
(5/3) Amorbogen
Magnus hatte gebannt zugehört. Und mehr als das, er hatte Valerio angestarrt, hatte ihn fasziniert beobachtet, die ganze Zeit. Die Augen blieben geschlossen, auch jetzt noch, als er zu sprechen aufgehört hatte. Er zuckte nicht mit den Wimpern, seine Arme lagen entspannt auf den Lehnen des Sessels, er atmete ruhig und gleichmäßig. Sein Gesicht hatte diesen seltsamen, nach innen gerichteten Ausdruck, den er aus Situationen kannte, in denen Valerio besonders aufmerksam war. Er schien Antennen zu besitzen, die es ihm ermöglichten, seine Umgebung abzutasten, die Emotionen seines Gegenübers zu erspüren.
Wahrscheinlich hörte er ihm wieder einmal beim Denken zu, verfolgte seine emotionalen Wege, dachte Magnus, aber er bemerkte erstaunt, dass es ihn diesmal nicht störte. Es war die Nacht der Wahrheit, so hatte er sie selbst genannt – und ja, das sollte auch für ihn selbst gelten! Er wollte sich nicht mehr verstecken, es gab so viel Wichtigeres und Größeres mit dem Leben anzufangen als Fettnäpfe zu umlaufen und sich vor Wahrheiten zu winden, nur um ihre Berührung nicht erfahren zu müssen.
Das war es! Er wollte berührt werden. Er wollte mehr vom Leben, mehr von sich selbst, mehr.... echte Erfahrung. Keine sicheren, abgekürzten Pfade, keine Versprechen, keine Deals mit Netzen und Sicherheitsleinen mehr, sondern das echte, nackte, sinnliche Leben. Nicht zwingend da draußen, in der Welt und an äußeren Ereignissen sollte dieses Abenteuer stattfinden, sondern in den Welten, die er in sich barg. Die meisten hatte er niemals betreten, viele Türen nie geöffnet, um auch nur einen Bruchteil der Möglichkeiten zu erfassen, die er in sich selbst verwahrte. Er war sein eigener Sarg, sein eigenes Verließ, in sich eingesperrt und doch so fern von sich selbst, wie man nur sein konnte.
Valerio war das Gegenteil. Er war Courage und Schmerz und Leidenschaft und Freiheit - in einer brutalen Form, die alles zu Asche verbrannte, was nicht aufrichtig und wahrhaftig war. Er war wie einer dieser Engel, die mit ihrem Schwert die Lüge, das Unwahre bekämpften, bis nur noch Licht und Wahrheit blieben. Kein Wunder, dass er Angst vor ihm hatte, so voll mit Lüge, Illusionen, Feigheit, Blindheit, wie er war!
Ob Valerio seine Erzählung fortsetzen oder an dieser Stelle abbrechen wollte, er konnte es nicht sagen. Er war viel zu sehr mit sich selbst, mit seinen Empfindungen beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen – er hoffte einfach, dass er ihm mehr Einblick geben würde. Denn was er bisher gehört hatte, war so speziell und es war so aufrichtig erzählt, dass es keinen Zweifel gab: Dies war tatsächlich Valerios Geschichte.
Er konnte nicht einmal klar benennen, was ihn hier so sicher machte. Es war nicht der Inhalt, dieser war beliebig und konnte genauso gut auch erfunden sein. Es war, objektiv betrachtet, keine besondere Geschichte, insbesondere nicht für diese Epoche. Sicher, sie war wunderbar erzählt, Valerio war ein Meister der Worte und beherrschte dazu seine Stimme in einem Maß, wie er es ansonsten nur von Schauspielern und anderen professionellen Sprechern kannte. Er kannte sich gut genug aus, um zu wissen, dass die beschriebenen Umstände und Ereignisse sehr gut exakt so oder zumindest ähnlich geschehen sein konnten - irgend jemandem, irgendwo und zu irgendeinem Zeitpunkt im späten Mittelalter oder der Renaissance.
Mit einigen historischen Kenntnissen über die Zeit um 1500 dürfte es nicht schwer sein, sich solche Dinge auszudenken. Aber er hatte ihm ins Gesicht geschaut. Er war absolut ernsthaft gewesen, während seine Worte entspannt und in purer Selbstverständlichkeit und Sinnhaftigkeit geflossen waren – wie ein Strom, der sich sicher und natürlich in seinem Bett fortbewegt durch eine Landschaft, die er selbst erfahren und geprägt hat.
Valerio hatte seine eigene Geschichte im Moment des Erzählens erinnert und nachempfunden. Magnus hatte seine innere Beteiligung nicht nur an seinen Zügen abgelesen, die sich wandelten, je nachdem, was er gerade beschrieb, sondern er hatte es auch an der Stimme gehört. Oder sollte man besser sagen, gespürt, denn Valerios Stimme hatte diese eigenartige, elektrisierende Wirkung, der er sich von Anfang an bereits nicht entziehen konnte, sie ging einem durch Mark und Bein. Sie war wunderschön und so erschütternd aufrichtig, stark und zugleich verletzlich, dass sie jeden, der sie hörte, spontan zu Tränen rühren musste.
Und nun wusste er auch, was es war, das ihn diese ziehende, schmerzende Sehnsucht spüren ließ, wann immer Valerio sprach: Es war Valerios Sehnsucht, sein Schmerz, der sich auf seine Umgebung übertrug. Man musste ihn lieben und zugleich fürchten, wenn man seine Stimme hörte. Ebenso wie seine Augen, sein Gesicht, berührte seine Stimme etwas, das tief in seiner emotionaler Erinnerung lag. Es war Magie. Die Berührung eines Zauberstabes. Es war wie ein Engelsflügel, der einen streifte in dem Moment, in dem Valerio zu sprechen begann, es konnte einem das Herz zermalmen vor Glück, Angst und purer Sehnsucht.
Es war offensichtlich: Valerio hatte von seiner eigenen Kindheit und Jugend berichtet, von seiner Mutter, die er lieben musste wie sonst nichts auf der Welt – und von seinem Vater, diesem erbärmlichen Mann, der weder mit seiner wunderbaren Frau, noch mit ihrem Sohn etwas anzufangen wusste.
Aber warum hatte er seine Geschichte ausgerechnet in eine historische Zeit versetzt? Alles, was er beschrieb, hätte auch in einer kleinen Stadt in der heutigen Provinz stattfinden können, dazu brauchte es kein spätes Mittelalter. Auch heute pilgerten die Menschen nach Rom, wanderten über die alten Wege, besuchten Assisi oder lernten in Klöstern. Auch heute konnte man das Lautespielen lernen, waren Männer auf Geschäftsreise oder misshandelten Frau und Kind. Alles, was er gehört hatte, hätte sich genauso gut auf die heutige Zeit übertragen lassen. Alles – bis auf die Amputation vielleicht, die war eindeutig nicht „modern" gewesen, aber diesen Teil hätte er kreativ einfügen können. Warum nur hatte Valerio so vehement darauf bestanden, dass er auch diese mittelalterliche Jahreszahl akzeptierte?
„Kaum führt man dich an eine Tür, meinst du auch schon zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Dabei hast du noch nicht einmal den Schlüssel in der Hand."
Erschrocken sah er zu Valerio hinüber. Dieser saß noch in seinem Sessel, aber sein Kinn war ein wenig vorgestreckt und der eine Mundwinkel hatte sich verdächtig nach oben verzogen. Seinen Augen, obwohl immer noch geschlossen, war das unterdrückte Lächeln anzusehen.
„Touché", sagte Magnus. „Ja, ich habe so vor mich hin gedacht... ich muss sagen, das alles hat eine gewisse Wirkung auf mich."
Valerios Lächeln verschwand und er öffnete die Augen. „Ich weiß", sagte er schlicht. „Lass es wirken. Du weißt noch immer nichts. Zerbrich dir nicht zu früh den Kopf, sondern höre weiter zu. Die Geschichte beginnt erst."
„Also geht es weiter – jetzt?" Er richtete sich in seinem Sessel auf, streckte die Beine abwechselnd vor sich in die Luft, seine Knie waren ein wenig steif geworden. "Ich hatte auf eine Fortsetzung gehofft. Du bist ein guter Erzähler."
Valerio reagierte nicht auf diese anerkennende Geste. Mit dem nackten Fuß gab er einem gepolsterten Hocker, der bei den Sesseln stand, einen Schubs, so dass er bis vor Magnus' Knie rutschte und dort stehen blieb. „Deine Nüchternheit wist du bald hinter dir lassen. Ich nehme dich mit hinein. Du sollst mehr als ein Zuhörer sein. Von nun an bist du Beobachter."
Magnus schluckte. Wie war das gemeint? Zögernd hob er die Beine und legte sie auf dem Hocker ab. Wollte er ihn mitnehmen, so wie heute Nacht auf der kleinen Brücke? „Oh nein, bitte, ich bin nicht sicher, ob ich sowas noch einmal..."
Valerio ließ ein amüsiertes Lachen hören, der Feuerschein flackerte in seinen Augen. „Keine Sorge", beruhigte er ihn. „Das war... etwas anderes. Du bist nicht am Geschehen selbst beteiligt, du wirst nur näher heran geführt. Ich möchte dir etwas geben, das dich zwingt, deinen Außenposten zu verlassen. Damit deine Augen eine andere Beschäftigung erhalten als Löcher in mich hinein zu starren. Du denkst zu viel über die Schatten unter meinen Wangenknochen und den Amorbogen meiner Oberlippe nach."
Eine heiße Welle machte sich über sein Gesicht her und ließ ihn bis auf die Brust erröten, als sei er ein zwölfjähriges Mädchen. Glücklicherweise besaß Valerio den Anstand, nun nicht ausgerechnet einen seiner intensiven Blicke auf ihn zu richten. Magnus schnappte innerlich nach Luft. „Du bist... creepy." Bevor er seine Wortwahl einer Prüfung unterziehen konnte, war es auch schon heraus.
Valerio reagierte gelassen. „Ja. Es scheint so." Er musterte ihn mit einem prüfenden Blick. „Ich sehe, du bist bereit. Schließ die Augen. Vertraue mir."
Das Kissen in seinem Rücken war bequem, seine Beine ruhten auf dem weichen Samt des Hockers. Er lehnte den Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Sessels. Das letzte, was er sah, bevor ihm die Augen zufielen, war das Feuer, das die Schatten an den Wänden tanzen ließ. In seinem Kopf hörte er ein fernes Pfeifen und Brausen, es klang wie Wind.Einen Moment fröstelte er, ein Zucken ging durch seinen Oberkörper. Dann hörte er Valerios Stimme. Sie drang durch das Heulen des Windes und kam näher, bis er Worte verstehen konnte.
"La campagna era ricoperta di gelo... Das Land war mit Eis bedeckt."
Diesen einen Satz sprach er in sein Bewusstsein hinein – kräftig, weich, vibrierend und langsam, so wie es seine Art war. Es klang wie eine Einleitung. Doch dann übernahm ein anderer Erzähler die Geschichte. Valerios Worte geisterten wie ein Nachhall über die kahlen Berge, di gelo... di gelo... di gelo... dann verschwanden sie hinter dem Brausen des Windes, als es rings um ihn zu erzählen begann.
Was nun folgte, war mehr und fühlte sich vollkommen anders an, als in einem Buch zu lesen, es war so real... und doch war er nicht unmittelbar betroffen, jedenfalls nicht von den Handlungen. Sein Gefühl jedoch, sämtliche Sensoren und emotionale Ebenen, über die er verfügte, waren nun aktiviert und angesprochen - auf eine Weise, die ihn überraschte. Es überraschte ihn ebenso wie die Stimme, der er nun lauschte, während die Bilder sich vor seinem inneren Auge zu bewegen begannen: Es war seine eigene.
Ende Teil 35
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