(9/8) Die Liste
"Geht alle nach Hause! Hier ist nichts mehr zu tun! Geht. Es ist vorbei."
Mönche und Nonnen machten die Runde. Sie kamen zu den Menschen, die in kleinen Gruppen beisammen standen, bedankten sich für ihr Kommen und fanden freundliche Worte für ihre Fragen in dieser kaum erklärbaren Situation.
Alle Vorbereitungen waren umsonst gewesen. Die Hände, die Eimer, die Tragen waren ungenutzt und leer geblieben, ebenso wie die Decken und Matten für jene, die man zu retten gehofft hatte. Viele schienen froh, diese Stätte der Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung verlassen zu dürfen. Wer noch länger auf die grauen Mauern starrte, lief Gefahr sich ernsthaft vorzustellen, was sich dort drinnen abspielen mochte. Wer nicht tot war, starb dort jetzt wohl - oder wartete still weiter auf Rettung, die es nicht geben würde. Man mochte nicht daran denken, wie lang und dunkel die kommende Nacht für diejenigen sein musste, die nicht bereits die Gnade des Todes erfahren hatten. Es war besser, alles würde in dieser Stunde - jetzt - in sich zusammen fallen und möglicher Qual ein gnädiges Ende bereiten.
Hinten am Schulgebäude, bei dem zerstörten Säulengang, stand Prior Colombano gefährlich nahe an den Mauern und sprach Segen und Gebete. Je mehr Leute durch das Tor verschwanden, je stiller es im Hof wurde, desto deutlicher war seine Stimme zu hören. Es war, als spräche er zu den Mauern selbst, begleitet vom düsteren Grollen eines wütenden Himmels. Aus den überall aufgestellten Gefäßen drangen weiße Schwaden; der süße Duft des Weihrauchs vermischte sich mit dem beißenden Geruch der verkohlten Balken, der stärker wurde, je mehr der Regen das schwarze Holz durchtränkte. Die Luft schmeckte bitter. Und doch erhielt sie durch den strömenden Regen zugleich auch eine tröstliche Frische, etwas, das half, sich aufs Weiterleben zu besinnen.
Blitze erhellten immer wieder den steingrauen Himmel, die Abstände zu den Donnerschlägen verkürzten sich. Der Regen prasselte inzwischen hart auf den Unterstand, den man über den Lagern für die Verletzten aufgebaut hatte. Zusammen mit einigen Körben aus der Krankenstube sowie dem niedergetrampelten Gras gehörte die provisorische Überdachung zu dem wenigen, was noch von der hoffnungsvollen Geschäftigkeit der letzten halben Stunde zeugte. Die schweren Tropfen holten die Aschefetzen aus der Luft und schmolzen sie - ebenso wie die Hoffnung - zu einem Nichts zusammen, rangen sie auf den Boden nieder.
Das Wasser lief von der Kante des ölgetränkten Tuches. Anna stand dort allein, das Gesicht dem Hof zugewandt, und beobachtete, wie dieser sich leerte. Manche der Nonnen waren zum Beten voraus gegangen, andere luden die Verbliebenen ein, sich jetzt den Gebeten in der Kirche anzuschließen oder am Abend in die Basilika des Heiligen Franziskus zu kommen, wo eine Messe für die Verschütteten stattfinden sollte.
Die Heilerin dachte an vergangene Szenarien, deren Zeuge sie über die Jahre geworden war... Brände kamen immer wieder einmal vor, auch Einstürze durch Erdbeben oder eine fehlerhafte Bauweise - oder auch furchtbare Unfälle, die insbesondere auf den Baustellen während der Errichtung neuer Gebäude oder Kirchen geschahen. Aber kaum einmal war jede Hilfe vom ersten Moment an so aussichtslos gewesen wie hier und heute - und nie hatte es so viele Opfer gegeben. Dies war eine schwere Prüfung für alle. Eine der härtesten Herausforderungen war es jedoch, die völlige Aussichtslosigkeit jeder Rettung zu akzeptieren, während man nicht wusste, ob einige noch lebten.
Der Junge kam ihr in den Sinn... sie hatte ihm bewusst keinen Mut gemacht. Auch sie selbst hatte insgeheim durchaus auf einen guten Ausgang gehofft. Wie konnte dies auch anders sein, sie glaubte schließlich an die Macht und Gnade des Herrn! Der Mensch machte vieles möglich, aber Gott vollbrachte Wunder. Ihre Erfahrung und Intuition hatten sie im Lauf ihres Lebens jedoch vorsichtig werden lassen. Als Valerio ihr von dem Zustand des Schulgebäudes berichtete, davon, dass die gesamte Rückseite weggefallen und der Säulengang auf weiter Strecke zerstört war, wusste sie: Es machte keinen Sinn, ihn jetzt in seinem Eifer auch noch zu bestärken. Gott hatte entschieden.
Aber war sie nicht zu hart mit ihm gewesen? Noch jetzt hatte sie sein Gesicht vor Augen, wie er da im Eingang bei den Körben gestanden hatte: innerlich flatternd und durchscheinbar wie Seidenpergament ... und eben so leicht zu entflammen. Oder zu zerreißen. Letztlich war er nicht gerissen, er hatte gebrannt. Und sie hatte versucht sein Feuer zu löschen, ihm diesen gefährlichen Eifer auszureden. Doppelt gefährlich war er! Denn wie sie bemerkte, verleitete er ihn nicht nur zu riskanten Taten, sondern er gefährdete auch die Seele des Jungen, er ließ ihn die Dinge einseitig betrachten und verführte ihn zu ungeheuerlichen Gedanken und Plänen ... wie gut in all dem Unglück, dass nun nichts davon umzusetzen war!
Sie machte sich Sorgen um ihren Zögling. Sicher hatte er sich den Nonnen angeschlossen ... oder er war nach Hause gegangen, was sie noch eher glaubte, weil er nicht betete. Es passte zu ihm. Was ihn bedrückte, damit war er stets gern eine Weile allein. Aber kam er heute zurecht? Er hatte so verzweifelt gewirkt, auch später noch, als sie ihn von weitem im Gespräch mit dem Baumeister beobachtete. Und als Camilla zu ihnen trat, hatte er sich abgewendet. Er hatte nur dagestanden, das Gesicht gegen den dunklen Himmel gerichtet ... und ... geweint? Es hatte so ausgesehen. Menschen liefen ihr ins Sichtfeld. Er stand zu weit weg. Und ihre Sehkraft war auch nicht mehr die beste.
Oh, sie wusste, sie hatte ihn damit allein gelassen! Schon vorher, in der Krankenstube... da war etwas in seinen Augen gewesen. Sie hatte sich davon abgewendet, hatte gedacht, wenn sie es ignorierte, würde sich dieses Gefühl in ihm zumindest nicht noch mehr verstärken. Es musste sein, es ging nicht anders, wenn sie ihm nicht noch mehr Leid verursachen wollte.
Sie hatte sich getäuscht. Oh, er war so wütend gewesen - und zu Recht! Sie war mit ihm an jene äußerste Grenze gestoßen, die ihr zeigte: Sie war alt und schwach geworden. Und er hatte sie nicht nur überholt, was sein Wissen über Heilpflanzen und deren Einsatz betraf, nein! Er bewies ihr in diesem Moment auch, dass alles, was sie für ihn gewollt und gewünscht hatte, auf fruchtbaren Boden gefallen und in ihm aufgekeimt war. In ihrer Traurigkeit musste sie lächeln. Genau so hatte sie es von dem Tag an gewünscht und zugleich gefürchtet, als er ihr Schüler wurde: Sein besonderes Potenzial war diese enorm entwicklungsfähige und bewegliche Intelligenz. Und ein Gespür für Situationen und Menschen, das über alles hinaus ging, was ein werdender Medicus in seinem Studium erlernen konnte.
Solche Eigenschaften brachte man mit. Sie wurden nicht gelehrt, nicht vermittelt. Man erweckte sie. Seine Jugend machte ihn unvorsichtig, sicher, dachte sie, während sie die Tropfen beobachtete, die von der Kante des Tuches fielen. Aber diese Jugend, die er gerade hinter sich zu lassen begann, schenkte ihm auch den unmittelbaren Zugang zu diesem besonderen Mut, der aus seinem Wesen erwuchs und den sie bereits seit zwei Jahren an ihm beobachtete.
Zuerst hatte sie gedacht, er würde hier noch die letzten, für junge Leute so typischen Kämpfe gegen die Welt der Älteren ausfechten, bevor er Respekt und Mäßigung lernte. Aber dann war sie zu dem Schluss gekommen, dass es etwas anderes sein musste ... er hatte immer auf sie gewirkt, als kämpfte er mit einer zu großen Waffe, die er noch nicht gut halten konnte. Mit der Zeit war er in diese besondere Kraft aber mehr und mehr hinein gewachsen. Noch zeigte es sich, zumindest von außen betrachtet, als eine Art Übermut, da er jung war und sein Feuer in manchen Situationen nicht zügeln konnte. Ein wenig länger noch, und es würde zu ausgereifter Courage werden und sich mit seinem wachen Geist verbinden. Wenn sie nicht aufpasste, entwickelte er das Zeug zum Helden. Helden starben früh ... Sie schob den Gedanken wieder in das undefinierbare Grau zurück, aus dem er gekommen war.
Nahende Schritte holten sie aus ihrer Grübelei. Anna wandte den Kopf nach rechts und erkannte Camilla. Die Musikmeisterin zog den Kopf vor den fadendünnen Rinnsalen ein, die langam versiegten, und schlüpfte zu ihr unter das Dach. Sie kam zu ihr hinüber, stellte sich neben sie und blickte durch die letzten Tropfen hindurch stirnrunzelnd über den leeren Platz.
"Ach, Anna", seufzte sie schließlich und legte ihr den Arm um die Schulter. "Das ist ein schwerer Tag für uns alle. Und er ist noch nicht zuende."
Anna schwieg, sie nickte nur.
Camilla schaute sie von der Seite an. "Ich sah dich vom Tor aus hier stehen. Ich möchte nicht stören, was dich hier noch zu beschäftigen scheint, aber ... willst du nicht lieber zu den anderen kommen? Wir sind in der Kirche. Die Äbtissin möchte gleich ..."
Anna schnaufte empört, ihr Rücken versteifte sich. "Ach, ist unsere Bonifatia endlich aufgetaucht? Wo war sie denn die ganze Zeit? Haben Vasca und Giulietta sie denn nicht schon vor einer Stunde informiert? Je brisanter die Lage, desto später kommt sie zur Erfüllung ihres Amtes. Nun fehlt nur noch, dass sie uns Vorwürfe macht, dass wir in der Not alles ohne sie geregelt haben." Sie wandte ihr das Gesicht zu. "Hast du mit ihr gesprochen?"
"Ja. Nachdem der Baumeister mir erklärt hatte, wie es aussieht. Es schien sie nicht zu stören, dass sie das Gespräch mit dem Mann nicht selbst geführt hatte." Camilla nickte zu dem Prior hinüber und senkte die Stimme. "Viel mehr war sie daran interessiert, Bruder Colombano zu empfangen. Er spricht hier draußen den Segen auf ihr Geheiß." Sie seufzte. "Aber lassen wir das, meine Liebe. Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Wir beten gleich für ..." Sie sprach den Satz nicht zuende, sondern hob nur still das Pergament, das sie in der Hand hielt.
Zögernd streckte Anna ihre sonnengebräunte Hand aus. "Ist die Liste ... vollständig? Lass mal sehen."
Die Musikmeisterin gab ihr das Papier. "Ja. Ich denke, wir haben alle."
Anna zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf, während ihr Blick über das zerknitterte Papier schweifte. "Entsetzlich, sie alle beisammen zu sehen", murmelte sie. "Es sind ... neunzehn." Ihre Augen wanderten über die Namen. "Maria", las sie laut. Ihre Stimme zitterte. "Unsere liebe Maria." Einen Moment lang rang sie um Fassung, dann las sie die nächsten Namen. "Brunella. Cristina. Flavia. Und ... Paolina." Sie musste schlucken. "Reana, Lucilla, Valentina. Milla, Delizia, Fiamma..." Die Heilerin richtete sich auf und atmete tief ein. "Oh, die liebe Fiamma! Sie stand kurz vor ihrem Gelübde. Sie war ... sie ist wahrhaftig eine Flamme. Sie wird es immer bleiben."
"Ja. Das wird sie", sagte Camilla und nickte bekräftigend. " Möge Gott ihrer Seele gnädig sein. Wir ... werden keine von ihnen vergessen."
Anna übersah weiter die Reihe der Namen. "Ursulina ... und Ricarda und Sibilla. Isotta. Gabriella. Und oh, unsere Kleinen hier, die neuen Mädchen! Welch ein Schicksal für sie! Luisa ... und Caterina." Sie sah fragend zur Musikmeisterin auf. "Caterina - das ist doch dieses Mädchen aus Schottland. Eine interessante junge Frau. Etwas Seltsames hatte sie an sich, sie ... irritierte die Leute."
Camilla wiegte den Kopf abschätzend hin und her. "Ich mochte sie", sagte sie nachdenklich. "Sie hatte eine bemerkenswerte Stimme. Und ich denke, sie war nicht dumm. Gern hätte ich gesehen, was aus ihr wird."
Anna erreichte das Ende der Liste. "Und hier ... die letzte", seufzte sie. "Scalea. Unser verhungertes, gerupftes Vögelchen." Sie hob den Blick von dem Pergament und sah in das düstere Grau der Wolken hinauf. Ihre alten Augen waren feucht. "Sie hätte hier bei uns aufblühen können. Aber wer konnte wissen, dass der Herrgott anderes mit ihr vorhaben würde."
"Ja ... das muss sehr hart sein für Evelina. Von den vier Neuen ist sie die einzige, die es geschafft hat."
Anna blinzelte eine Träne aus dem Augenwinkel. Durch die Finger ihrer Hand, die sie betroffen über ihre Lippen hielt, murmelte sie: "Wir müssen ... gut auf sie achten in nächster Zeit." Mehr brachte sie nicht heraus.
Camilla warf ihrer Mitschwester einen besorgten Blick zu. "Ich habe die Liste. Die Äbtissin erwartet mich. Wir wollen die Namen verlesen und für sie beten. Ich bin hergekommen, um dich zu holen. Nun komm, Liebe! Lass uns gehen und ein wenig Trost in der Gemeinschaft der anderen finden."
Anna ergriff Camillas Hand, die immer noch um ihre Schulter lag, und drückte sie kurz. Dann trat sie aus dem Arm der Jüngeren hervor und wandte sich ihr zu. Sie umarmte die Musikmeisterin. "Geh du nur. Und mach dir keine Gedanken um mich. Ich ... möchte noch ein wenig hier bleiben. Meine Gebete schicke ich dort hinein. Ich fühle mich besser, wenn ich nun zumindest dies noch tun kann." Sie lächelte mit abwesendem Blick. "Eine kleine Totenwache. Ich kann sie hier nicht so einfach ..." ihr versagte die Stimme.
Das Gewittergrollen echote über dem Berg. In den Gesang des Priors mischte sich Glockenläuten. Der Wind drehte sich plötzlich und wehte den Duft des Weihrauchs von der Ruine der Novizenschule weg und zu ihnen hinüber. Er verfing sich unter dem Dach. Das regennasse Tuch schlug über ihren Köpfen ein paarmal auf und nieder.
"Es ist gut, meine Liebe", entgegnete Camilla, ohne das Ende des Satzes abzuwarten. "Ich verstehe das. Du kommst später nach. Lass dann einfach alles hier stehen." Sie nickte zu dem Karren hinüber. "Der Wagen ist sicher unter dem Dach.". Sie sah sich um. "Alles andere holen wir gemeinsam nach der Messe. Ich muss mich nun beeilen."
Sie nahm die Liste aus der Hand der Heilerin und umarmte die zierliche Frau noch einmal. Dann trat sie unter dem Dach hervor und lief mit schnellen Schritten in den Regen hinaus.
Anna schaute ihr nachdenklich hinterher. Sie zog ihren Schleier fester um sich. Es war ein heißer Vormittag gewesen. Auch jetzt trug der Wind noch die Wärme mit sich, die aus der verdorrten Ebene herauf strömte. Vom regennassen Boden stieg Dampf in die schwülwarme Luft auf, aber die alte Heilerin fröstelte plötzlich, als hätte sie eine Herbstnacht unter freiem Himmel durchwacht. Sie war auf einmal sehr erschöpft. Ihre müden Knochen machten ihr jede Bewegung schwer. Sie fühlte sich alt.
Ein dumpfes Geräusch erreichte ihre Ohren, gerade in dem Moment, als sie sich bücken wollte, um einen Stapel Leinenbinden in den Korb zurück zu legen. Hatte sie richtig gehört? Es klang, als hätte sich irgendwo ein Stein bewegt ... als wäre er gefallen. Oder geworfen worden. Ihr Blick schweifte über den verlassenen Hof. Da war niemand. Sie sah zum Prior hinüber, der sein Ritual beendet und sich gerade abgewendet hatte, um Richtung Tor zu gehen. Auch Colombano schien es gehört zu haben. Er hielt im Gehen an, sein Blick ging über die Schulter zurück. Einen Augenblick lang starrte er auf die Mauer über den Trümmern des Ganges, dann höher hinauf, wo der verbrannte Dachstuhl wie schwarze Knochen über das Ende der Mauer hinweg ragte.
Krähenrufe, hart und rau, hallten vom Hang des Monte Subasio herüber. Grauer Dunst stieg aus der Tiefe auf und wälzte sich wie eine Welle über die höher gelegenen Begrenzungsmauern des Klostergeländes. Das Gewitter grummelte in der Ferne über der Ebene.
Der Stein musste in der Ruine gefallen sein. Nun war alles wieder still. Colombano bekreuzigte sich. Wortlos nickte er zu der alten Heilerin hinüber, dann wandte er sich ab und ging zügig über den Hof Richtung Tor.
Anna ließ sich mühsam auf einer der strohgeflochtenen Matten nieder, die noch nicht auf dem Wagen verstaut waren, und begann ihre Gebete.
Ende Teil 73
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