(9/3) Staub und Steine
[Oben: Liebevoll ausgewählte musikalische Untermalung fürs Lesen!]
Schwer atmend stand Valerio da und wartete. Als sich der Staub über dem Garten zu verziehen begann, nahm er Anlauf gegen die Mauer, sprang und zog sich hoch. Er schwang ein Bein auf die andere Seite hinüber und hielt inne.
Erschüttert starrte er auf das Chaos, das sich ihm bot. Der Bereich zwischen dem Gebäude und der Gartenmauer unter ihm war mit Schotter, Steinen und Dachpfannen übersät. Die nach außen gerichtete Seite der Schule lag offen da. Er konnte in die obere Ebene mit den Unterrichtsräumen hinein sehen. Einige der Tische und Bänke waren zusammen mit einem Teil der Außenwand und des Fußbodens in die Tiefe gestürzt und lagen nun im Gras zwischen den Trümmern. Die meisten Tische jedoch standen dort oben noch an ihren Plätzen - insbesondere auf der linken Seite, wo ein herausragender Balken über dem Schulraum noch einen winzigen Teil des Daches hielt. Rechts jedoch lag alles unter dem herab gebrochenen Gebälk und einem Haufen grauer Schindeln und Ziegel begraben.
Der untere Teil der Gebäudewand war zwar ebenso zerstört worden, aber ein Blick nach innen war dennoch kaum möglich. Bis zu drei Meter hoch türmten sich die Trümmer vor der unteren Ebene auf. Wo brennende Balken unter Steinen und Dachpfannen verschwunden waren, drang Rauch aus den Lücken und Spalten hervor. Dort, wo der Schutt nicht ganz so hoch lag, klafften große Löcher zwischen den noch stehenden Resten der gemauerten Wände. Drinnen herrschte dunkle Stille.
Vor seinem inneren Auge rekonstruierte er die Lage der Gebäude: Hinter der Ruine der Novizenschule grenzten links im Winkel Waschhaus und Schreibstube an; auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes mit dem Brunnen - und somit gegenüber der Novizenschule - lagen der Wirtschaftstrakt und das Tuchlager... und im rechten Winkel der Schule befanden sich die Unterkünfte. Die Gebäudeteile bildeten zusammen mit dem Schulhaus ein Karree. Von seinem Platz aus schaute Valerio aber nur auf die Außenwand der Schule. Die anderen Gebäude und der Innenhof, um den sie angeordnet waren, lagen dahinter.
War dies hier denn der größere Teil der Zerstörung? Wie sah es auf der anderen Seite aus? Einen Moment lang schloss er die Augen, seine Hand griff nach unten und umfasste die vorstehende Kante der Mauer. Der Anblick des über zwei Stockwerke offenen Gebäudes erschreckte ihn, er fühlte sich benommen. So etwas hatte er noch nie gesehen; es sah falsch aus - als sei die Welt, wie er sie kannte, aus ihren Fugen geraten. Eben noch hatten sie friedlich zusammen gegessen, er hatte gesungen und niemand hatte an ein Unglück gedacht. Die massiven Mauern des Klosters schienen ihm immer so sicher, aber nun... dies hier konnte nicht real sein! Er wusste nicht, was er denken, aber noch viel weniger, wie er handeln sollte. Mit dem, was er hier sah, hatte er nicht gerechnet!
Er musste einen klaren Kopf behalten, musste überlegen, was er als Nächstes tun konnte. War denn sonst niemand hier? War er der Erste, der sich auf dieser Seite der Schule umsah? Oder gab es drüben auf der Hofseite bereits Hilfe? Von hier aus konnte Valerio allein nicht viel erreichen... Er musste auf die andere Seite hinüber, in den Innenhof hinein... Aber er wollte hier nicht weg, ohne einigermaßen sicher zu gehen, dass niemand in diesen Trümmern steckte.
Wo waren Maria und die Novizinnen? Lagen sie dort oben in einem der beiden Schulräume - verletzt? Oder tot? Oder waren sie in der Unterkunft eingeschlossen? Dort hinten schien es zu brennen, zumindest über der oberen Etage. Flammen züngelten aus dem teilweise eingestürzten Dach hervor... Er hielt den Atem an und horchte. Sein Puls drückte hart in Brust und Hals. Kein menschlicher Laut drang zu ihm herüber. Die beängstigende Stille pochte in seinen Ohren.
Er hustete, klopfte sich den Staub, der in einer dicken Schicht auf der Mauer lag, von den Händen. Plötzlich hörte er das Rieseln von Schotter. Einige Steine und ein langer Balken kamen dort hinten an einem noch stehenden Mauerstück ins Rutschen. Valerio verfolgte mit den Augen die Bewegung auf dem Berg von Trümmern... dann hörte es auf. Nur das leise Knistern der Flammen, die sich müde über die Dach- und Stützbalken der rechten Seite hermachten, drang nun noch an sein Ohr.
Hinter ihm, zu seiner Rechten und jenseits der Außenmauer des Klostergeländes, erhob sich der bewaldete Monte Subasio. Valerio fiel auf, dass die Vögel verstummt waren. Sie rochen das Feuer... Dort hinten hingen Rauchschwaden in den Bäumen. War dies denn schon das Ende des Brandes, würde es bald von selbst ausgehen? Oder konnte es noch schlimmer werden und alles, was drinnen war, würde gleich noch in Flammen aufgehen? Und wenn sie irgendwo eingeschlossen waren? Er hatte kaum Erfahrung mit Bränden dieser Art.
"Maria...? rief er zögernd.
Das Echo, das der Berg ihm in den Rücken warf, ließ ihn schaudern.
Einmal rief er - und noch einmal. Dann senkte er seine Stimme, gab alles hinein und rief ein drittes Mal, gestützt und kräftig nun, wie Camilla es ihn gelehrt hatte. "Maria! Seid ihr hier?"
Hier...hier...hier..., antwortete der Berg, als wollte er sich über ihn lustig machen, mit seiner Angst spielen. Ein schattiges Ungetüm in Valerios Rücken, schien er darauf zu warten, was dieser als nächstes unternehmen würde. Der Berg hatte alles gesehen. Er wusste, was geschehen war... und gab nichts preis. Seit Ewigkeiten sah er gleichmütig und unberührt auf das Glück und Unglück dieser Stadt hinab. Valerio hätte alles dafür gegeben, jetzt eine Antwort zu erhalten. Rocco, der Heiler, hatte immer behauptet, der Monte Subasio besäße einen Geist, den man befragen könne.
Valerio hielt sich den Ärmel seiner Tunika vor den Mund, um nicht zu viel von dem Staub und Qualm einzuatmen, der über der Szenerie in der Luft lag. Suchend schweifte sein Blick über den erhobenen Unterarm hinweg und nach Rechts hinüber. An der Ecke, an der die Unterkunft an das Schulgebäude stieß, war nichts zu erkennen. Der Staub legte sich langsam, verteilte sich in der Umgebung, aber im Winkel zwischen Schule und Wohntrakt bildete sich immer wieder neuer Rauch. Er erschwerte die Sicht.
"Maria! Wo seid ihr?" Er ignorierte den Spott des Berges und lauschte lieber auf die Stimmen und Geräusche, die womöglich aus den Trümmern kamen. Aber auch von der rechten Seite hörte er keinen Laut, keine Antwort. Da war kein Hinweis, kein Zeichen. Nichts.
Wie viele Novizinnen gab es zur Zeit? Es mussten mehr als zwanzig sein, dachte er, zusammen mit... den vier neuen.
Caterina. Wo bist du.
Der Gedanke bohrte sich in sein Herz wie ein schmales, spitzes Messer. Er sprach es nicht laut aus. Seine Lippen formten nur stumm die Worte. Kaum wagter er sich bewusst zu machen, dass er es tat, während sein Blick wieder und wieder über den Platz schweifte. Solange er nicht mehr über ihr Verschwinden wusste, nicht mehr gesehen hatte als dies hier, wollte er sich nicht erlauben, an das Schlimmste auch nur zu denken. Es gab zu viele andere Möglichkeiten, als dass sie hier unter diesen Steinen lag, redete er sich ein. Auch wollte er nicht das Echo hören, wenn er nach ihr rief... Einen Moment lang dachte er dennoch daran, es zu wagen. Aber er fürchtete sich vor der Angst, die darin mitschwingen würde.
Durfte er hoffen, dass sie alle hinten aus der Schule hinaus gelangt waren? Auch sie? Oder hatten sie das Essen noch gar nicht beendet, als das Dach einstürzte? Wo immer sie gewesen waren, als das Unglück geschah - Hatten sie sich in den Hof gerettet? Wie sah es dort aus?
Plötzlich wurde er wach, eine entsetzliche Unruhe packte ihn. Er musste von der Mauer herunter und die Gebäude umrunden. Er musste Gewissheit haben. Der schnellste Weg in den Innenhof hinein wäre durch eine Tür gewesen, die sich hier auf dieser Seite befand... befunden hatte. Denn sie war vollständig unter den Steinmassen verschwunden. Aber es gab eine Möglichkeit, in den Hof zu gelangen, ohne dass man in die Gebäude hinein musste: das große Tor zwischen Wirtschaftstrakt und Schreibstube! Im Hof lag es der Schule gegenüber.
Eilig machte Valerio sich an den Abstieg. Die Trümmer waren an dieser Stelle bis an den Fuß der Mauer heran gerutscht und hatten ihr ein gutes Stück Höhe genommen. Vorsichtig ließ er sich hinunter, prüfte den Untergrund, stieg über den Schuttberg hinweg und lief dann nahe am Gebäude entlang nach rechts auf die Unterkünfte zu. Dabei versuchte er immer wieder in die Schule hinein zu sehen, achtete auf jede Bewegung, jedes Geräusch, rief weiter nach Maria und den Novizinnen und horchte auf Antwort.
Zwanzig Frauen und Mädchen konnten doch selbst in diesem Chaos nicht einfach verschwinden! Wenn sie hier irgendwo in den Trümmern lagen... ihre weißen Schleier würden hier und da zwischen den grauen Steinmassen hervorleuchten, ein handgroßer Zipfel müsste bereits über viele Meter hinweg auffallen! Überlebende mussten doch irgendwie hörbar sein, dachte er. Sie schrien, gaben Schmerzenslaute von sich... zumindest wollte er das glauben.
War es also ein gutes Zeichen, dass er hier inmitten dieser Zerstörung keine geringste Spur von ihnen sah oder hörte? War tatsächlich niemand hier? Es fiel ihm schwer, diese verwüstete Stätte zu verlassen... er stellte sich vor, wie es wäre, wenn man später ihre Leichen doch noch hier finden würde - hier, wo er zu aller erst gewesen war. Wo er nicht gründlich und lange genug gesucht hatte. Caterinas Leiche. Und vielleicht hatte ihn dann nur ein Schritt, ein weiterer Ruf, ein genaueres Hinsehen oder Hinhören davon getrennt, sie rechtzeitig zu finden, bevor sie... Aber er konnte hier nicht stehenbleiben, es gab mehr zu tun. Er musste sich einen Überblick verschaffen. Also zwang er sich weiter zu laufen. Sie konnten überall sein.
Als er an die Ecke kam, an der die Unterkünfte begannen, sah er mit Erleichterung, dass der Wohntrakt beinahe unversehrt war - zumindest wirkte es so. Aber dort, wo das Dach zur Schule hin offen lag, brannte es im Gebälk. Der Rauch konnte sich im Gebäude bis in die untere Ebene ausgebreitet haben, lange bevor das Dach zusammenbrach, überlegte er... In diesem Gebäudeteil war er nie gewesen. Aber er ging davon aus, dass hier das Treppenhaus ebenso breit, offen und zugig war wie in der Schule. Zumindest von außen wiesen beide Gebäude dieselbe Bauweise auf. Wenn das Feuer dort oben unter dem Dach begonnen hatte, musste sich der Rauch langsam in die oberste Ebene hinunter gedrückt haben, dachte er. Und wahrscheinlich auch bis in die darunter.... Aber irgendwann hatten die Novizinnen es sicher bemerkt! Und es war nicht weit bis zum Ausgang.
Er kam zu dem Schluss, dass sie sich gerettet hatten. Es musste so sein! Er wollte es glauben. Und wenn sie verschwunden blieben, würde er sie im Gebäude finden! Seit ein Teil des Daches fehlte, konnte der Rauch nach oben abziehen. Wenn es möglich war, vom Hof aus in den Wohntrakt hinein zu gelangen, konnte man es wagen, sich dort drinnen umzusehen, die Luft musste gut genug sein... vorausgesetzt, die zum Hof gerichtete Seite war intakt und nicht ebenso eingestürzt wie die Rückseite der Schule.
Er erreichte nun ein schmales Stück Gras, auf dem keine Trümmer mehr lagen, und setzte sich in Trab. Ein beruhigtes, beinahe glückliches Gefühl durchströmte ihn bei dem Gedanken, dass Maria sicher alle wohlbehalten hinaus geführt hatte. Oh, er gönnte Orazia nicht, diejenige mit der besten Einschätzung der Lage gewesen zu sein, aber es ging ihm wie den Nonnen: Er wollte hoffen, dass sie Recht behielt. Auch, wenn er ihr trotzdem eines ihrer heiligen Bücher an den Kopf werfen wollte... Aber sie musste einfach Recht behalten. Denn alles Andere wäre...
Evelina. Der plötzliche Gedanke an die junge Novizin schlug ihm wie eine Faust in die Magengrube. Er hatte Evelina vergessen! Das Mädchen war irgendwo heraus geklettert. Sie hatte es ihm gesagt. Und sie hatte Blut an ihrer Hand gehabt, Blut, das nicht ihr eigenes war. Sie bewegten sich nicht, sie seien ganz still, hatte sie ihm hinterher gerufen. Eine Gänsehaut überzog seine Unterarme, als er an ihre dünne Stimme dachte, wie sie die bedeutsamen Worte in seinen Rücken rief, in dem Augenblick, als er sich von ihnen abwandte und loslief. Wie konnte er das Wenige vergessen, das er sicher wusste! Sie war so verstört gewesen... Es musste etwas Schlimmes passiert sein! Zumindest mit denen, die bei ihr gewesen waren. Es konnten zwei sein, von denen sie sprach - oder zehn. Oder... alle.
Vor ihm lag die nächste Ecke des Wohngebäudes. Valerio lief schneller. Warum hatte er Evelina nicht noch abgerungen, wo genau sie heraus geklettert war? Es wäre so wichtig gewesen! Es hätte Zeit gespart, die sie nicht hatten. Zeit, die Leben retten konnte! Er bog um die Ecke und rannte.
Der Wirtschaftstrakt! Das Tor! Beide Flügel standen weit offen. Im kurzen Tunnel, der den ersten Stock unterlief, drückten sich einige schaulustige Kinder aus dem Dorf herum. Als sie Valerio kommen sahen, machten sie ihm Platz. Der kühle Schatten im Tunnel schenkte ihm nur kurze Erleichterung, im Hof brannte die Sonne. Er lief am Brunnen vorbei, an dem zwei Frauen Wasser schöpften, und lief auf die Rasenfläche hinaus. Das Gras war mit einer feinen weißen Ascheschicht bedeckt. Die Luft schwelte vor Hitze. Staub und der beißende Geruch von Feuer standen zwischen den Wänden der Gebäude.
Atemlos hielt er an. Er hatte Durst, sein Mund war trocken und er spürte körnigen Staub auf der Zunge. Die winzigen Teilchen von Asche, die überall um ihn schwebten, brannten in seinen Augen. Im Hof standen Nonnen in Gruppen zusammen. Er entdeckte Filomena, Peppina und Donata vor der Unterkunft - Susanna und Camilla waren ebenfalls da, sie sprachen mit einem großen, breitschultrigen Mann, der ein Schmied sein musste - Er trug noch seine Lederschürze, seine Hände und Unterarme waren verschmutzt. Er zeigte zum halb zerstörten Dach hinauf, dann breitete er die kräftigen Arme aus und wies in einer breiten Geste auf den Säulengang hinunter. Er sagte etwas und Camilla nickte.
Nur drei oder vier Helfer aus der Stadt hatten sich bis jetzt eingefunden, mehr würden hoffentlich bald kommen! Das Schulgebäude war auf dieser Seite noch weitgehend unversehrt, abgesehen vom Dach, das vollkommen zusammengebrochen war. Am Wohntrakt, der sich links anschloss, war der Schaden zumindest auf den ersten Blick nicht so groß; auch auf dieser Seite fehlte ein Teil des Daches. Flammen schlugen heraus, aber die Mauern und Fensterhöhlungen waren über beide Stockwerke hinweg intakt. Dennoch erkannte er das Problem, das der Schmied mit Camilla besprach: Der Säulengang war über die gesamte Länge herunter gebrochen, nur wenige Abschnitte standen noch. Beide Eingänge ins Gebäude waren verschlossen.
Im Laufschritt näherte Valerio sich der Gruppe. "Maria", rief er, immer noch außer Atem. "Maria... ist sie hier?"
Als Camilla sich zu ihm umwandte und er ihren sorgenvollen Blick sah, stoppte er seinen Lauf. Langsam kam er die letzten Schritte heran. Sie berührte seine Wange mit ihrer trockenen, kühlen Hand. In ihren alten Augen glommen winzige Funken. Sie sagte nichts.
"Und... die anderen? Habt ihr sie gefunden?" Seine Stimme versagte.
Camilla ließ ihre Hand sinken. Zögernd schüttelte sie den Kopf. "Nicht eine."
Ende Teil 68
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