(7/2) Wer bist du
Magnus horchte auf. "Ein Geschenk... Von wem?"
"Von Anna."
"Deine Freundin?"
Der Blick, in dem Magnus nun so etwas wie Enttäuschung, wenn nicht sogar Verletzung zu sehen glaubte, ließ Valerio in diesem Moment um Jahre älter wirken.
"Anna war meine Lehrerin." Seine Stimme hatte einen kühlen Unterton. "Die alte Nonne aus dem Kloster in Assisi. Sie lehrte Kräuterkunde und heilte Kranke. Du bist ihr selbst begegnet, im Kräutergarten." Seine Augen funkelten und die Konturen seines Gesichts, die Schatten unter Wangenknochen und Kinn, hatten plötzlich etwas Scharfes.
Magnus schwieg unsicher. Er fühlte sich hilflos... Valerio beharrte so sehr darauf, in dieser historischen Zeit gelebt zu haben! An diesem Punkt waren sie nun schon mehrmals angekommen.
"Dies ist die Wahrheit, eine der großen", sprach er weiter. "Eine von der Sorte, die man überhört, wenn man sie überhören möchte. Ich war Annas Schüler, fünf Jahre lang. Wir hatten ein besonderes Verhältnis. Ich habe wunderbare Dinge von ihr gelernt und hatte ihr viel zu verdanken. Ich liebte sie wie eine Großmutter. Ich bin 1497 geboren, wie ich es dir gesagt habe. Du hast es ignoriert und ausgeblendet, weil du damit nicht umgehen kannst. Es passt nicht in dein Konzept, das längst fertig und abgeschlossen war, bevor wir einander begegneten. Aber bevor du mein Geburtsjahr nicht als Wahrheit akzeptierst, kannst du mich nach meinem Alter fragen, soviel du willst, kannst mich fragen, wer und was ich bin oder mir all diese anderen Fragen stellen. Und ich könnte dir antworten, hundertmal, tausendmal, und jedes Mal nichts als die Wahrheit sagen, und du kämst doch nicht weiter. Nicht mit mir. Und vor allem nicht mit dir selbst."
Er machte eine Pause, ließ seine Worte wirken. Dann sagte er: "Vergiß dies nicht, Magnus Weber: Wenn ich hier nun nicht lüge, sondern die Wahrheit sage, dann fand die Realität und Wahrhaftigkeit meines Lebens bereits Jahrhunderte vor deiner Geburt statt. Dein aktuelles Weltbild ist Jahrhunderte jünger als die Wahrheit und Realität dessen, was ich bin. Ich mag das Ei oder die Henne sein, suche es dir aus. Aber es ist ein Fakt, dass ich zuerst da war. Ich war Realität, lange bevor du in die Lage kamst, über Weltbilder auch nur nachzudenken."
Magnus schluckte. Etwas, das Valerio zu ihm in der langen Gasse gesagt hatte, in der Nacht ihrer ersten Begegnung, klang plötzlich laut durch seine Erinnerung: Verschwende nicht deine Zeit mit Spott, hatte er zu ihm gesagt. Und er hatte ihn Signor Arroganza genannt.
"Gut", willigte er schließlich ein. Mehr sagte er nicht. Er nickte langsam. Vielleicht war es diese unglaubliche Müdigkeit und Kälte, die ihn seit seinem... seit dieser Erfahrung vorhin übermannt hatte. Valerio hatte recht. Es war viel geschehen seit ihrer ersten Begegnung, viel Seltsames. Er hatte viele Fragen mitgebracht - und dazu die Idee, dass die Dinge, die er erlebte, die ihm geschahen, nicht normal waren, sondern womöglich ungewöhnliche Erklärungen benötigten. Beim letzten Mal hatte er vergessen, nach dem Weg, nach Valerios Wohngegend zu fragen. Diesmal hatte er noch mehr Fragen mitgebracht. Er wollte nicht den Fehler machen, sie nicht zu stellen. Ja, Valerio hatte vollkommen Recht, gestand er sich ein. Wenn er nicht offen für die Antworten war, konnte er sich seine Fragen schenken. Jede Stunde hier wäre Zeitverschwendung.
Während er grübelte, holte Valerio den dampfenden Tiegel aus dem Feuer. Einen Augenblick hielt Magnus den Atem an - er wollte ihn gerade warnen, als er sah, wie er den metallenen Griff fasste, obwohl dieser doch glühend heiß sein musste! Aber Valerio schien sich nicht zu verbrennen. Vielleicht war der lange Stiel nicht mehr original und aus einem Material, das Hitze nicht gut leitete...
Das Gebräu roch krautig und würzig. Valerio füllte den Sud vorsichtig in einen Becher um. Magnus setzte sich auf und nahm die Arme unter der Decke hervor, um das Trinkgefäß in Empfang zu nehmen. Es war heiß, er konnte seine Hände daran wärmen.
"Warte noch." Valerio griff nach der Weinflasche und füllte den Becher mit Wein auf.
Magnus hielt die Nase über den Dampf. In irgendeiner Ecke seines Kopfes regten sich Erinnerungen. Aber er kannte sich nicht aus mit Kräutern, er hatte keine Ahnung, was Valerio ihm hier zu trinken gab.
"Es wärmt und bringt dich wieder zu Kräften, das ist alles. Du kannst mir vertrauen."
"Ein Tip von der alten Anna?"
Valerio lächelte. Er nickte.
"Ich hatte eine Menge Fragen, die ich dir stellen wollte", erklärte Magnus. "Und ich glaube, ich bin jetzt soweit." Er hielt Valerios Blick stand, der bei seinen Worten aufmerksam geworden war, und fuhr fort: "Du sagtest, du seist 1497 in Assisi geboren, in Umbrien. Das ist also ein Fakt?"
Valerios Geste mit der Hand bejahte dies. Ansonsten blieb er still, er schien ihn nicht unterbrechen zu wollen.
Bevor Magnus weitersprach, nippte er vorsichtig von seinem Becherrand. Es schmeckte scharf und würzig, dazu ein wenig bitter, aber es war gut. Der Wein gab dem Ganzen ein wenig Süße. Beherzt nahm er zwei Schlucke und fühlte, wie sich die Wärme in seinem Hals ausbreitete. "Du hattest mir von deiner Kindheit erzählt", fuhr er schließlich fort. "Dann gabst du mir Gelegenheit selbst zu sehen und nachzufühlen, was du in deiner Jugend erlebt hast - wer du warst, wer die Leute waren, mit denen du deine Jugenderfahrungen geteilt hast. Du warst ein Klosterschüler, du hast... Medizin, Anatomie, Kräuterkunde und auch Musik und Gesang studiert. Und du hast dich in eine der Novizinnen verliebt."
Valerio schloss die Augen. Die kleine senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen vertiefte sich. Er nickte. Als er die Augen wieder öffnete, stand darin tiefer Schmerz.
Es ist wahr, dachte Magnus, als er ihn so sah. Es musste wahr sein...
"Dein Vater war Kaufmann, ebenso wie Caterinas Vater. Und er verließ dich und deine Mutter, als du ungefähr fünfzehn warst", setzte er seine Beschreibung fort. "Deine Mutter... eine Kaufmannstochter. Sie war gläubig. Sie widmete sich kirchlichen Aufgaben, während du im Kloster studiertest."
"Ja", sagte Valerio leise.
"Die Details, die ich vorhin... gesehen und nachempfunden habe, waren kein Produkt meiner eigenen Fantasie, sondern sie waren Teil deiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen während du... wie alt warst?"
"Zwanzig."
Magnus nickte. "Ja. Ich erinnere mich, Uberta hatte dich das auch gefragt, auf dem Dach."
Valerio schwieg. Er schien sehr ernst, beinahe so, als habe er lange auf diesen Moment gewartet und wollte nun nichts zerstören, indem er ihn unterbrach. Magnus irritierte die intensive Aufmerksamkeit und Erwartung, die er hinter Valerios Haltung und Gesicht wahrzunehmen meinte. Auch das konnte erfragt werden, dachte er. Aber immer der Reihe nach! Zuerst wollte er hier nun weitermachen.
"Du sagtest bereits mehrmals, manche Fragen könnten nicht gleich beantwortet werden, sondern müssten warten, weil zuvor andere Dinge gesagt und andere Fragen geklärt werden müssten.... Wenn ich eine solche Frage stelle, dann sage mir einfach, wenn sie nicht gleich beantwortet werden kann."
Valerio nickte wieder. Er hing nun an Magnus' Lippen, als könnte von dort etwas kommen, das lebenswichtig für ihn war. Magnus spürte es so deutlich, dass er ihn jetzt gleich auch danach fragen wollte.
"Es ist... wichtig für dich, dass wir das alles hier nun tun? Ich meine, dass ich hier bin, dass ich mich darauf eingelassen habe... Dass ich verstehe, was du mir sagen willst... Vierzig Tage, sagtest du? Es bedeutet dir etwas?"
Valerios Stimme klang heiser, er schluckte. "Ja."
"Okay ..."
Magnus war plötzlich eigenartig berührt. Noch niemals hatte jemandem der Kontakt mit ihm, ein Gespräch oder seine pure Anwesenheit so viel bedeutet... Er wusste nicht, warum es für Valerio so bedeutsam war, er hatte nicht die Fantasie, es sich vorzustellen. Er konnte nicht sagen, woher er es nahm, aber er hatte zugleich auch das Gefühl, dass es kaum Sinn machte, jetzt auch noch danach zu fragen. Das gehörte wahrscheinlich zu den Dingen, die sich später von selbst erklärten. Er verkniff sich daher die Frage nach Valerios Beweggründen für diese Zusammenkunft und kam wieder auf das alte Thema zurück. Diesmal wollte er die Dinge systematisch aufrollen und den roten Faden nicht verlieren.
"Du bist also 1497 geboren. Ist das... ein vergangenes, ein früheres Leben, das du damals geführt hast? Ein Leben vor... diesem?"
"Nein."
"Sondern...?" Magnus führte den Becher zum Mund und trank, während er über den Becherrand hinweg auf Valerio hinab sah. Der Wein hatte das Gebräu schnell abkühlen lassen.
"Es ist also kein... früheres Leben?" Magnus wollte ganz sicher gehen. Er hatte geglaubt, mit dieser Vorstellung, von der Lena immer schon überzeugt gewesen war, an dieser für ihn schwierigen Stelle nun weiter zu kommen. Und er war ein wenig irritiert, dass eine Erklärung, die hier doch am ehesten greifen müsste, offenbar unbrauchbar sein sollte.
"Nein", wiederholte Valerio. "Es ist das einzige Leben, das ich jemals gelebt habe."
Magnus stutzte. "Aber... du lebst doch auch hier und heute, in diesem Moment?"
"Ja. Ich lebe dieses eine Leben. Von damals bis zum heutigen Tag."
Valerio wirkte vollkommen ernst, seine Augen verrieten keinen Scherz. Obwohl Magnus bereits wusste, dass er einigen Humor besaß. Aber wenn er so ernst war wie in diesem Augenblick, dann meinte er die Dinge exakt so, wie er sie sagte.
Fieberhaft rechnete Magnus nach. "Verstehe ich das also richtig... Du möchtest sagen, du bist in diesem Moment, so, wie du hier vor mir sitzt...fünfhundertneunzehn Jahre alt?"
Magnus stellten sich die Haare an den Unterarmen auf, als er es auf den Punkt brachte. Er fröstelte immer noch unter der Decke. Er trank noch einige Schlucke mehr von dem Kräutersud, der nun langsam zu wirken begann.
Valerio schüttelte den Kopf. "Nein", sagte er, "ich möchte nicht sagen, dass ich fünfhundertneunzehn Jahre alt bin. Ich muss es sagen, da du mich danach fragst. Ich sage es ansonsten zu niemandem, sondern behalte es für mich. Weil ich mich unsichtbar fühle, wenn man diesen Fakt über mich ignoriert, als hätte ich gar nichts gesagt. Dies ist die übliche Reaktion der Leute, wenn ich über mich spreche." Er warf die Haarsträhnen zurück, die ihm in die Stirn gefallen waren. "Weltbilder", sagte er verächtlich.
Er bedachte Magnus mit einem harten Blick. "Wenn du diese Wahrheit nun schon wieder beiseite schiebst und mir nicht glaubst, ist hiermit deine letzte Möglichkeit vertan, mit mir über meine Person und die Besonderheiten und Hintergründe langer Leben zu sprechen. Da blieben uns dann nur noch die kleinen und alltäglichen Themen. Bedenke aber, wie lange ich bereits unterwegs bin und wie viel Erfahrung ich sammeln konnte. Du wirst dir vorstellen können, dass ich mich sehr schnell mit Menschen langweile, die nicht einmal hundert Jahre alt werden können. Insbesondere, wenn sie es nicht bewerkstelligen können, dass wir über etwas anderes als sie selbst und ihre persönlichen Horizonte sprechen."
Magnus fühlte, wie ihm die Situation entglitt. Er wusste nicht, was er darauf noch sagen sollte.
"Du musst mir die entscheidende Frage stellen", erinnerte Valerio ihn.
Als Magnus ihn unsicher und irritiert ansah, lächelte er. Magnus wusste, was er meinte, er glaubte es jedenfalls. Aber wohin würde das führen? Wie bizarr konnte es noch werden? Fünfhundertneunzehn Jahre! Aber hier waren sie nun, und die Geschichte brauchte eine Erklärung.
"Wer ... oder was ... bist du?"
Es war ausgesprochen. Die Frage stand im Raum und konnte nicht mehr zurück gezogen werden. Er hatte sich auf dieses Gedankenspiel eingelassen, er hatte ernsthaft zugesagt, offen zu bleiben für alles, was Valerio zu sagen hatte.
"Ich bin Valerio Alesso Colleone." Seine Worte klangen fest und es war kein Zögern, keine Lüge darin. "Ich lebe seit fünfhundertneunzehn Jahren. Ich bin unsterblich. Ich selbst nenne mich Zeitwanderer. Die Welt hat dafür ein anderes Wort: Vampir."
Ende Teil 50
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