümmern, nicht von seiner Seite zu weichen, bis es ihm besser gehen würde. Und danach? Was war später? Er würde nie wieder dieselbe Distanz zu ihm einnehmen können wie vor seinem Verschwinden.
Vorsichtig, leise, als fürchtete er ihn zu wecken, ließ er sich auf die Knie nieder, schob ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinter das Ohr, zog ihm die Decke höher über die nackte Schulter hinauf. Solange er täglich mehrmals seine Wunden behandeln und die Verbände wechseln musste, konnte er ihm nichts anziehen. Ungeduldig wartete er, ob die Selbstheilungskräfte noch rechtzeitig einsetzten, dann würde der Prozess der Heilung hoffentlich schnell abgeschlossen sein. Und vor allem würde er aufwachen. Er musste. Magnus seufzte ungeduldig. Er vermisste seine Lebendigkeit und Energie; es war, als hätte ein Uhrwerk in ihm angehalten und fände nun nicht mehr zu seiner alten Funktion zurück.
Er betrachtete sein Gesicht, die Augenlider, die Lippen, die Stirn, konnte nicht glauben, dass dies derselbe Mann sein sollte, dem er vor Wochen auf der Brücke begegnet und mit dem er aneinander geraten war. Für ihn war er der junge Valerio, der barfuß durch das sonnenbeschienene Gras lief, zwischen den Klostergebäuden einer alten Pilgerstadt im mittelalterlichen Umbrien. Er wischte sich die Augen, blinzelte die Tränen weg. Es gefiel ihm nicht, wenn ihm der Blick verschwamm. Er wollte ihn ansehen.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat, legte er sich vorsichtig vor die Kante des Polsters, streckte die Beine aus, schob sich eines der herum liegenden Kissen unter den Kopf, rückte nahe an ihn heran. So nahe, dass er seinen ruhigen Atem auf seinen tränennassen Lidern spürte. Er würde merken, wenn er nicht mehr atmete. Er konnte ein wenig schlafen, hier, bei ihm. Die Hitze des Feuers in seinem Rücken tat gut.
Er hatte noch sein Gesicht vor sich, die tanzenden Reflexe der Flammen auf Wangenknochen und Stirn, da war er schon in tiefen Schlaf gesunken.
Ende Teil 1
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