(6/7) Lautenunterricht
[Oben: Liebevoll ausgewählte akkustische Untermalung fürs Lesen!]
Maria zog den Hocker unter dem langen Wäschetisch hervor, der an der Wand stand.
„Setz dich mal hier hin."
Zögernd kam er näher und nahm am Tisch Platz.
Sie griff sich einen zweiten Hocker. Aus der großen Tasche ihres Nonnengewandes nahm sie ein Bündel hervor und legte es vor ihm auf den Tisch. Es war mit einem Stück grauem Leinen umwickelt. Eine Lederschnur hielt es zusammen.
Sie nickte ihm zu. „Öffne es." Ihr Blick war fest auf ihn gerichtet
Was sollte das sein? Schließlich gehorchte er, löste den Knoten und schlug den Stoff auf.
Er schluckte. Auf dem ausgebreiteten Leinen lagen drei Haarzöpfe. Einer war dunkelblond und dünn, der andere war dicker, ungefähr eine Hand lang und dunkelbraun. Der letzte war ebenfalls dunkel, wesentlich länger als die anderen beiden und nur locker geflochten. Valerio kannte alle drei.
Er hielt Marias Blick stand. Sein Kopf arbeitete fieberhaft. Was sollte das nun? Was genau wollte sie ihm damit sagen?
„Das sind Haare. Zöpfe", merkte er an, da er nichts Klügeres zu sagen wusste.
Maria nickte langsam. „Ja", sagte sie. „Das sind Zöpfe. Es sind drei."
Er spürte einen Kloß im Hals. Wollte sie auf das hinaus, was er befürchtete? Er konnte hier nur ahnungslos tun, denn was sonst blieb ihm übrig... Er wusste ja noch nicht einmal, worum es ihr tatsächlich ging! Es durfte doch nicht so schlimm sein, dass da einer der Zöpfe fehlte!
„Ja, drei sind es, das sehe ich", entgegnete er vorsichtig. Er sah sie fragend an. „Warum zeigst du sie mir? Was ist mit diesen Zöpfen?"
Maria atmete tief ein. „Ich habe vier neue Novizinnen", erklärte sie. „Und hier habe ich drei Zöpfe."
Er schwieg betroffen. Gern hätte er den Blick abgewendet, aber er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen, er wollte keinen schuldbewussten Eindruck machen.
„Sieh mich nicht so an, Valerio. Diese Zöpfe hatten am Schwalbentor im Empfangsraum gelegen, auf der Fensterbank. Dort, wo Evelina, eine von den Vieren, sie hinlegen sollte, nachdem ich sie den Mädchen abgeschnitten hatte. Ich habe diese Zöpfe eingesammelt. Vier neue Novizinnen, Valerio. Ein Zopf fehlt. Du hast ihn nicht zufällig irgendwo gesehen?"
Er hatte in diesen Sekunden eine Entscheidung getroffen. Er war aus seiner Erstarrung erwacht. Er konnte nicht überblicken, was es bedeutete, welche Folgen es haben würde, wenn man ihn verdächtigte, den Zopf gestohlen zu haben. Darum fragte er, und er war sich des hörbaren Zögerns in seinen Worten bewusst: „Wo sollte ich denn einen Zopf gesehen haben, Maria?"
Die Schwester sah ihn nachdenklich an. „Valerio... es könnte doch sein, dass du an dem Tag - es war vorgestern nach Mittag – zufällig dort vorbei kamst. Und vielleicht hast du dort... jemanden am Fenster gesehen? Irgendjemanden? Ich denke, dass jemand den Zopf mitgenommen haben könnte."
Maria wirkte sehr vorsichtig mit dem, was sie sagte. Sie schien sich heran zu tasten. Er konnte nicht abschätzen, wie viel sie wusste, was sie wirklich dachte und was genau sie mit ihren Fragen und Anmerkungen bezweckte.
„Aber warum sollte denn jemand einen dieser Zöpfe stehlen?", fragte er zurück. „Nein." Er schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden mit einem Zopf gesehen."
Er hatte sich absichtlich so ungenau ausgedrückt. Er hatte nicht gesagt, ob er selbst an diesem Tag am Schwalbentor gewesen war. Er ließ es offen, um nur so viel zugeben zu müssen, wie Maria bereits sicher wusste.
Maria wirkte ruhig und gelassen, aber er spürte, wie vorsichtig und überlegt sie vorging. „Nun", sagte sie und strich mit dem Finger über das Ende des blonden Zopfes. „Der Zopf, der mir hier fehlt, ist ein ganz besonderer Zopf."
Valerio richtete sich auf seinem Hocker auf. Sie sah ihm direkt in die Augen, beobachtete sein Gesicht, als sie sagte: „Er ist rot. Und es sind die schönsten Haare, die wir hier in der Abtei jemals abgeschnitten haben, denke ich." Den zweiten Satz hatte sie wie nebenbei angehängt. Ihre Stimme war gleichmütig gewesen, beinahe wirkte es, als hätte sie nur zu sich selbst gesprochen. Valerio empfand ihre Anmerkung jedoch wie einen Köder, den sie ihm direkt vor die Füße warf.
Sie beobachtete ihn weiter, sah, wie sich eine leichte Röte über Gesicht und Hals zog. Es hatte funktioniert. Sie wusste, der Junge war sehr klug, also führte sie ihn auf seine Gefühlsebene, dort, wo sein Verstand nicht König war, sondern leicht überwältigt werden konnte.
Maria legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Valerio, hör mir bitte zu. Es ist wichtig. Ich habe deine Laute vorgestern unter dem Fenster gefunden, als ich die Zöpfe von der Fensterbank nehmen wollte. Du musst dort gewesen sein, zu dieser Stunde. Denn als ich die Mädchen in den Raum führte und das Fenster öffnete, stand deine Laute noch nicht da, ich bin ganz sicher. Du kannst von Glück sagen, dass ich es war, die das Instrument entdeckt hat. Und nicht etwa Orazia."
Er sah auf ihre Hand, die immer noch auf seinem Arm lag, dann wanderte sein Blick zu ihrem Gesicht hinauf. Sie klang aufrichtig. Und besorgt. Auch wenn er den Grund dafür nicht verstand. War er denn in Gefahr, sein Studium zu verlieren? Hatte Uberta Recht gehabt mit ihrer Warnung? Konnte er Maria dann aber sagen, dass er den Zopf hatte, dass er ihn in seiner Kammer unter seiner roten Tunika in seiner Kleidertruhe versteckte? Er wollte ihn nicht wieder hergeben müssen!
„Valerio. Ich muss diesen Zopf schnell finden. Es ist wichtig." Die Hand drückte leicht seinen Arm, der Daumen strich hin und her. „Wenn du mir helfen kannst, den Zopf... wieder zu finden..., wäre ich dir sehr dankbar."
Sie machte ihm ein Angebot. Er hatte verstanden.
Aber er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wo er sein könnte, Maria. Jeder könnte ihn doch mitgenommen haben, wenn er dort am Fenster lag." Maria ließ ihn nicht aus den Augen, während er sprach. Er wusste, sie erwartete hier nun mehr als ein Kopfschütteln und Achselzucken von ihm. Seine Laute hatte unter dem Fenster gestanden! Er sollte jetzt besser selbst etwas dazu sagen.
„Richtig, meine Laute hatte ich dort am Fenster vergessen, ich erinnere mich", gab er nun zu. Maria schien sich wirklich Sorgen zu machen und er mochte sie, sie war immer freundlich und gerecht und er hatte nie erlebt, dass sie schlecht über jemanden sprach. Er vertraute ihr – und doch war die Sache mit dem Zopf etwas anderes. Es war sein Zopf. Er verwahrte ihn für das Mädchen. Dennoch wollte er so viel wie möglich eingestehen und offen zugeben, um vor ihr nicht vollständig als Lügner dazustehen.
„Ich gebe zu, ich war in dem Moment vorbei gekommen, als die neuen Novizinnen dort im Raum waren", gestand er. „Ich war auf dem Weg zur Obstwiese, als ich deine Stimme durch das offene Fenster hörte. Und Orazia, die war auch da. Sie war sehr... laut gewesen, es war mir im Vorbeigehen aufgefallen... Du hattest ihr widersprochen, ich konnte nur den Tonfall hören und dass ihr euch nicht einig wart, aber ich konnte nicht verstehen, worum es ging. Also kam ich näher heran, denn das interessierte mich!"
Er sah sie unsicher an. „Ich mag Orazia nicht besonders gern und ich fand es mutig von dir, dass du ihr widersprachst. Ich... Ich wollte das hören. Und dann habe ich bemerkt, dass auch die Mädchen im Raum waren. Und ich dachte mir, das müssten die neuen Novizinnen sein..."
Er errötete noch einmal, als er bemerkte, dass er beinahe eingestanden hatte, sich gedanklich bereits mit den Novizinnen beschäftigt zu haben. Schnell fügte er hinzu: „Ich war vorher bei Peppina in der Backstube gewesen, hatte ihr Beeren vorbei gebracht. Als ich fragte, warum sie Johanniskuchen backte, erzählte sie mir, dass es vier neue Novizinnen gäbe... daher wusste ich von ihrer Ankunft."
Maria nahm die Hand von seinem Arm und lächelte. „Na, das muss sich ja schnell herum gesprochen haben!" Sie nickte. „Und was meine Auseinandersetzung mit Orazia betrifft: Ja, das hast du richtig gehört", bestätigte sie ihm. „Ich war nicht einverstanden mit Orazia. Sie machte den neuen Mädchen Angst. Und sie beleidigte und beschimpfte eine von ihnen sogar, das war völlig unnötig."
Wie gern hätte Valerio Maria jetzt nach dem Mädchen mit dem roten Zopf gefragt! Er hatte nicht verstanden, warum Orazia sie „Hexenkind" genannt hatte und was die Anspielung auf ihren Familiennamen sollte.
„Nun, ich habe Orazia rausgeworfen", lächelte Maria und ein schelmischer Zug spielte um ihre Mundwinkel. „Sie musste nicht dabei sein, wenn ich den Mädchen die Haare... Sag einmal, warst du da eigentlich noch unter dem Fenster?"
Valerio zuckte die Schultern, er überlegte einen Moment. Was sollte er Maria nur sagen? Er wollte keine Schwierigkeiten, er wollte nicht riskieren, dass sie den Vorfall mit Orazia oder sogar mit der Äbtissin besprechen musste! Er durfte kein Interesse an den Mädchen zeigen, erst recht durfte er sich nicht mit ihren Zöpfen beschäftigen!
„Ich muss überlegen... Ja, zumindest bei dem ersten Zopf war ich noch da... und vielleicht noch bei dem zweiten. Ich weiß es, weil du dabei Psalmen gesungen hast. Aber dann bin ich losgelaufen, ich musste ja schnell weiter. Und dabei habe ich dann meine Laute an der Mauer stehen gelassen."
Maria versuchte aus seinem Gesicht zu lesen. Sie nickte. „Gut", sagte sie. Du kannst mir also nicht weiterhelfen..."
Valerio ignorierte ihre gespielte Resignation, er wusste damit nicht umzugehen. Stattdessen wagte er eine Frage. „Wird denn jemand erfahren, dass ich am Fenster gewesen war? Musst du es melden?"
Maria stand auf. Sie wickelte das Leinentuch wieder um die Zöpfe und befestigte es mit der Lederschnur. Dann versenkte sie das Paket in ihrer Gewandtasche. Sie ließ sich Zeit, ließ ihn zappeln, jedenfalls dachte Valerio, er müsse ihr Zögern so auffassen.
Umso erstaunter war er, als sie sich schließlich zu ihm herunter beugte und sagte: "Nein. Natürlich nicht, was denkst du. Wir alle haben Freunde hier in diesem Kloster, so auch du. Du hast nichts falsch gemacht." Sie näherte sich seinem Ohr. Sie sprach nun so leise, dass nur er es verstehen konnte. "Aber was du hier jetzt gerade tust, könnte ein Fehler sein. Einer, der nicht dich, sondern das Mädchen in Schwierigkeiten bringen wird."
"Das Mädchen? Du meinst das Mädchen, dem der verschwundene Zopf gehört?" Valerio war nun aufmerksam. So hatte er noch gar nicht gedacht!
"Ja", sagte Maria schlicht und richtete sich auf.
"Aber wie kann es ihr schaden, wenn ihr Zopf... gestohlen wurde?"
Maria warf einen Blick zur Tür. In der Stille, die entstand, hörte man Uberta im Nebenraum fluchen, dann plätscherte es laut, sie füllte die Bottiche mit Wasser auf. Sicher hatte sie inzwischen die ersten zwei Eimer selbst heran geschleppt.
"Geh nun und hilf, Uberta braucht dich", sagte Maria und wandte sich zur Tür.
"Maria, warte noch!" Valerio sprang von seinem Hocker auf. "Wie kann es sein, dass es dem Mädchen schadet, wenn ihr Zopf weg ist?"
Die Nonne drehte sich noch einmal zu ihm um, sie sprach ebenso leise wie zuletzt. "Indem man denkt, sie selbst habe ihren Zopf gestohlen. Es ist ein altes Ritual, Valerio, dass die Frauen zum Zeichen ihrer Unterwerfung unter die Regeln des Klosters und der Kirche ihre Haare geben. Es ist die Trennung und Loslösung von weltlichen Eitelkeiten und äußeren Attributen. Sie letztlich doch nicht herzugeben, sondern zu behalten, sie sich sogar heimlich wieder anzueignen, dies demonstriert hartnäckigen Widerstand und eine Untergrabung heiliger Regeln."
"Aber es weiß doch niemand, dass einer der Zöpfe fehlt?" Valerio war aufgebracht.
"Jetzt nicht, nein", antwortete Maria. "Aber die Äbtissin lässt mir mitteilen, dass sie den Zopf des Mädchens sehen will."
"Aber warum denn das?"
Maria bedeutete ihm leiser zu sprechen. "Ich weiß es nicht, mein Junge. Orazia hatte mit Bonifatia gesprochen, gleich am Tag der Ankunft der neuen Novizinnen. Sie muss ihr verschiedene Dinge über das Mädchen berichtet haben. Du hast ja gehört, dass Orazia auf sie nicht gut zu sprechen war - das wird ein einseitiger Bericht gewesen sein. Orazia ist ein einfältiges Weib, weißt du. Je weniger Bildung, desto mehr können Vorurteil und Aberglaube den Kopf beherrschen. Sie fürchtet das Mädchen so sehr, ich kann mir vorstellen, dass sie die Äbtissin mit ihrem Reden neugierig gemacht hat. Nun will sie den Zopf sehen, ihre Haare - an dem Mädchen selbst ist ja nicht viel davon übrig geblieben."
Sie seufzte tief. "Aber wenn die Haare verschwunden sind", fuhr sie fort, "wird Bonifatia das Mädchen zu allererst selbst verdächtigen. Orazia selbst könnte sie versteckt haben und der Äbtissin dann die Idee in den Kopf gesetzt haben, sich den Zopf zeigen zu lassen... um dem Mädchen ernsthaft Ärger zu machen. Wenn dies der Fall ist, wird niemand ihr helfen können. Die Äbtissin wird den Fall dem Klosterabt vortragen und dieser könnte sich Rat an höherer Stelle suchen. Das wird ein Flächenbrand, Valerio, der kaum aufzuhalten ist."
Valerio war erschrocken, seine Gefühle standen ihm im Gesicht. Niemals hätte er gedacht, dass seine spontane Idee, den Zopf an sich zu nehmen, solche Folgen haben konnte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
"Denk darüber nach. Du weißt, wo du mich findest", sagte Maria. "Sprich mit niemandem darüber. Und warte nicht zu lange, falls du etwas für sie tun kannst."
"Ja...", murmelte Valerio. Dann kam es ihm in den Sinn, die Frage zu stellen, die ihn bereits beschäftigte, seit er am Fenster gelauscht hatte.
"Maria!"
Sie war schon an der Tür.
"Wie heißt sie?"
Maria lächelte schmerzlich. Sie betrachtete sein Gesicht, den hoffnungsvollen Ausdruck in seinen Augen, dann schüttelte sie den Kopf. "Oh nein, Valerio. Du würdest ihr mehr Unglück bringen als sie bereits hat. Ausgerechnet jemanden wie dich braucht sie nun nicht auch noch. Lass sie in Ruhe. Mach es nicht noch schlimmer für sie. Es ist gut für sie, wenn du dich nicht mit ihr beschäftigst. Du brauchst ihren Namen nicht. Je weniger du weißt, desto besser ist es. Darum behalte auch unser Gespräch für dich. Ich muss mich auf dich verlassen können."
Ohne seine Reaktion abzuwarten schlüpfte sie zur Tür hinaus.
Ubertas kräftige Stimme scholl aus dem Nebenraum und hallte unter dem gewölbten Dach des Säulenganges wieder.
"Maria! Nun warte doch! Was hat er denn nun ausgefressen, der Bengel? Mich kann man nicht täuschen, ich bekomme es sowieso aus ihm heraus!"
Valerio hörte Marias Stimme, kühl und abgeklärt und gänzlich frei von Sorge und dunklen Geheimnissen.
"Lautenunterricht, Uberta. Es geht um Lautenunterricht. Aber er sagte mir, er sei so beschäftigt mit seinen zahlreichen Aufgaben und dem Studium der Heilkräuter, dass er im Moment nicht unterrichten kann. Somit hat es sich also für jetzt erledigt. Ruiniere ihm nicht seine begabten Hände mit deiner Wäscherei und den vielen groben Arbeiten, meine Gute! Er taugt für mehr als häusliche Arbeit. Bis später, wir sehen uns beim Komplet. Meine Mädchen warten."
Uberta schaute Maria nachdenklich hinterher. Valerio stand im Dämmerlicht des Wäscheraumes und starrte auf die offene Tür, durch die Maria verschwunden war. Seine Gedanken hatten aufgehört sich im Kreis zu drehen. Er wusste, was er zu tun hatte.
Ende Teil 46
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