(6/6) Aufgetaucht
Warum brauchte der Junge schon wieder so lange! Uberta stand unter dem Dach des Säulenganges, die roten Hände in die Hüften gestemmt, und schaute auf den Innenhof hinaus. Der Regen strömte herab, als hätte der Herrgott die Kontrolle über seine eigene Schöpfung verloren! Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und hob das rundbackige Gesicht zum grauen Himmel.
Die Wolkenberge, die sich über Mittag vor dem Monte Subasio zusammen geschoben hatten, waren nicht mehr zu sehen – stattdessen gab es dort oben nun eine geschlossene Decke aus dichtem, düsterem Grau, aus der das Wasser erbarmungslos herab rauschte. Gleichzeitig grollte und donnerte es über der Ebene. In der Luft lag eine Spannung, die der Nonne bis in die Haarwurzeln ging.
Uberta fürchtete sich nicht vor Gewitter, solange es nicht unmittelbar über ihrem Kopf stehenblieb oder der Blitz neben ihr einschlug. Aber sie ärgerte sich, dass ausgerechnet an ihrem Waschtag die Luft so voll Wasser war, dass man beim Einatmen ertrinken konnte. Wie sollte sie bis morgen früh die Wäsche trocken bekommen? Bis vor zwei Jahren hatten sie immer den Säulengang genutzt, der an den Gebäuden entlang rund um den Innenhof verlief. Dies ergab eine gute Strecke Leine, so dass es genügte, eine einzige Reihe zu hängen und so die Mitschwestern bei ihrem Gang unter dem Dach nicht allzu sehr zu behindern.
Die Äbtissin hatte dieser sehr weltlichen Nutzung des Ganges schließlich ein Ende gemacht und Uberta gesagt, sie solle die Prozedur des Waschens bei Regenwetter dann eben auf mehre Tage verteilen und den kleinen Durchgangsraum zum Waschhaus nutzen, um die Wäsche dort nach und nach zu trocknen. „Der Herrgott hat uns kein Fell gegeben, sondern Kleidung", hatte Uberta ihr geantwortet. „Dass diese auch einmal gewaschen werden muss, wird er sicher nicht als Beleidigung auffassen. Es sind Kleider, die für den Dienst am Herrn gebraucht werden. Warum sollten sie hier nicht einen Tag im Monat hängen?"
Sie hatte den Blick der Äbtissin nicht vergessen, als diese bissig angemerkt hatte: „Dann hängt eure Kleider am besten gleich in die Kirche, Uberta. Wir könnten Leinen vom Altarkreuz bis zur Statue des Heiligen Franziskus spannen. Dort haben unsere Gäste aus dem Kloster den besten Blick auf die Wäsche, wenn sie unserem Gottesdienst beiwohnen."
Damit war alles gesagt. „Das Kloster", das war das große Franziskanerkloster, das zur Basilika des Heiligen Franziskus gehörte. Das kleine Nonnenkloster, das hier, am anderen Ende der Stadt lag, war in Assisi allgemein als „die Abtei der Schwestern" bekannt. Die Abtei erhielt aus unterschiedlichem Anlass Besuch von den Mönchen des Franziskanerklosters. Es war einer Äbtissin zwar erlaubt, mit eigener Hand und selbständig ein Kloster zu leiten, aber sie durfte im Konvent nur die alltäglichen Beschwerden regeln und über die üblichen Angelegenheiten und Streitigkeiten richten. Die ernsten und größeren Anliegen mussten dem Klosterabt vorgetragen werden. Dieser schickte dann Mönche zur Abtei, die Angelegenheit zu regeln und sein Urteil zu überbringen, oder er selbst kam her. Auch zu den Weihen der Novizinnen waren der Abt und einige Mönche anwesend, um die Profess, das Treuegelübde abzunehmen. Und wenn in der Abtei jemand verstarb, durfte die letzte Ölung nur von einem der Mönche vollzogen werden, da die Frauen als unwürdig für die Umsetzung solch heiliger Ämter galten. Dies alles war Uberta durchaus bewusst.
Es war verständlich, dass die Äbtissin bemüht war, vor dem Kloster vor allem die geistlichen Aufgaben und Interessen der Abtei und dazu deren strikte Achtung und Wahrung zu demonstrieren, anstatt vor den Würdenträgern so offen die alltäglichen häuslichen Beschäftigungen und dazu ausgerechnet die Wäsche fraulicher Ordenskleidung zur Schau zu stellen. Uberta wusste aber auch, dass – abgesehen von Sterbefällen in der Abtei - stets voraus zu sehen war, wann Besuch aus dem Kloster erwartet wurde. Die nächste Profess war noch weit, kein heiliger Feiertag, kein hoher Festgottesdienst war in Sicht! Und soweit sie wusste, gab es auch keine groben Verstöße gegen die Ordensregel oder die Römische Kirche, über die in den nächsten zehn Stunden in dieser Abtei Recht gesprochen werden musste. Auch mit Sterbefällen war gerade nicht zu rechnen. Alle Schwestern waren wohlauf – und nur bei der Äbtissin war Uberta nicht ganz sicher, ob sie nicht jederzeit einem Mord erliegen konnte, da sie die Schwestern mit ihrer Art und ihrer Einmischung in tägliche Arbeitsabläufe regelmäßig zur Weißglut brachte.
Uberta atmete die feuchte Luft ein, seufzte und überlegte, ob sie den Jungen rufen sollte. Aber wie sie Angelo kannte, saß er wohl auf dem Dachboden der Novizenschule und stöberte in einem alten Buch, oder er hatte irgendetwas anderes gefunden, das ihn seine Pflicht vergessen ließ. Sie machte sich lächerlich, wenn sie nun hier draußen gegen den Donner anrief. Wenn er noch auf dem Dachboden war, hörte er sie sowieso nicht! Außerdem war sie sich gar nicht so sicher, ob der Junge überhaupt ihr Schimpfen von Donnergrollen unterscheiden konnte. Wenn sie mit ihm schimpfte – und dies war jeden einzelnen Tag der Fall – behandelte er sie wie das Wetter: Er nahm ihr Donnerwetter hin wie eine Naturerscheinung, an der sowieso nichts zu ändern war. Sie konnte ihn also rufen, er konnte sie sogar hören, sehr deutlich sogar – und doch bedeutete dies noch lange nicht, dass er sich entschied, ihrem Ruf zu folgen.
Aber sie verlor Zeit mit der Wäsche! Diese lag hinten in den Zubern, das Wasser wurde kälter und sie hatte noch kein frisches neues Wasser zum Spülen im Kessel. Vielleicht sollte sie selbst schon einmal beginnen und mit zwei Eimern zum Brunnen laufen? Dann konnte sie zumindest schon einmal das Holz unter dem Kessel anzünden! Oh, ihre alten Knochen! Hoffentlich kam er bald! Missmutig schaute sie zu den Fenstern der Schule hinüber. Wenn er wenigstens die Dachluke hinter sich wieder geschlossen hatte...
Es sah nicht so aus, als wollte es in der nächsten Stunde aufhören zu regnen. Uberta stand unschlüssig unter dem Dach und krempelte ihre Ärmel, die vorhin beim Walken der Wäsche herunter gerutscht und nass geworden waren, wieder auf. Seine Schuhe waren hoffentlich zu retten gewesen, dachte sie und wünschte, es möge ihm einfallen, sich hier endlich zum Helfen einzustellen.
Aber es nützte ja nichts, es musste nun weitergehen; sie wollte nicht länger tatenlos herum stehen. Entschlossen nahm sie die beiden leeren Eimer, die an der Wand standen, trat unter dem Dach hervor und in den Regen hinaus.
„Uberta! Warte", erscholl es plötzlich aus dem Gang vor dem Wirtschaftstrakt. Maria stand dort hinten unter dem Dach zwischen zwei Säulen und winkte zu ihr herüber. Überrascht hielt Uberta inne, bewegte sich in den Schutz des Ganges zurück und stellte die Eimer wieder ab. Maria hatte sich in Bewegung gesetzt. Mit eiligen Schritten kam sie zu ihr herüber. In der Hand hielt sie etwas, das Uberta als Angelos Laute erkannte, als sie näher kam.
„Ach! Hat er sie mal wieder irgendwo liegen gelassen?", begrüßte sie die jüngere Schwester.
Maria wirkte ernst hinter ihrem Lächeln. Uberta kannte sie gut genug, um zu spüren, dass ihr Besuch noch einen weiteren Grund hatte.
„Ja, ich bringe seine Laute. Ist Valerio bei dir?" Sie sah sich suchend um. „Peppina sagte mir, er würde dir beim Waschen helfen."
Uberta schnaufte. „Ja, zumindest sollte er das. Aber im Moment hat ihn gerade der Erdboden verschluckt!" Sie wandte sich um und blickte achselzuckend über den Hof. „Er müsste längst wieder hier sein, er wollte nur seine Schuhe vom Dach holen. Offenbar hat ihn der Blitz getroffen – oder er sitzt irgendwo und zählt die Donnerschläge! Oder er denkt über den Regen nach und wie viele Tropfen in Umbrien fallen müssen, um den Monte Subasio vollständig mit Wasser zu bedecken." Sie lachte freudlos über ihre eigenen Worte. „Was immer er jetzt gerade treibt, es ist bestimmt eine halbe Stunde her, dass ich ihn weggeschickt habe!"
Auf Marias Stirn zeigte sich eine steile Falte. „Er wird aber nicht vom Dach gestürzt sein?"
„Der? Vom Dach gestürzt?" Uberta lachte laut auf. „Er wurde auf dem Dach geboren! Oder auf einem Baum oder einer Kirchturmspitze! Wenn einer weiß, wie man bei Regen auf dem Dach herum klettert, dann unser Valerio! Da mach dir mal keine Sorgen, meine Liebe, er hat die Sinne und das Geschick einer Katze! Wahrscheinlich sitzt er irgendwo im Trockenen und träumt und putzt sich sein nasses Fell."
Maria stellte die Laute vorsichtig an die Wand. Mit dem Fingernagel musste sie eine der Saiten berührt haben, sie gab einen vollen, vibrierenden Ton von sich. Einen, zwei Augenblicke lang füllte er den Raum unter dem Dach, dann verschluckte ihn das Rauschen des Regens. Nachdenklich betrachtete Maria das Instrument.
Schließlich brach Uberta das Schweigen zwischen ihnen. „Wie steht es mit deinen neuen Schützlingen, leben sie sich gut ein?" Sie war entschlossen zu erfahren, was Maria tatsächlich herführte und hatte vor, es ihr zu entlocken. Zuvor wollte sie die Schwester, die heute so still war, ein wenig aufwärmen für ein kleines Gespräch über etwas, das sie interessieren würde. Ihr war nicht entgangen, wie abwesend Maria wirkte und wie unruhig ihr Blick war, mit dem sie sich nun bereits das zweite Mal umsah. Ihr Anliegen schien den Jungen selbst zu betreffen, denn warum sonst sagte sie nichts davon? Die Laute hatte ihr als Vorwand wohl gut gepasst, um hierher zu kommen; sie hätte das Instrument ja auch einfach in der Studentenschule abgeben können, man hätte es Valerio weitergereicht. Ganz sicher gab es noch etwas anderes, was sie auf dem Herzen hatte.
Uberta hatte schon gedacht, sie würde gar nicht auf ihre Frage reagieren, als Maria sich ihr endlich zuwandte. „Die Novizinnen?" Sie wirkte aufgeschreckt, sie musste tief in Gedanken gewesen sein. "Ach ja, die Mädchen...", seufzte sie. „Doch, sie sind sehr aufmerksam und freundlich, ich mag sie, alle vier." Sie lächelte. „Sorgen mache ich mir um die Jüngste, Scalea. Sie ist so dünn und klein, man könnte sie für eine Neunjährige halten! Wir müssen sie gut füttern, damit sie bis zum Winter zu Kräften kommt. Ich werde versuchen, sie bis dahin ein wenig zu verstecken, sie soll nicht hart arbeiten, bis sie nicht zumindest ein wenig Speck auf den Rippen hat. Aber du kennst ja Bonifatia Agostina. Wenn sie auf die Idee kommt, das Mädchen in eine harte Prüfung zu nehmen, kann ich nicht viel dagegen tun." Sie sah in den Innenhof hinaus und schwieg wieder.
„Du könntest ihr sagen, dass sie in Bonifatias Unterricht so gut mitmachen soll, wie sie eben kann", entgegnete Uberta. „Sie soll sich anstrengen. Meinst du nicht, es wäre gut, wenn man sie warnt, damit sie nicht gleich das Interesse der Äbtissin auf sich zieht? Wenn sie fleißig ist und schnell lernt, fällt Bonifatia womöglich gar nicht erst ein, das arme Kind in die Mangel zu nehmen." Sie rollte mit ihren runden Augen. „Ach, Maria ... es ist eine Schande, dass dieser Drache sich immer die schwächsten Opfer sucht."
Maria nickte ernst. „Ja", sagte sie leise. Dann starrte sie weiter in den Regen hinaus.
Uberta warf einen Seitenblick zu ihrer Mitschwester hinüber. Die braunen Augen wirkten so besorgt, dass sie nicht anders konnte: Sie wagte einen direkten Vorstoß.
„Ist etwas mit dir, Maria? Du wirkst so grüblerisch. Hast du hast Sorgen? Du weißt, du kannst es mir erzählen, bei mir ist es sicher. Wir beide kennen einander lange genug."
Maria begegnete Ubertas rundem Blick. Sie schien zu überlegen. Schließlich fragte sie: „Wo, sagtest du noch, hattest du Valerio hingeschickt?"
Eine seltsame Frage war das.
„Na, aufs Dach, seine Schuhe holen. Er hatte sie gestern dort oben liegen gelassen. Irgendwie war es meine Schuld, ich hatte mit ihm geschimpft und ihn vom Dach geholt, er sollte Beeren aus der Küche abholen und sie zu Peppina bringen. Johanniskuchen musste sie machen. Für die Begleitung einer der neuen Novizinnen." Sie zog die Stirn in Falten. "Das Appiani-Mädchen. Oho, ganz feine Leute, die Herrschaften! Aus Florenz. Man spricht seit der letzten Woche davon."
Sie bemerkte, wie die Jüngere zusammen zuckte; sie bezog es auf den Donner, der in diesem Moment hinter ihnen über den Berg grollte.
Maria schüttelte den Kopf. "Du weißt, ich gebe nichts auf solchen Tratsch, Uberta. Ich höre da nicht hin." Sie atmete tief ein. "Nein, ich meinte nicht, was er tun sollte. Ich hatte gefragt, wohin du ihn geschickt hast. Du sagst, er sollte aufs Dach? Auf welches Dach denn?"
Uberta begann sich ernsthaft zu wundern. „Also..., wenn das wichtig ist...", murmelte sie und zuckte mit den runden Schultern. „Die Schuhe ... sie lagen auf dem Dach der Novizenschule. Er sollte sie dort wegholen, weil der Regen anfing."
In Marias Augen flackerte es einen Moment auf. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, hörte man eine Tür hinten am Ende des Ganges klappen und Valerio kam im Laufschritt aus den Schatten des offenen Gebäudes heraus. Als er die Frauen sah, zögerte er und mäßigte sein Tempo. Er schien froh, Uberta nicht allein begegnen zu müssen.
Oh, sie hatte zumindest ein wenig mehr Schuldbewusstsein von ihm erwartet! Als er durch den Säulengang auf sie zukam, erschien er ihr ausgesprochen gut gelaunt, ja, er strahlte sogar! Die Wangen waren rosig und seine Augen hatten einen Glanz, der Ubertas scharfem Blick nicht entging. Na, der Junge muss ja eine gute Zeit gehabt haben in der letzten halben Stunde, dachte sie erbost. Er schenkte den Schwestern sein schönstes Lächeln, begrüßte Maria überaus freundlich und bat Uberta mit den Augen um Verzeihung – ihm war sehr bewusst, dass er sie mit der Arbeit allein gelassen hatte.
Uberta blieb ernst. Sie ruckte mit dem Kopf Richtung Wand und sagte knapp: „Sieh mal hier, du Streuner. Maria hat deine Laute gefunden."
Valerio wurde blass. In Sekunden langem Erschrecken starrte er auf das Instrument, das hinter den Frauen an der Wand lehnte, dann bedankte er sich geistesgegenwärtig. „Das ist lieb, Maria, ich ... hatte sie schon vermisst." Mehr fiel ihm in diesem Moment nicht ein, so überrumpelt war er. Er nahm die Laute und murmelte, er würde sie eben wegbringen und dann das versprochene Wasser für den Kessel holen, doch Maria hielt ihn auf. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Warte noch, Valerio. Kann ich dich eben sprechen? Es dauert nur einen Moment." Sie warf einen Blick zu Uberta hinüber, die diesen neugierig erwiderte. Was ihren Angelo betraf, verhielt sie sich wie eine Mutter.
„Hat er sich etwas zuschulden kommen lassen, der Bengel? Angelo, was ist los? Was hast du angestellt?"
Valerio war unsicher und überrascht. Fieberhaft überlegte er, was Maria von ihm wollen könnte. Wenn es mit der Laute zu tun hatte, konnte er es sich bereits denken. Wie sollte er sich nun verhalten?
Maria kam ihm zuvor und versicherte: „Ach nein, Uberta, mach dir keine Sorgen, es ist nichts! Ich möchte ihn nur etwas fragen. Es geht um eine Kleinigkeit. Ich hoffe, dass er helfen kann." Sie warf Valerio einen schnellen Blick zu. „Na komm eben, es dauert nicht lange. Und dann kannst du Uberta das Wasser holen und ich bin schon wieder unterwegs! Ich habe gar keine Zeit mehr! Ich muss die Mädchen zum Komplet abholen, dass sie pünktlich in die Kapelle kommen."
Während Maria Valerio ins Waschhaus hinein schob, schickte sie Uberta noch ein Lächeln über die Schulter zurück. Uberta konnte sich des Gefühls nicht erwehren, irgendwie ausgeschlossen zu sein. Maria machte tatsächlich keine Anstalten, sie im letzten Moment doch noch einzuladen, dem Gespräch beizuwohnen - also ging sie seufzend in den Nebenraum, wo ihre Wäsche in großen Zubern unter einer dicken Schicht kalt gewordener, schmieriger Seifenlauge lag.
Ende Teil 45
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro