(9/7) Unter Eis, unter Stein
"Wirst du wohl die Augen auf lassen, du jämmerliches Exemplar von einem Steinehauer!" Wasser platschte ihm ins Gesicht.
Weder seine Peinigerin noch die Umstehenden verstanden die Worte, die er murmelte, dann sackte sein Kopf wieder auf die nasse Brust zurück. Die Hände lagen schlaff im Gras, und nur die Brunnenwand in seinem Rücken hielt ihn in seiner sitzenden Haltung.
Fassungslos stemmte Uberta die Hände in die runden Hüften. "Jetzt hört euch das an! Er schnarcht schon wieder! Im Sitzen! Hat man so etwas schon erlebt? Sie beugte sich zu ihm herüber, ihr roter Kopf bot einen leuchtenden Kontrast zu der weißen Haube, die ihr seitlich ins Gesicht verrutscht war. "Wie kann man nur so besoffen sein... He, Handwerksmann! Na los! Genug geschlafen! Die Augen auf!" Sie schöpfte eine weitere Kelle Wasser aus dem Eimer, der neben ihren Füßen stand, und goß sie dem Betrunkenen über den Kopf.
Plötzlich regte er sich. Er zog die Beine an, riss die Augen auf und prustete. Erschrocken schaute er sie an - gerade so, als würde er sich an die fünf Kellen davor nicht erinnern. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Gesicht und schüttelte die zotteligen dunklen Haare. Dann sah er sich um. Sein erstaunter Blick ging zwischen den zwei Dutzend Neugierigen und der stämmigen Haushälterin, die mit der leeren Kelle abwartend vor ihm stand, hin und her.
"Was' n das alles?", murmelte er. "Was woll' n die Leute denn...?" Langsam hob er das bärtige Gesicht zu ihr hinauf. Er blinzelte im trüben Licht. 'Tschuldigung... Has' du... was gesagt, Weib?"
Uberta schnappte empört nach Luft und ihr Gesicht wurde noch roter, soweit das überhaupt möglich war. Die Menge lachte laut. Die Anspannung der Leute hatte ein Ventil gefunden - Das vielstimmige Lachen wirkte bizarr inmitten der bedrückten Stimmung, die im Hof herrschte.
Vor der Novizenschule waren die Nonnen mit dem Aufbau provisorischer Lager beschäftigt. Donata wuchtete einen Stapel geflochtener Matten vom Wagen, als das Lachen sie aufhorchen ließ. Sie richtete sich auf, um ihren Rücken durchzustrecken und sah zu der Szenerie am Brunnen hinüber. "Ist er wach?", rief sie laut über den Hof.
"Er murmelt", rief Uberta zurück. "Er sitzt und murmelt, Donata. Ob er wach ist? Darauf würde ich meine Seele nicht verwetten."
"He... Ich murmel' nich", nuschelte der Betrunkene. "Ich will nur was sagen..."
"So! Du willst also was sagen? Na, das klingt schon besser." Uberta legte die Kelle auf dem Brunnenrand ab und wischte ihre Hände am Gewand trocken. "Denn sagen wirst du uns etwas, dazu bist du schließlich hier."
Während Uberta sprach, hatte er seine Augen schon wieder geschlossen, aber diesmal blieb er wach. Er legte den Hinterkopf an die Brunnenwand zurück, hob eine Hand und hielt sie beschwichtigend gegen die Nonne ausgestreckt. "Lass' s mal mit' m Wasser, Weib", schnaufte er. "Ich bin nur.... hab nur die Aug' n zu. Bin wach und hab die Aug' n zu. Weil ich... noch 'n bisschen müde bin."
"Ach so! Müde bist du noch ein bisschen! Dem können wir aber abhelfen", rief Uberta und griff wieder nach ihrer Kelle.
Das schabende Geräusch auf dem steinernen Brunnenrand musste er gehört haben - denn zu der einen Hand, die er der Wirtschafterin immer noch entgegen gestreckt hielt, als hätte er sie in der Luft vergessen, kam nun die zweite.
"Oh, bitte... bitte, gute wütende Frau! Kein Wasser mehr! Ich bin ja wach!" Die Augen blieben geschlossen. Uberta hielt in der Bewegung inne, die Kelle schwebte über dem halbleeren Eimer. Unsicher wartete sie ab, ob er nun vollends zu sich kommen würde.
"Du bist wach", rief sie. "Dann mach die Augen auf. Wir haben mit dir zu reden!"
Seit einigen Minuten bemühte sich Uberta nun, den Baumeister auf die Beine zu bringen. Die Arme vor der Brust verschränkt stand Valerio bei den Schaulustigen. Auch einige der Mönche, unter ihnen Clemente, hatten sich zu den Frauen und Männern aus der Stadt gesellt. Clemente sollte wissen, dass Valerio ihn nicht aus den Augen ließ. Im Hof wimmelte es inzwischen von Helfern, viele warteten bereits ungeduldig auf ihren Einsatz, sie trugen ihre leeren Eimer mit sich herum oder standen in Gruppen beisammen und sprachen miteinander. Aber es gab noch nichts zu tun, da der Rat des Baumeisters fehlte.
Als Valerio energisch in den Kreis trat, erstarb das Lachen in Sekunden. Sanft schob er Uberta mit dem Arm beiseite, dann griff er nach dem hölzernen Eimer und kippte dem Baumeister den Inhalt mit Schwung ins Gesicht. Er warf das leere Behältnis beiseite, packte den Mann unter der Achsel und riss ihn vom Boden hoch.
"Schluss damit", zischte er ihm in das triefende Gesicht. "Dort sterben Menschen." Er zeigte zu den zerstörten Gebäuden auf der anderen Seite des Hofes hinüber. "Du wirst uns jetzt unsere Fragen beantworten, oder ich gehe ohne deinen Rat dort hinein. Und du gehst mit mir. An einem kurzen Strick an mein Handgelenk gebunden." Es machte ihm Mühe, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Er rüttelte den Mann am Oberarm, damit er den Kopf hob. "Wie ist dein Name", fragte er scharf.
Der Baumeister sah ihn irritiert an. Er hatte keine Ahnung, was man von ihm wollte, aber das Wasser hatte ihn munter gemacht. Und offenbar spürte er den Ernst, mit dem Valerio ihm entgegentrat.
"Tomaso bin ich..." Er zögerte. "Was is' hier eigentlich los?" Er versuchte sich aus Valerios Griff zu befreien. "Was soll das alles...?"
Valerio packte ihn fester. Er zerrte ihn aus dem Kreis heraus und Richtung Schulgebäude. "Ich zeige es dir", sagte er. "Komm mit. Beweg dich." Er stieß ihn vor sich her. Tomaso hatte Mühe, nicht über seine Füße zu fallen - er musste wach werden, wenn er nicht stürzen wollte. Im Vorwärtsstolpern hob er schließlich den Kopf... und blieb erstarrt stehen. Der Mund stand ihm offen, er war sprachlos.
Valerio trat neben ihn. "Sag mir, was du siehst."
"Das.... das ist... ach du lieber Franz." Langsam setzte er sich erneut in Bewegung. Sein noch immer benebelter Geist klärte sich im selben Augenblick, als er den Säulengang, die Mauern und das Dach betrachtete. Im Hof war alles still geworden, niemand sprach mehr ein Wort. Die Reaktion des Baumeisters auf den Zustand des Gebäudes ließ alle aus dem lähmenden Schlaf aufwachen, den der Schrecken der Situation über sie gebreitet hatte.
"Was ist hier passiert", fragte er still. Seine Augen tasteten die Mauern ab.
Valerio zeigte auf das Dach der Schule. "Wir glauben, es muss da oben angefangen haben. Vielleicht war es die Hitze der letzten Tage. Oder irgendetwas auf dem Dachboden der Schule hat sich entzündet. Ich war vor Tagen dort oben, da stand viel Brennbares herum. Der Dachboden war voll davon. Strohmatratzen, stapelweise Bücher, Papier, Möbel. Trockenes Holz."
Der Baumeister nickte langsam. Er hob den Arm. Sein ausgestreckter Finger zeichnete eine unsichtbare Linie von der rechten Dachseite bis nach links hinüber, wo die Unterkunft an die Schule anschloss. "Und da hat es sich durchgefressen... bis in den Dachstuhl des angrenzenden Gebäudes." Seine Stimme klang nun kräftiger, die Worte waren klar, als er sich zu Valerio wandte. "Ihr müsst das Lager weiter von den Wänden wegschaffen, zur Hofmitte. Das ist alles instabil. Wenn das runterkommt..." Er schüttelte den Kopf. "Hohe Mauern fallen weit." Tomaso warf einen Blick zu den beiden Karren hinüber, auf denen noch einige Dinge lagen. Er sah die Mengen an Decken und Tüchern, die sie mitgebracht hatten. "Wie viele?", fragte er knapp.
Valerio wusste sofort, was er meinte. "Ich weiß es nicht. Sie sollten gezählt werden... Unsere Musikmeisterin fertigt eine Liste der Namen. Ich bin eben erst hier angekommen, ich weiß nicht, ob sie schon vollständig ist..." Wie ein Schlag traf ihn der Gedanke, wie es sein würde, Caterinas Namen auf der Liste zu sehen.
"Mehr als fünf?"
"Was?" er zuckte zusammen. Schnell wischte er den Gedanken an das Mädchen weg. Er nickte. "Ja, auf jeden Fall. Viel mehr." Er schluckte. "Eher... zwanzig."
Und die sind da drinnen?" Tomaso wies auf die Schule. "Seid ihr ganz sicher?"
"Ja. Ich habe mit einem Mädchen gesprochen, das rechtzeitig entkommen konnte, bevor das Gewölbe des Ganges einbrach. Sie ist die einzige, die heraus kam. Sie war bei den anderen gewesen. Unten, in einem der kleineren Räume. Sie sind dort eingeschlossen."
Er sah das Entsetzen im Gesicht des Baumeisters, aber er gab nicht auf. Da der Mann schwieg, zeigte er auf den eingestürzten Säulengang. "Was ist damit? Dahinter liegen zwei verschüttete Eingänge. Kommen wir da hindurch?"
Tomaso kniff die Lippen zusammen, er wirkte nachdenklich. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das Gesicht und über die Augen, dann strich er die nassen Haare zurück. "Wie sieht es hinten aus", wollte er wissen und ignorierte Valerios Frage.
"Die Schule hat keine Rückseite mehr, das Dach ist vollständig herunter gekommen und hat alles mitgerissen, auch Teile der oberen Ebene fehlen."
"Und das Feuer? Ist es vom Dach auf das Gebäude übergegangen?"
Valerio schüttelte den Kopf. "Nein, es schwelt nur hier und da ein wenig in dem Schotter, der vor dem Gebäude am Boden liegt. Bei der Unterkunft hat das Dach ebenfalls Feuer gefangen, aber sieh selbst!" Er zeigte auf die Ecke des Wohntrakts, der an die Schule grenzte. "Es brennt nur ein wenig vor sich hin." Valerio warf einen Blick zum Himmel. "Wenn es nur richtig regnen würde... Aber auf der oberen Ebene liegen immer noch die meisten Trümmer des Daches. Das ist eine Menge Gewicht, es könnte alles mit sich reißen... die fehlende Stabilität erscheint mir als das größere Problem."
"Das siehst du richtig." Tomaso strich sich den Bart. Schließlich schüttelte er erneut den Kopf. "Vergesst es."
Valerio sah ihn entgeistert an. "Was soll das heißen: Vergessen? Wir haben Menschen dort drinnen! Frauen... und noch halbe Kinder dabei!"
"Sie sind tot."
"Aber... wie können wir das sagen, wenn wir nicht nachsehen!" Valerio wurde lauter. "Sie sind verletzt! Vielleicht können sie sich nicht laut genug bemerkbar machen, aber sie sind doch sicher irgendwie zu retten! Zumindest einige!"
"Du verstehst mich nicht, junger Mann", sagte Tomaso. "Dein Ehrgeiz in allen Ehren, aber.... wer jetzt dort drinnen ist, ist tot. Auch wenn in diesem Moment noch Leben in ihm ist. Das da", er zeigte auf die Schule, "ist ein Sarg. Wenn die Rückseite und dazu auch der vordere Gang fehlen, sind die bleibenden Mauern einem Druck ausgesetzt, der sie stetig nach außen bewegt. Rühre an einem Stein und alles fällt in sich zusammen! Wenn aber noch mehr Teile des Daches in die obere Ebene stürzen, kann das auch sofort geschehen. Die Steine und Balken nehmen dann auf ihrem Weg nach unten alles mit. Im Erdgeschoß überlebt niemand. So wie es aussieht, kann es jeden Augenblick soweit sein! Dann fallen auch die Außenmauern. Du brauchst nicht einmal zu pusten oder in die Hände zu klatschen, du musst nur ein wenig warten. Das Gebäude bewegt sich. Wer dort drinnen ist, ist jetzt schon begraben. Und wer jetzt noch hinein geht, ist es ebenfalls."
Valerio fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch die Haare. Er wankte einige Schritte rückwärts, fand sein Gleichgewicht, trat dann wieder vor. Er richtete das Gesicht zum düsteren Himmel und lachte bitter auf. "Das darf nicht wahr sein!"
"Nun, das ist Erfahrung, Junge", erklärte Tomaso. "Hier braucht jetzt nur ein Schmetterling zu husten, und die Wände kommen euch entgegen. Dann habt ihr noch mehr Tote. Du willst meinen Rat? Schafft die Leute hier weg, macht den Platz leer." Er drehte sich um und kehrte der Schule den Rücken zu.
Valerio packte ihn am Arm. Tomaso blieb stehen. Er blickte auf Valerios Hand hinab und hob die Augenbrauen . "Was willst du noch", brummte er halblaut.
Valerio atmete zitternd ein. "Eine ehrliche Antwort."
"Du hast meine Antwort. Die war ehrlich. Für mich gibt es hier nichts zu tun." Tomaso ließ ihn stehen und ging langsam Richtung Tor.
Die Leute auf dem Hof hatten ihre Beschäftigungen wieder aufgenommen. Ein kräftiger Donner rollte über die Stadt hinweg und erste schwere Regentropfen fielen nun aus dem dunkel zugezogenen Himmel.
"Ich habe keine Antwort von dir", rief Valerio in das verhallende Grollen hinein. "Du kennst ja noch nicht einmal die Frage!"
Der Baumeister lief noch einige Schritte weiter, dann wurde er langsamer. Schließlich hielt er an und wandte sich um.
"Und die wäre?"
Mit wenigen Schritten war Valerio bei ihm. "Hast du Kinder, Tomaso?"
Die Frage schien den Mann zu verwundern. Er zog die buschigen Brauen zusammen. "Nein", sagte er. "Keine Kinder."
"Eine Frau?" Valerio ließ nicht locker.
Ein schwaches Lächeln erschien in den dunklen Augen des Baumeisters. Einen Moment lang glühten sie wie im Fieber auf. "Worauf willst du hinaus? Sie ist tot."
Valerio ignorierte die Frage. Energisch bohrte er weiter. "Hast du sie geliebt?"
Der Baumeister lachte laut auf, dann schüttelte er den Kopf. "Das geht dich nichts an, Junge. Lass mich in Ruhe."
Er wollte sich wieder abwenden, aber Valerio vertrat ihm den Weg. "Du hast sie geliebt. Und sie hat dich geliebt. Wie alt war sie, als sie starb?"
Tomaso erstarrte in der Bewegung. Er schaute zu Boden, ließ die Arme hängen. In seiner Stimme schwang etwas Tiefes, Raues, als er leise sagte: "Sie war dreiundzwanzig. Sie ist ertrunken."
Langsam hob er den Blick. Nachdenklich betrachtete er Valerio. Er sprach leise, als er fortfuhr. "Wir waren gerade verheiratet und sie erwartete unser erstes Kind. Der Herbst kam, mein Geschäft stand in den Anfängen, wir brauchten Geld für den Winter. Da erhielt ich einen lohnenden Auftrag, eine Außenarbeit, die noch vor dem Frost fertig werden musste. Der Kunde war wohlhabend und verwöhnt, er drängte und ließ mir kaum Zeit. Mein Lehrling schlug vor, mein Boot zu beladen, um eine Fuhre behauenen Stuck auf die andere Seite des Sees zu bringen, wir wollten damit einen Tag Zeit gewinnen und die Miete für einen Karren und ein Pferd sparen..."
Tomaso lachte verzweifelt in sich hinein, dann schüttelte er den Kopf. "Sie wollte unbedingt mitfahren und ich wollte sie bei mir haben. Wir waren jung und dumm. Das Boot war zu schwer beladen. Es kenterte und sie ertrank."
Valerio hatte aufmerksam zugehört. Als Tomaso schwieg, begann er: "Wenn du... wenn sie noch leben könnte, was würdest du dafür..."
Tomaso fiel ihm grob ins Wort, er hob die Hände. "Oh nein, das kannst du vergessen! Glaubst du etwa, ich hätte nicht alles versucht? Hast du eine Ahnung, was man alles tut, wenn man einen Menschen liebt! Ich bin beinahe selbst ertrunken bei dem Versuch, sie zu finden! Wieder und wieder bin ich getaucht in dem dunklen, kalten Wasser, einen Tag lang und dazu die ganze Nacht! Ich lieh ein Boot und mein Lehrling musste die Lampe über dem Wasser halten. Ich hoffte sogar, dass sie auf irgendeine unvorstellbare Weise noch nach Stunden wieder lebendig wurde - und wenn sie unser Licht über der Wasseroberfläche sah, so stellte ich mir vor, wusste sie vielleicht, wie sie nach oben... "Sie ist tot, sie ist tot", sagte mein Lehrling mir immer wieder, aber ich wollte es nicht glauben. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Lieber wollte ich mit ihr sterben... als mir vorzustellen, wie sie da nun auf dem Grund liegt, während der See zufriert und sie in ihrer Dunkelheit begräbt."
Tomaso verzog den Mund und kniff für einen Moment die Augen zusammen. "Das ist keinem zu wünschen, weißt du", erklärte er. Es gibt kein anständiges Grab. Ich habe nicht mal einen Stein für sie, keinen Ort, an dem ich mit ihr reden kann... Sie ist Futter für die Fische."
Er sah zu Valerio auf. "Sei froh, wenn du niemals..." Er hielt mitten im Satz inne. "...Junge? Was ist mit dir?"
"Bitte...!" Valerio sah zum Schulgebäude hinüber, dann wieder in Tomasos Gesicht. "Bitte.... gibt es denn wirklich nichts, was wir... was ich..."
Erst jetzt wurde der Baumeister aufmerksam. Sein Blick wanderte von Valerios Augen zu der Ruine, dann wieder zu den Augen zurück. Langsam glomm die Erkenntnis in ihm auf.
"Oh verdammt, Junge. Du stehst in Flammen. Da drinnen gibt es jemand... Es tut mir leid für dich."
Wie ein Messer durchschnitten Camillas Worte den Moment. Sie war heran gekommen, ohne dass Valerio es bemerkt hatte. In ihrer Hand hielt sie das Papier. Valerio warf einen ängstlichen Blick darauf, er erkannte zwei senkrechte Reihen mit Namen, bevor sie die Hand mit der Liste an ihre Seite sinken ließ.
"Ich bin Schwester Camilla. Ich führe die Liste der Vermissten. Nun, Meister! Wie lautet also der Plan, wie gehen wir vor?" Nervös sah sie vom Einen zum Anderen. "Ich habe gesehen, dass ihr über die Gebäude gesprochen habt... Ich danke dir, dass du dem Baumeister schon das Grobe erklärt hast, Valerio."
"Valerio...", murmelte Tomaso und klopfte ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter. Valerio spannte den Kiefer an, wandte sich ab und blickte ziellos über den Hof, während Tomaso mit Camilla sprach.
"Hier wird nichts unternommen, Schwester", brummte der Baumeister bestimmt. "Es sei denn, ihr wollt noch mehr Leute verlieren. Da kommt man nicht hinein, das wäre Wahnsinn. Aber ich kann euch zeigen, wie ihr das Gebäude abtragen könnt. Ihr müsst eure Toten begraben und wollt es danach sicher neu aufbauen. Mit ein bisschen Glück könnt ihr viele der Steine wiederverwenden..." Er runzelte die Stirn und sah zum Dach hinauf. "Hm... für heute ist es zu spät damit noch zu beginnen. Und das Wetter wird schlecht. Aber wenn der Regen aufhört, morgen, da könntet ihr zuerst den Gang wegnehmen und es hier herüber einstürzen lassen... Da bricht natürlich die obere Ebene ein, die hält sich sowieso nicht mehr lange... Oder ihr tragt alles von oben her ab, Stein für Stein. Das ist aber schwierig und es würde lange dauern. Die Leichen halten sich bei dem Wetter nicht. Und das Risiko für euch wäre auch mit einem guten Gerüst nicht geringer, als wenn man die Mauer einfach hier in den Hof hinein..."
Valerios Augen füllten sich mit Tränen. Er ging ein paar Schritte, dann noch einige mehr, bis er die Worte des Baumeisters nicht mehr verstehen konnte.
Der Hof, die Leute, die Stimmen, alles wich zurück und verschwand. Er hob das Gesicht gegen den Himmel und ließ den Regen seine Tränen mitnehmen. Ein furchtbarer Donner, dem gleich noch ein zweiter folgte, erstickte den kurzen kehligen Schrei, der aus ihm heraus brach.
Valerio hatte es nicht gewusst. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er sich mit ihr beschäftigt und wie tief sie ihn berührt hatte. Dabei waren die Umstände, unter denen diese wenigen Begegnungen stattgefunden hatten, mehr als seltsam gewesen. Er hatte sie singen gehört - in einem Moment, in dem andere weinten, hatte sie gesungen. Er hatte sie im Gang der Schule umgeworfen, ihr seinen Ellenbogen gegen den Kopf gestoßen. Er hatte ihre Sommersprossen, jede einzelne ihrer Wimpern gezählt in dem langen Moment, als sie auf seine ausgestreckte Hand gestarrt und sie letztlich nicht genommen hatte. Und auch später an der Schulzimmertür, als er so dicht bei ihr stand, dass er dachte, sie müsste sein Herz schlagen hören... Er hatte so sehr gehofft, sie möge einmal aufsehen, ein einziges Mal. Er hätte seine Seele in ihre gegossen, und wenn es sein Ende gewesen wäre.
Und dann hatten sie einander angesehen, im Kräutergarten. Dieser magische Moment. Alles ringsum zählte auf einmal nicht mehr. Er wusste, dass sie in diesem Augenblick genauso gefühlt hatte wie er. Aber was... was sollte er nun mit ihren Haaren anfangen? Er hatte Maria ein knappes Drittel davon in den Korb gelegt und den dickeren Strang wieder sorgfältig geflochten und mit einem Lederband zugebunden. Seiner Mutter hatte er immer ihren Zopf geflochten, er tat dies bereits seit vielen Jahren, auch wenn es heute nicht mehr so oft vorkam. Da er ihr einziges Kind war und seine Schwestern vor ihrem dritten Lebensjahr gestorben waren, hatte er es immer als selbstverständlich empfunden, es für sie zu tun...
Caterinas Haare. Es gab viel Schönes an Frauen, das sah er überall - und er hatte sich angewöhnt, sehr genau hinzuschauen. Aber er hatte nur ihre Haare, nichts sonst. Er konnte sie berühren, seine Nase hinein drücken, ihren Duft einatmen, sich vorstellen, dass die Wärme, die sie von ihm annahmen, wen er sie nachts auf seine nackte Brust legte, ihre eigene Wärme war... Er hatte ja nichts anderes von ihr... Darum hingen an diesen Haaren seit dem ersten Moment alle seine Träume.
Von dieser ersten Nacht an, in der der Zopf erstmals auf seiner Brust gelegen hatte, über seinem wild klopfenden Herzen, stellte er sich vor, wie ihre Haare wieder wuchsen - als Zeichen, dass die Dinge wieder gut wurden. Wie sie im Wind wehten als Fahne der Freiheit. Wie er sie kämmen und flechten und mit den Fingern hindurch fahren durfte, weil sie ihm ihr Vertrauen schenkte. Und alles, was sie ihm noch erlauben würde... Er wollte sich würdig erweisen, alles Erdenkliche tun - damit er sie verdiente, damit sie ihn ansah, ihn berührte... nicht nur im Herzen, wie jetzt. Der Traum, der an diesem Zopf hing, war heute gestorben. Weggefallen. Einfach so, grundlos. Gnadenlos. Unter Trümmern begraben.
Mit dem Ärmel wischte Valerio sich durch das nasse Gesicht. Er wollte hier weggehen. Nach Hause. Sich auf sein Lager legen und sehen, ob er sterben konnte...
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. "Jetzt komm, Junge. Wir haben zu tun. Ich brauche deine Hilfe."
"Aber was..."
"Frag nicht, komm hinterher. Beeil dich - aber pass auf, dass es niemand sieht. Und zu niemandem hier ein Wort", brummte Tomaso halblaut. "Und eines sage ich dir gleich: Ich mache keine Versprechungen. Es ist nur ein Versuch, das ist dir hoffentlich klar." Er nahm die Hand von Valerios Schulter und ging mit entschlossenen Schritten voraus.
Ende Teil 72
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