(5/5) Die Ankunft
Die Stunde auf dem Dach hatte Valerio schläfrig gemacht. Es war ein heißer Nachmittag; die Luft, die sich hinter der Küche staute, brachte ihn zum Gähnen. In jeder Hand einen der hölzernen Eimer tragend folgte er der Außenmauer des Gebäudes.
Selbst das Gras unter seinen Füßen war warm. Als er es bemerkte, fielen ihm seine Schuhe ein, die er auf dem Dach der Schule liegen gelassen hatte ... Seine Gedanken drifteten ab. Wenn er sich zuhause im Spiegel betrachtete, wenn er sah, wie ihm seine Hemden um Schultern und Rücken zu knapp und die Ärmel zu kurz geworden waren - oder wenn er seine unermüdlich neu sprießenden Barthaare mit der Klinge wegschabte, die seine Mutter ihm geschenkt hatte – dann war ihm sehr bewusst, wie schnell er gewachsen war. Er war ein Mann geworden, hatte Uberta gesagt. Seine Schuhe brieten jetzt gerade auf dem Dach in der Sonne. Offenbar hatte sich in all den Jahren seine Angewohnheit, seine Schuhe überall auszuziehen und sie an allen möglichen Orten zu vergessen, nicht geändert. War er wirklich schon erwachsen? Wann war man ein Mann? Musste man dazu nicht große Taten vollbringen? Erwachsene Dinge tun, Verantwortung übernehmen? Bemerken, wenn man die Schuhe irgendwo liegen ließ?
Eine Fliege surrte ihm vor der Nase herum, seit er um die Ecke des Küchengebäudes gebogen war. Sie begleitete ihn und wich nicht von seinem Gesicht. Er hielt die Eimer mit den Beeren in beiden Händen, darum schüttelte er im Gehen behelfsweise seine offenen Haare, um die Fliege zu verscheuchen. Bei dieser Wärme trug er die mehr als schulterlangen Haare meistens zurück gebunden in einem Zopf, aber heute Morgen hatte er das Lederband, das er dafür verwendete, zuhause vergessen.
Die Fliege hatte inzwischen Gesellschaft, es waren nun zwei – und sie ließen sich durch das Schütteln seiner Mähne nur kurz verscheuchen, dann waren sie wieder da. Es mussten die Beeren sein! Er hatte draußen vor der Küchentür kurz angehalten und zwei Hände voll Beeren gegessen, nun fanden ihn die Fliegen wahrscheinlich unwiderstehlich. Unermüdlich brummten sie vor seinem Gesicht herum. Er musste die Eimer loswerden! Er packte die Henkel fester und ging schneller. Am Ende des Küchentraktes beugte er sich unter dem kleinen Tor hindurch und lief quer über den winzigen Innenhof zur Backstube hinüber. Vor der schweren Eichentür, die halb offen stand, schienen die Düfte sich so sehr zu vermischen, dass seine lästigen Begleiter sich ablenken ließen und verschwanden.
„Ah, Uberta hat dich gefunden!" Peppina kam ihm eilig über den kleinen Flur entgegen und wollte ihm die Eimer abnehmen.
„Nein, lass sie mir, sie sind schwer", ignorierte Valerio ihre Anmerkung. „Zeig mir nur, wo du sie hin haben willst."
Die schmalschultrige, knochige Frau ging voraus in die Backstube und wies auf die steinerne Ablage, die an der rechten Wand entlang durch die Hälfte des Raumes ging. „Hier hinauf", sagte sie. Dann lief sie zu den drei Schalen aus Olivenholz hinüber, die auf einem Tisch in der Mitte des Raumes standen, und begann den Teig in der ersten zu kneten.
„Ich habe schon gewartet", schnaufte sie und hielt nach einigem Drücken und Schieben inne, um den störenden Schleier mit einem Schwung ihres Kopfes über die Schultern nach hinten zu werfen. Er kannte Peppina gut genug, um zu wissen, dass ihre Laune heute nicht die beste war. Und er hatte Recht gehabt. „Ich bin in Zeitnot," erklärte sie. „Die Johanniskuchen müssten längst in den Ofen, mir verbrennt schon das ganze Holz und ich habe immer noch nichts drinnen." Mit ihrer großen schmalen Nase, die gar nicht zu dem kleinen Gesicht und dem noch kleineren Mund passen wollte, deutete sie zum Ofen hinüber. „Du kommst spät. Magst du wenigstens eben helfen und mir die anderen beiden Teige kneten, damit ich schon die Formen vorbereiten kann?" In ihrem Ton lag hoffnungsvolle Erwartung.
„Nein, ich kann leider nicht bleiben, es tut mir leid", antwortete Valerio entschuldigend. „Sie brauchen mich auf der Obstwiese. Soll ich dir jemand schicken?"
„Ach, lass nur, Valerio ... Bis jemand hier ist, bin ich längst fertig." Sie hob die Brauen. "Dann sollen die Herrschaften sich eben so lange mit Brot begnügen." Sie wirkte müde und verärgert. „Wir sind ... ein Kloster und ... keine Gastwirtschaft" presste sie angestrengt hervor, während sie dem Teig mit ihren dürren Armen weitere Schübe verpasste, "und ich ... ich bin ... eine Nonne, keine ... Zauberin."
Valerio konnte seine Neugierde nicht verbergen. "Wieso backst du eigentlich so spät noch? Kommt heute den noch Besuch? Wer ist es denn?" Er wusste, dass das Kloster ganz unterschiedlichen Gästen offen stand. Da waren die Pilger, die um Unterkunft und Verpflegung baten, dann hoher Besuch aus Rom oder Florenz, geistliche Würdenträger aus den Klöstern der Umgebung – und hin und wieder natürlich auch Übernachtungsgäste, die zusammen mit den Anwärterinnen auf das Noviziat herkamen und nach den üblichen Formalitäten wieder abreisten.
Johanniskuchen wiesen aber wohl eher auf höheren Besuch hin. Ganz sicher ging es hier nicht um die Bewirtung von Familienmitgliedern, die ihre Angehörige bei ihrem Eintritt ins Koster begleiteten oder um die Versorgung von Pilgern. Valerio half an mehreren Tagen in der Woche aus, wenn die Pilger versorgt wurden. Er wusste, dass es für sie vor allem Brot und einfache Suppen gab. Kuchen wurden an Reisende und einfache Gäste höchstens einmal im Jahr, an Ostern, verteilt, aber niemals mitten im Sommer. Die Pilger hatten vielmehr Bedarf an der Pflege wundgelaufener Füße oder der Behandlung kleinerer Wunden und Insektenstiche. Und man bot ihnen Kräutersude für die alltäglichen Übel wie Darmkrämpfe, Schnupfen oder Husten an.
Peppina kippte den Teigklumpen auf den Holztisch, dass das Mehl um sie staubte. Mit dem Messer schnitt sie kleine Abschnitte, die sie in Mehl wälzte und auf einen Haufen warf.
„Vier neue Mädchen, drei mit Begleitung", schnaufte sie und hielt inne, um ein Niesen zu unterdrücken.
„Konversschwestern?", fragte Valerio. „Es wäre Bedarf hier in der Backstube und in der Küche, seit Marzia krank ist. Und bald ist Ernte am Westhang. Das Getreide ist reif. Wir könnten gut einige Hände mehr gebrauchen."
Konversschwestern-Anwärterinnen wurden zumeist von den Bauern und Arbeitern der Umgebung ins Kloster gebracht, oft einfach aus dem Grund, weil sie dann nicht auf den Höfen und in den Familien versorgt werden mussten und dazu auch eine anständige religiöse Erziehung erhielten. Sie konnten das Kloster auf eigenen Wunsch oder zum Heiraten jederzeit wieder verlassen, da sie keine Gelübde auf Lebenszeit ablegten, sondern zum Arbeiten herkamen. Im letzten Sommer hatte er mit einigen Konversschwestern zusammen am Hang gearbeitet und dabei unter anderem erfahren, dass sie im Rang weit unter den Novizinnen standen und auch nicht wie diese bei der Profess ein umfassendes Gelübde auf Lebenszeit ablegten; sie gelobten lediglich der Äbtissin Gehorsam, Keuschheit und die Einhaltung der Klosterregeln, solange sie sich im Kloster aufhielten. Sie waren die Arbeiterinnen des Ordens und wurden für die Feldarbeit, das Backen und Kochen oder die Wäsche und Näherei dringend gebraucht. Zurzeit gab es zu wenige Konversschwestern im Kloster. Bonifatia Agostina hatte in der Gegend bekannt geben lassen, dass willige und freie Töchter verarmter Bauern sich im Kloster melden konnten. Ihr Platz sollte die Familien nichts kosten ausser ein paar Gebete für das Wohl der Schwestern und der Mutter Oberin. Vielleicht waren die neuen Mädchen eine erste Reaktion auf ihre Bemühungen.
Peppina kippte den nächsten Teigklumpen auf den Tisch und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Konverssschwestern. Noviziatanwärterinnen, alle vier", sagte sie. „Aus Perugia, Montepulciano und von hier, aus der Stadt. Und eine von unten. Aus der Ebene."
„Ah", entgegnete Valerio, weil ihm nichts anderes einfiel. Aus den knappen Informationen der Nonne erschloss sich ihm noch immer nicht, was nun die Johanniskuchen rechtfertigen sollte, aber er fragte nicht weiter.
Peppina klatschte die abgeschnittenen Teigwürfel ins Mehl und jedes Mal stob ihr eine Wolke um den Kopf. Er sah schon, er sollte sich besser davon machen und sie ihre Arbeit machen lassen. Außerdem hatte Uberta bereits Zeit verloren, ihn zu suchen - und hier stand er, stellte Fragen und trödelte herum! "Ich muss los", kündigte er daher sein Gehen an.
Peppina nickte kurz mit ihrer scharfen, nun weiß überpuderten Nase. Sie kämpfte schon wieder mit dem Niesreiz und hob ihr Handgelenk vor den offenen Mund, bis es vorbei war. Valerio trank noch schnell eine Kelle voll Wasser aus dem gewaltigen Krug, der an der Wand neben der Tür stand. Dann machte er, dass er nach draußen kam.
Das Sonnenlicht blendete ihn - er blinzelte einige Male, bis seine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten. Er verließ den kleinen Hof durch dasselbe Tor, durch das er hinein gekommen war, wandte sich dann nach rechts und lief im Trab an der langgestreckten grauen Wand des angrenzenden Gebäudes entlang. Dieses stieß nach ungefähr zwanzig Metern auf einen weiteren Trakt, in dem das Kellarium und der Wirtschaftsbereich, die Tuch- und Nähstube sowie ein Empfangsraum für Reisende und Anwärter untergebracht waren.
Gleich dahinter lag das breite Schwalbentor, durch das der meistgenutzte Weg in die Ebene hinunter führte. Dieser Weg wand sich wie eine Schlange vom Berg hinab. Die zeitraubenden Windungen machten das Befahren mit schweren Karren möglich, da hierdurch die Steigung nicht so steil war. Wegen der Güter und Vorräte, die aus der Ebene herauf gebracht wurden, hatte man gleich am Tor das große Kellarium errichtet. Dort wurden auch die Dinge gelagert, die hier oben an den Hängen geerntet oder in den Werkstätten produziert und später in der Ebene verkauft wurden.
Die grobe und griesgrämige Orazia war Klosterpförtnerin und Herrin über das Schwalbentor. Eine furchtbare Frau - Sie hatte ihn vor zwei Jahren einmal erwischt, wie er neben dem Tor über die Mauer und auf das Klostergelände geklettert war. Er ging im Kloster zu dieser Zeit bereits als inoffizieller Student der Heil- und Kräuterkunde ein und aus, und da er schon damals kein Schulgeld abgab und seine Studien mit Dienstleistungen abarbeitete, war er allen im Kloster bekannt. Orazia allerdings nahm ihre Aufgabe stets genau und wurde fuchsteufelswild, wenn jemand das Gelände betrat, ohne von ihr offiziell Erlaubnis erhalten zu haben. Dabei spielte es nicht die geringste Rolle, ob sie die betreffende Person kannte oder nicht: Die Förmlichkeiten mussten eingehalten und der Respekt musste gezollt werden. Sie hatte ein wichtiges und verantwortungsvolles Amt inne und war sehr stolz darauf.
Gut, er musste zugeben, es war Mitternacht und Orazias Dienst bereits beendet gewesen. Sie hatte daher im Unterkleid und mit Talglicht dagestanden und sich furchtbar erschreckt, als sie nach dem Rechten sah, weil ein Schatten auf der Mauer und eigenartige Geräusche sie beunruhigt hatten.
Valerio hatte an diesem Tag bereits gegen Abend ein Fenster im ersten Stock über der Bibliothek offen gelassen und wollte in der Nacht dorthin zurück kehren. Er hatte geplant, in Ruhe in einigen Büchern zu lesen, zu denen ihm der Zugang aber streng verboten war. Alchemie war es, was ihn fasziniert hatte - Alchemie war wie Zauberei. Zum Teil waren die Schriften so alt, dass nur die Obrige der Bibliothek die Seiten umblättern durfte – und wenn man es selbst tat, durfte man es nur unter ihrem strengen Habichtsblick tun, dem keine falsche Bewegung entging. Als Student und vor allem in diesem jugendlichen Alter hatte er aber keine Chance gehabt, in die geheimnisvollen Bücher hinein zu sehen; jede offizielle Anfrage wäre vollkommen irrsinnig und daher ganz sicher vergeblich gewesen.
Er hatte Kerzen dabei gehabt, einen Apfel und ein Stück Brot. Er hatte gehofft, die Nacht in der Bibliothek zu verbringen, dann vor Sonnenaufgang wieder über die Mauer nach draußen zu klettern und zur üblichen Morgenzeit durch das Schwalbentor und an der stämmigen alten Orazia vorbei wieder hinein zu kommen. Aber dann erwischte sie ihn bereits beim Überklettern der Mauer und alles kam ganz anders.
Eine Woche durfte er das Kloster nicht betreten, sieben Tage, an denen er zuhause bleiben musste und sich zu Tode langweilte. Er hatte Laute gespielt und einige neue Stücke eingeübt, hatte zwei oder drei Lieder gedichtet, sich eine Melodie dazu ausgedacht und sie aufgeschrieben, aber dann war ihm nichts mehr eingefallen. So war er an den restlichen Tagen unglücklich und wütend über sich selbst in der Ebene herumgestreunt. Er hatte Wildkräuter gesammelt, Kamille und Salbei für die Hausapotheke seiner Mutter zum Trocknen aufgehängt, einen Tee gegen Husten und einen gegen Bauchbeschwerden gemischt, um ihren Medizinvorrat für den Winter aufzufüllen - und die Stunden gezählt, bis sich die Klostermauern wieder für ihn öffnen würden.
An diese Geschichte musste er jedes Mal denken, wenn man ihn hier hinunter zum Schwalbentor schickte. Manchmal sollte er Gäste abholen, ein andermal vielleicht etwas ins Kellarium bringen. Heute ging es einfach nur am Schwalbentor und dann an dem hohen Gebäude vorbei, das daneben begann - und am Ende der Mauer zum schmalen Himmelstor hinaus. Dahinter lag der kleine Hang, über den man zu den Obstgärten gelangte.
Im Schatten der Wände von Kellarium und Empfangsraum war es herrlich. Er ging langsamer als er sollte, genoss das kühle Gras unter seinen nackten Füßen und hing seinen Gedanken nach.
Aus einem der Fenster, die sich gleich neben dem Kellarium befanden, drangen Stimmen. Beinahe wäre er vorbei gegangen, aber dann hielt er an und lauschte. Sofort erkannte er die unverwechselbar grobe und polternde Stimme der Pförtnerin Orazia. Jemand anders antwortete in wesentlich freundlicherem Ton, dann sprach Orazia wieder. Stühle rückten auf steinernem Boden und mehrere Füße verließen den Raum – so wie es klang, waren es weit mehr als zwei Personen.
Durch die geschlossene Scheibe hatte Valerio nur wenig verstanden, es ging um Kleidung, wenn er sich nicht irrte ... Ordenskleider oder Ähnliches mussten gemeint sein. Wahrscheinlich besprachen die Konversschwestern, die sich um die Ordenskleider und die Näherei kümmerten, etwas mit ... der Pförtnerin?
Das konnte nicht sein! Die Pförtnerin war nicht mit der Aufsicht über die Näherei betraut.
Er dachte an die Aufgabe, die Uberta ihm aufgetragen hatte, aber seine Neugierde war stärker. Als ein Fenster weiter vorn aufflog, wagte er sich einige Schritte an der Wand entlang, bis er beinahe am Fensterrahmen stand. Hinein schauen durfte er nicht, aber er konnte jetzt die Stimmen deutlich hören. Sie waren jung. Und sie flüsterten. Es waren Mädchenstimmen.
Ende Teil 37
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