(7/6) Versprechen
Valerio schien darüber nicht gern zu sprechen. Er suchte sichtbar nach Worten.
„Illusion. "begann er. „Eine mächtige Kraft, die über Leben oder Sterben entscheiden kann. Gestern Nacht wärst du in einem Feuer gestorben, das nur du sehen konntest - wenn ich dir nicht gezeigt hätte, das es Illusion war." Er dachte nach. "Dann... derselbe Filter, der dir auch bei Zeitreisen nützlich ist, um unangenehme Eindrücke auszuschließen. Angst wird gedämpft oder verschwindet ganz. Vieles wird nicht wahrgenommen und streift die Erinnerung kaum. Aber bei starken körperlichen Schmerzen wird es schwieriger." Als Valerio Magnus' fragenden Blick bemerkte, erklärte er: „Ich lenke deine Wahrnehmung um, verknüpfe deine inneren logischen Verkettungen neu. Für diesen Moment. Danach richte ich dies wieder so ein, wie es war."
Magnus nahm einen Schluck von seinem Wein. Er schmeckte ein wenig bitter und krautig, es war eine schwächere Version des Getränks, das Valerio ihm in der letzten Nacht zubereitet hatte, nur dass es diesmal bereits abgekühlt war. Er vertraute Valerios Heilkünsten. Er nickte langsam. „Ich denke, ich verstehe, was du meinst. Wenn ich Schmerz nicht mehr als negativ und angstbesetzt wahrnehme, sondern zum Beispiel... als etwas Neutrales oder Nebensächliches, dann überstehe ich ihn leichter. Wenn du das dann nicht auflösen würdest, würde ich mich wahrscheinlich oft verletzen und es dann nicht als Warnsignal wahrnehmen, würde mich nicht kümmern, weil ich Schmerz weiterhin als bedeutungslos einordne."
Valerio nickte. „Exakt."
„Gut ... aber Illusionen und Hypnose lassen noch keine Knochenbrüche und Wunden innerhalb von vier Tagen heilen. Was war es also? Doch bestimmt nicht die Kräutermedizin der alten Anna?"
Valerio zog ein Bein an und umschlang es mit den Armen. „Du wirst knapp zwei Tage aus deiner Welt fort sein, mein Freund. Das gibt uns vierzig Tage in diesem Haus." Er fixierte Magnus mit den Augen. „...Verstehst du?"
„Du meinst... ich war mehr als vier Tage hier?"
Magnus betrachtete sein Profil, während er auf eine Antwort wartete. Die beginnende Dunkelheit ließ es gerade noch zu. Er wollte schon nachhaken, als Valerio sich plötzlich aufrichtete. Er atmete tief ein. "Es fehlten zwei Tage zu ... elf Wochen."
"Elf Wochen!" Was sollte man dazu sagen? Beinahe versagte ihm die Stimme, als er schließlich heraus brachte: „Aber... aber das kann doch gar nicht sein! Dann müsste ich mich doch an so vieles mehr erinnern ... Elf Wochen! Das ist eine lange Zeit."
„Erinnerung... ist ein instabiles Ding."
„Du hast in meinem Kopf herum gelöscht?"
„Nein. Es ist nichts gelöscht. Aber ich habe die lange Zeitspanne, die Eindrücke von Gewöhnung durch längeren Aufenthalt, viele der sich wiederholenden Routinen, aber auch markante Ereignisse und Szenen aus der Anfangszeit weit nach hinten gesetzt. Dorthin, wo man starke Auslöser braucht, um sich erinnern zu können. Trigger."
„Trigger..." wiederholte Magnus nachdenklich. „Ich erhielt Besuch von meinem Arzt. Wir unterhielten uns und er sah sich meinen Knöchel an. Er nannte den schnellen Heilungsprozess eine Art Wunder... Und urplötzlich erinnerte ich mich an Schmerzen, an das Feuer im Kamin, daran, dass ich hier auf dem Lager gelegen hatte, an das viele Blut..."
Valerio nickte langsam. „Ja", sagte er. „Ein Wunder nanntest auch du selbst die Heilungsprozesse, die du hier erlebt hast. Wunder war dein eigenes Wort dafür gewesen. Anders konntest du es dir nicht erklären." Er sah ihn ernst an. „Nein, ich habe dir keine Erinnerungen genommen. Ich habe nicht das Recht, so etwas zu tun. Diese Fähigkeiten sind kein Machtinstrument, sondern eine Verantwortung. Da du nun wieder hier bist und einige Zeit bleiben möchtest, befindest du dich im Radius einer Unmenge von Triggern. Ich selbst bin einer. Diese Umgebung hier, das Haus, aber auch jedes der Gespräche, die wir haben werden, wird dir ein Stück Erinnerung zurück bringen. Das Kaminfeuer. Der Blick aus den Fenstern. Unser Essen, der Wein, das Wasser... Der Kräutersud, den du in der letzten Nacht erhalten hast. Du kennst ihn. So viele Dinge, die dir bereits vertraut sind, die du aber zurzeit nur noch nicht erinnern kannst."
Aber warum hast du mir diese Erinnerungen nicht gelassen – ich meine, warum hast du sie mir versteckt, sozusagen?"
„Weil ich nicht wusste, wann du gehen und ob du noch einmal wiederkommen würdest. Du hast eigenartige und ungewöhnliche Dinge erlebt und gesehen. Dinge, die dein Weltbild unter Garantie vollständig aus den Angeln heben. Ein Weltbild, das du für das einzig brauchbare und sinnvolle hältst. Du brauchtest es noch! Wie sonst könntest du dort draußen in deiner Welt weiterleben?"
Magnus begann zu verstehen. Er dachte daran, wie er in all dem Chaos, das er nach den Tagen bei Valerio empfunden hatte, dennoch bald bereits so überzeugt zu dem Schluss gekommen war, dass Valerio ihm nichts angetan, sondern ihm geholfen hatte – und dass er Antworten für ihn bereit hielt. Antworten auf wichtige Fragen. Alles hatte nach einer Gewalttat ausgesehen, nach einer Entführung unter Einsatz irgendwelcher Rauschmittel womöglich... und doch hatte er gespürt, gewusst, dass die Geschichte eine völlig andere war.
Er musste noch erfahren, wie seine Verletzungen entstanden waren, das wusste er... Diese Frage war immer noch offen. Es war so seltsam, und es wurde ihm in diesem Moment erst vollständig bewusst: Die Ursache seiner Verletzungen interessierte ihn bei Weitem nicht so sehr wie die Ereignisse und Mysterien seiner Heilung.
„Mir scheint, du hattest dir mit meiner Heilung ein dickes Problem aufgehalst. Elf Wochen hast du dich um mich gekümmert, hast mich wieder aufgepäppelt und mich hier Tag für Tag versorgt! Du hattest eine Menge Arbeit wegen mir... all die Dinge, die du deswegen tun und bedenken musstest..." Er hielt inne, eine Frage drängte sich auf. "Aber... wenn da elf Wochen für Heilungsprozesse waren - warum hatte ich noch so heftige Schmerzen, als ich von hier flüchtete? Die großen Wunden waren zwar vollkommen verschwunden, aber die oberflächlichen Spuren, die doch in der Regel zuerst verheilen, waren zu sehen... sogar die Stauchungen an den Handgelenken und die Prellung an der Stirn, die doch längst verschwunden sein mussten! Und sie schmerzten, als sei mein Unfall erst einen oder zwei Tage her!""
Valerio nickte. "Du hast die Zeitsphäre zu früh verlassen, in der ich dich geheilt hatte. Die Prozesse verschieben sich zeitlich nach vorn oder zurück, wenn man inmitten solcher wesentlichen Vorgänge und Entwicklungen, insbesondere, wenn diese körperlich sind, die Zeit wechselt. Ich habe versucht, den Rückfall aufzufangen, indem ich dir gefolgt bin. Es war nur noch äußerlich. An den inneren Prozessen, der Heilung der Knochen, gab es nichts, was den Zeitwechsel nicht gut überstanden hätte."
"Ich ... erinnere mich. Du warst mehrmals da" Langsam schüttelte er den Kopf. "Warum? Warum hast du das alles getan?"
Valerio stand vom Boden auf, er ging zum Kamin hinüber. Er begann die Kerzen anzuzünden. „Wir... brauchen Licht." Mehr sagte er nicht.
„Warum ich?" Magnus blieb hartnäckig. Plötzlich fielen ihm seine Notizen ein. „In meiner Tasche befindet sich ein Kalender", erklärte er. „Bevor ich aufbrach, um dich zu suchen, hatte ich mir darin die wichtigsten Fragen notiert, die ich dir stellen wollte. Zumindest die, die mir in diesem Moment wesentlich erschienen. Eine der Fragen lautet: Warum ich?"
Während Valerio das Streichholz an die letzte Kerze hielt, warf er einen Blick zu ihm hinüber. Seine Antwort klang trocken, sachlich, und doch schwang da ein feines Beben mit. „Weil ich Schuld an deinen Verletzungen hatte." Er nahm den Leuchter mit zu ihm hinüber, setzte sich auf den Fußboden und stellte das Licht zwischen sie. Er schien auf seine Reaktion zu warten.
Magnus starrte ihn über die Flammen hinweg fassungslos an. War alles doch ganz anders, als er es sich zurechtgelegt hatte? „Du hattest... Schuld? Was ist passiert?"
Diesmal wich Valerio seinem Blick nicht aus. „Du erinnerst dich an den Abend, als ich dich das erste Mal mitgenommen hatte? An das Essen? Unser Gespräch am Kamin?"
"Ja. Einigermaßen."
„Ich habe dich... Ich musste etwas von dir erfahren. Etwas, das wichtig für mich war. Lebenswichtig. Das könnte es umschreiben. Ich wollte eine einzige Antwort, nur für diese eine Frage brauchte ich eine Antwort. Ich habe einen Fehler gemacht, den ich sehr bereue. Es gibt keine Entschuldigung, ich hätte nicht..."
Di dove sei ...
Die Worte waren aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht. Er hatte sie nur für sich selbst gesprochen, aber Valerio hatte es gehört. Seine Mimik erstarrte; dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, für den es nur ein Wort gab: Erschütterung.
„Di dove sei", wiederholte Magnus unsicher. Diesmal sprach er es laut. "Woher kommst du - das war es, oder?
Der feuchte Schimmer, den er plötzlich in Valerios Augen sah, überraschte ihn. Da war etwas in dieser emotionalen Reaktion, das er nicht klar erfassen konnte, und doch sprang es sofort auf ihn über und berührte auch ihn tief.
Er räusperte sich. „Das ist es, was du wissen wolltest, nicht?", fragte er noch einmal. Seine Stimme klang, als hätte sie sich irgendwie verklemmt, er bekam es nicht weg. Er nickte nachdenklich. „Ja, genau. Das war es, ich erinnere mich wieder."
Valerio bemühte sich sichtlich um Beherrschung. "Woran noch? Was weißt du noch von diesem Moment?"
Magnus suchte in seiner Erinnerung. Langsam schüttelte er den Kopf. "Ich war... ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich glaube, ich wollte weg." Er lachte unsicher. „Das alles, dieses eigenartige Gefühl, beinahe so, als sei ich nicht mehr ich selbst, die Panik... das ist schwer zu beschreiben! Und du warst irgendwie so.... mein Brot fiel herunter und ich reagierte gar nicht." Er fühlte sich hilflos, wusste nicht, wie er seinen Zustand beschreiben sollte. „Das war mir unheimlich", erklärte er. „Du hattest vor mir gestanden, hattest mir diese Frage gestellt... In meinem Kopf. So wie du oft in meinen Gedanken sprichst. An diesem Abend hast du mir eine Scheißangst gemacht. Ich dachte, du hättest mir etwas in den Wein getan."
„Nein. Du darfst sicher sein, da war nichts im Wein, im Wasser oder im Essen gewesen. Es waren... Zeitwandererkräfte." Seine Mundwinkel zuckten, beinahe lächelte er. „Aber du gerietst in Panik, ja. Du bist schließlich aufgestanden, bist in den Flur gelaufen, dann weiter zur Treppe..."
„Ich bin dort hinunter gestürzt? Hättest du mich denn nicht aufhalten können? Ich meine, ich weiß inzwischen, wie schnell du sein kannst... deine Kräfte, dein Reaktionsvermögen sind gigantisch! Du konntest meinen Unfall nicht verhindern?"
Valerio starrte in die Dämmerung. „Ich habe einen Fehler gemacht", sagte er schließlich leise. „Es... es gibt ein Versprechen. Ich hatte den Ehrgeiz, es einzuhalten, ich wollte es nicht brechen."
„Ein Versprechen? Wer hat da wem etwas versprochen – mit der Folge, dass meine Wenigkeit schließlich eine steinerne Treppe herunterfällt und sich alle Knochen bricht?"
Valerio schob den Leuchter beiseite, neigte sich vor. Als er ihm die Hand auf den Unterarm legte, zuckte Magnus zusammen. „Hör mir zu. Vertraue mir. Ich werde dir alles erklären. Es ist noch zu früh. Aber eines kann ich dir jetzt bereits sagen: Du selbst hast mir dieses Versprechen abgenommen. Dir musste ich es versprechen. Es war mir heilig. Es ... es war dennoch ein großer Fehler, es in diesem Moment wahren zu wollen."
Magnus verstand gar nichts mehr. Seine Stimme versagte. „Ich?", brachte er fiepend heraus. Er räusperte sich wieder und es wurde ein wenig besser. „Ich habe dir ein Versprechen abgenommen? Wann soll das bitte gewesen sein? Müsste ich mich daran erinnern? Oder hast du auch hier...?"
Valerio schwieg.
„Gut." Er atmete schwer aus. Er fühlte sich angespannt bis zum Platzen, Kopfschmerzen machten sich breit, und davon hatte er in der letzten Woche bereits genug gehabt. „Also: Was bitte ist der Deal zwischen uns? Welches Versprechen solltest du mir geben? Entschuldige bitte, aber ich erinnere mich buchstäblich an nichts."
„Dass ich dich nicht gegen deinen Willen festhalte. Dass ich meine Kräfte nicht missbrauche, um meinen Willen gegen deinen durchzusetzen, wenn du... Magnus, glaube mir, es ist zu früh. Die falsche Frage, ein schlechter Zeitpunkt! Bitte vertraue mir, wir kommen darauf zurück. Du brauchst viel mehr Information, bevor du das verstehen kannst."
Er war unzufrieden, verärgert. Er fühlte sich auf seltsame Art ausgeschlossen. Ausgeschlossen von einer Geschichte, die auch seine zu sein schien. Er suchte in Valerios Gesicht nach Wahrheit, nach einem neuen Anker für sein Vertrauen, da es sich aufzulösen begann. Er hasste dieses Gefühl, diesen Zustand. Erstaunt wurde er sich bewusst, dass es ihn schmerzte. Ja, es tat weh. Es tat weh, sein Vertrauen erneut in Frage gestellt zu sehen. Er wollte ihm vertrauen! Er wollte... Er ballte eine Faust auf der Decke. Er wollte gegen eine Wand schlagen, auf einen Tisch, aber es war keiner da. Wut auf sich selbst und sein Leben, Angst vor Verlust, Traurigkeit erfüllten ihn auf einmal, drohten seine Selbstsicherheit hinweg zu schwemmen. Vertrauen - oder vielmehr, es zu verlieren, in Menschen, die ihm etwas bedeuteten - dies schien zurzeit sein Thema zu sein. Er wollte vor ihm nicht weinen.
Valerio hatte ihn beobachtet. Als hätte Magnus etwas gesagt, nickte er leicht. Seine Worte kamen vorsichtig, mit Bedacht.
„Vertrauen, Magnus, ist nicht die Kunst, Belege und Beweise in einer Kiste zu sammeln und sie zum Richter zu bringen, damit sie geprüft werden und damit anhand ihrer Gültigkeit eine Wahrheit entwickelt wird." Sein Blick wurde sanft, als er die geballte Faust betrachtete. „Die Wahrheit besteht bereits jetzt. Sie wird nicht gemacht, nicht in unseren Köpfen, nicht in unseren Herzen, bei keinem Gerichtshof dieser Welt. Sie ist. Ich vertrete sie hier, weil ich sie kenne. Und du könntest versuchen zu erspüren, ob du ... ihre Anwesenheit wahrnehmen kannst. Der Rest befindet sich in dieser imaginären Kiste, denn natürlich gelten in dieser Sache auch Fakten. Die Dinge in der Kiste müssen aber warten, bis der richtige Zeitpunkt da ist, eines nach dem anderen anzusehen. Wir werden das tun. Ich verspreche es dir. Du hast erlebt, wie hartnäckig ich meine Versprechen halte." Ein Lächeln schlich sich in seine Stimme, als er nachschob: „Zuletzt hättest du dir an meiner Hartnäckigkeit und Konsequenz beinahe das Genick gebrochen. Wir wollen darauf achten, dass es nicht noch einmal geschieht."
Magnus seufzte. Er öffnete seine Faust. „Ich vertraue dir. Aber mein Magen ist ein riesiges Loch. Hast du etwas zu essen für mich da?"
Valerio lachte auf, er schien erleichtert. „Na komm", forderte er Magnus auf und erhob sich. "Zieh dir etwas an. Und dann kommst du an den Kamin. Ich werde sehen, dass ich in der Zwischenzeit etwas zu essen für uns finde." Er sah sich in dem dämmrigen Raum um. Dann wies er auf den Kerzenleuchter. „Nimm den mit, wenn du hier fertig bist. Dass uns das Haus nicht noch in Flammen..." Er brach den Satz ab. „Vergiss das. Bring ihn mit."
Magnus konnte noch nicht einmal nicken, da war Valerio bereits aus der Tür hinaus und verschwunden.
Ende Teil 54
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