(18/18) Zeitsprung
Der Schall wurde von den Bergen in alle Richtungen gelenkt, die dichten Wälder warfen ihn hin und her; es ließ sich nicht sagen, von welcher Seite der Schlucht das Heulen kam. Aber es klang nahe. Sehen konnte man die Tiere nicht.
Der schmale Pfad, auf dem die Männer gingen, lag im Dunkeln, ihre Laternen tanzten als gelbe Lichtpunkte über dem von Baumwurzeln durchzogenen Boden.
"Nun geh schon, Ivano, oder ich lauf' dir auf die Hacken. Sie sind schon weit vorne. Beeil dich. Sonst erwischen wir sie nicht mehr."
Der mürrische Ton, mit dem der Angesprochene reagierte, war nicht zu überhören. "He, treib mich nicht so an. Oder glaubst du, ich will mir beide Beine brechen? Oder mein Licht fallen lassen? Es blendet mich mehr als dass es nützt in dieser verdammten Dunkelheit. Wir hätten bis zum Vollmond warten sollen..."
Massimo schnaubte ungeduldig. "Jammere nicht, Ivano, der Mond ist beinahe voll. Der Wald verbirgt ihn nur, da vorne wird er uns gleich besser leuchten. Und was heißt bis zum Vollmond warten? Übermorgen geht es nun mal nicht. Meine Rosella lässt mich am Sonntag nicht wildern. Sie wird mich eine Woche lang nicht ins Bett lassen und meine Decke in den Schafstall werfen, wenn ich den Sonntag nicht heilige, sagt sie. Und glaub mir, dieses Weib macht das wahr." Er wies den Weg entlang. "Wir sind gleich da. Wenn' s heller wird, bei der Lichtung, da löschen wir die Laternen. Wir lassen sie heran kommen, das Pack ist neugierig. Das Fleisch wird sie locken. Mit ein bisschen Glück haben wir zumindest zwei oder drei von ihnen bis zum Morgen."
"Welches Fleisch? Was hast du?"
"Eine Lammkeule, die Reste davon. Und einige Stücke Leber. Rosella wird mich vierteilen. Musste es heimlich mitnehmen. Wenn ich auch noch ohne Pelz nach Hause komme und die Biester haben das Fleisch, dann wird sie mir die Hölle bereiten."
"Was für eine verdammte Verschwendung", fluchte Ivano halblaut über die Schulter zurück. "Lieber würde ich es über dem Feuer rösten." Leise für sich murmelte er: "Meine alten Knie sind nicht geschaffen für diese Berge..."
"Was soll ich erst sagen! Hättest du die Wolfsfalle behalten, müssten wir hier jetzt nicht mitten in der Nacht mit unseren Bögen herum stolpern."
"Ah", stieß Ivano aus, "nun fang nicht schon wieder damit an. Du weißt, dass ich den Wagen verloren habe. Wie sollten wir den schweren Käfig ohne Wagen durch die Schlucht bekommen? Die Wölfe sind schlau, sie gehen niemals an derselben Stelle zweimal in die Falle."
Massimo griff nach vorne und hielt Ivano an der Schulter zurück. "Eisen hätten es auch getan", sagte er ernst, "aber was rede ich. Du denkst zu stur und einseitig, gehst keine Handlänge von deiner Ansicht ab. Nur weil du nicht willst, dass sie sich die Pfoten abbeißen. Ich sag' dir, es ist dein Alter. Und deine Bogenhand ist... nun ja. Ich denke, ich werde mir für den Winter jemand anders suchen müssen."
Ivano brauste auf. "Wenn ich hier schon durch die Nacht laufe und mein Leben riskiere, will ich zumindest unversehrte Pelze haben! Du weißt, dass die mehr Geld einbringen. Ein Pfeil macht keinen großen Schaden, Hauptsache, am Balg ist alles dran. Ohne Pfote kaufen die edlen Herren die Pelze nicht - jedenfalls nicht zum guten Preis. Und die Eisen... die würden überall herum liegen und jeder wüsste gleich, von wem sie kommen. Die Schlucht ist Kardinalsland, Massimo. Ich will nicht meine Hand verlieren. Und Entschädigung zahlen kann ich auch nicht. Mit dem Bogen ist es sicherer. Wir hinterlassen keine Spuren, ziehen ihnen gleich das Fell ab und nehmen es mit. Das hätten wir längst so tun sollen. Du willst dir doch nur nicht die Hände schmutzig machen. Und du kannst nicht schießen! Es passt dir nämlich nicht, dass jeder den Pelz bekommt, den er erlegt hat. Wenn ich deinen Wolf erledige, ist es meiner." Ivano zögerte einen Augenblick. Der Wasserfall rauschte in der Ferne. "Sei mal leise... Still. Hörst du das?"
"Was heißt, sei mal leise. Du redest doch die ganze Zeit." Massimo wandte den Kopf und lauschte, dann zuckte er die Schultern. "Ich hör' nichts."
"Das meine ich. Sie heulen nicht mehr. Sie ziehen weiter."
"Dann lass uns hier nicht herum stehen, Alter. Komm. Nur bis zum Wasserfall, dann legen wir das Fleisch aus. Wir fangen sie ab, wenn sie am Morgen zurück kommen. Bis dahin hauen wir uns ein Stündchen aufs Ohr. Und jetzt kein Wort mehr. Sie riechen dich bereits fünf Tagesmärsche gegen den Wind, sie müssen uns nicht auch noch hören." Er klopfe ihm auf die Schulter. "Und beim nächsten Mal lässt du die Finger vom Wein, oder du bist nicht mehr dabei. Ich brauch dich nämlich nicht, komm gut allein klar. Heute jedenfalls schieß ich so gut wie du. Mindestens. So übel, dass ein betrunkener alter Mann mich übertrifft, bin ich nämlich mit dem Bogen nicht."
Ivano tat, als hätte er die Worte überhört. Er sagte nichts mehr. Schweigend trottete er voraus.
Die Lichtung schmiegte sich an die steile Bergwand. Sie befand sich auf halber Höhe über der Schlucht und öffnete sich zu dieser in voller Breite. Unten herrschte tiefe Nacht, das Mondlicht drang nicht durch die dichten Wipfel der Bäume. Vor ihnen, auf der anderen Seite des düsteren Abgrundes, rauschte der silberweiße Strom über dreißig Meter steil hinunter, ergoss sich tosend auf ein steinernes Plateau und teilte sich an einem spitz aufragenden Felsen in zwei Stränge. Hell beleuchtet vom Mondschein stürzten beide nebeneinander weiter hinab und verloren sich schließlich in der Schwärze des Waldes.
Mit einigem Respekt trat Massimo an die Kante; sein Blick ging in die Schlucht hinunter. Er nahm den Bogen von der Schulter, ließ den Beutel mit dem Fleisch ins Gras sinken. "Man sagt, die Wege dort unten wandeln sich bei jedem Vollmond. Mancher findet nie hindurch und muss dann immer weiter laufen. Bis er tot umfällt. Und dann wuchert der Wald über ihn hinweg und man sieht nie wieder etwas von ihm. Man sollte in der Nacht nicht hindurch gehen.... Wer weiß, wie viele da schon liegen, unter Wurzeln und Moos."
"Glaubst du das", schnaufte Ivano. Er trat neben ihn. "Das ist doch Altweibergewäsch. Wege bleiben Wege. Sie wandeln sich nicht, solange sie begangen werden. Außer der Mensch lenkt sie um. Und der Mond... ist jetzt nicht voll."
"Aber in zwei Tagen ist er es", beharrte Massimo. "Und warum sollten die Wege da unten sich nicht wandeln? Weißt du, was die Wälder tun, wenn du gerade nicht hinsiehst? Niemand weiß das! Mein Großvater hat mir immer davon erzählt, und er war ein ernsthafter Mann. Einmal sagte er, er hätt' es selbst gesehen. Als er jung war. Die Schlucht hat Magie in sich, ich jedenfalls glaub' dran, Ivano. Ich kann' s sogar spüren, hier." Er klopfte sich mit der flachen Hand auf die Brust. "Es gibt viel Wundersames in der Welt, das ist sicher."
"Du meinst wohl, Dämonisches." Ivano bekreuzigte sich. Er wies zum Wasserfall hinüber. "Ich kenn' auch einige Geschichten von der Gegend hier. Da drüben, mein Freund, da gehts nicht mit rechten Dingen zu. Wenn an der Schlucht etwas nicht geheuer ist, dann da, auf der anderen Seite."
"Du meinst die Abtei? Ich hab' davon gehört... aber man sagt mal dies, mal das. Die Leute reden viel."
Ivano packte ihn am Arm. "Junge, du hast ja keine Ahnung. Ich hab' s selbst erlebt. Gehört, mit eigenen Ohren! Im letzten Frühling, als ich mit meinem Schwager hier oben war. Er kann es bezeugen. Er zog seinen Ärmel hoch, hielt Massimo den Arm hin. Genau hier, siehst du, hier hatte ich Gänsehaut, den ganzen Arm hinauf. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Das waren Schreie, so unmenschlich, das kannst du dir nicht vorstellen. Bis heute bin ich nicht sicher, ob das überhaupt Menschen waren." Er senkte die Stimme. "Ich sag dir, Massimo: Da unten in den Wäldern ist alles in Ordnung. Lieber laufe ich bis zum Ende meines Lebens jede Nacht allein und ohne Licht durch die schwarze Schlucht, als dass ich noch einmal diese Schreie hören will. Etwas Teuflisches geht da drüben vor sich."
Massimo trat von der Kante zurück, legte seinen Beutel und den Bogen an einem großen Findling ab und begann die alten Zweige aufzusammeln, die über die Fläche verstreut lagen. "Vielleicht kam es ja gar nicht von der Abtei..."
Ivano wandte sich zu ihm um. "Was glaubst du wohl! Da drüben ist doch sonst nichts. Da gibt es außer dem Kloster nur noch den kleinen Hain, durch den der Bach läuft. Und die Stadtmauer und den schmalen Weg, der von Albornoz herauf führt. Und dass ein Wasserfall solche Schreie zustande bringt, habe ich noch niemals gehört. Woher soll es also kommen, wenn nicht von den Mönchen? Wer weiß schon, welchem verbotenen Kult die da drüben nachgehen. Heutzutage nehmen die Dinge ja die seltsamsten Auswüchse an."
Den Arm voll mit Reisig und trockener Rinde richtete Massimo sich auf. "Es werden Füchse gewesen sein. Die können schreien wie Kinder... oder du hast Bären gehört. Die Berge lenken es um, dann klingt es, als käme es von dort oben. Es ist dieses verdammte Echo. Sicher kam es aus der Schlucht."
Der Ältere schüttelte langsam den Kopf. "Das klang nicht wie Kinder. Du machst dir keine Vorstellung davon. Ich weiß, wie ein Fuchs schreit. Und ich kenne Bären mein Leben lang, bin am Waldrand aufgewachsen. Das waren keine Schreie, es war... ein Brüllen und Kreischen. Als wenn jemand... oder etwas... am Höllenspieß steckt."
Massimo trug die Zweige zum Felsen hinüber. Seine Geduld schien am Ende. Er warf das Brennmaterial auf den Boden. Energisch breitete er die Arme aus. "Und, Ivano? Sie haben ein Rind geschlachtet! Oder ein Schwein."
"Aber doch nicht mitten in der Nacht! Und selbst wenn: Es ging mehr als eine Stunde lang. Mal war es ruhig, dann ging es wieder los. So lange dauert es nicht, einem Schwein ins Herz zu stechen. Nicht einmal dann, wenn einer nichts davon versteht."
Seufzend ließ Massimo sich vor dem großen Stein nieder, lehnte den Rücken dagegen. "Wie du meinst, alter Knabe. Glaub, was du willst, mir soll' s egal sein. Du bist und bleibst ein alter Säufer, mit nichts als Irrsinn im Kopf. " Er fischte eine Handvoll Zunder aus der Tasche an seinem Gürtel.
Wind kam auf. Das Rauschen in den Wipfeln wurde stärker, es übertönte jetzt beinahe das Donnern des Wasserfalls. Ivanos Blick ging zum Himmel hinauf. Millionen Sterne funkelten über ihnen im bläulichen Schwarz der Nacht. Wie zerzauste Hexenmäntel jagten Wolkenschleier am Mond vorbei.
"Ein Stück Brot?", fragte Massimo schließlich in versöhnlichem Ton gegen den Rücken seines Jagdgefährten. "Und komm endlich von der Kante weg, du hast getrunken. Der Wind wird stärker." Er lachte leise. "Fällst mir sonst noch in die Schlucht. Und übermorgen, wenn die Wege sich wandeln, frisst dich der Wald. Und ich muss es dann deinem Sohn und dessen Frau erklären. Sie werden mich für einen Spinner halten. Also, Alter, erspar mir das und komm endlich her. Wir machen Feuer."
Ivano rührte sich nicht vom Fleck. Noch immer stand er an der äußeren Kante des Felsvorsprungs, starrte unbeweglich auf die andere Seite hinüber. Auf Massimos Friedensangebot reagierte er nicht, so dass dieser das Brot wieder weg steckte. Aber der alte Mann tat etwas anderes. Er öffnete die Klappe seiner Laterne und blies sie aus.
Massimo sah von seinem Zunder auf. "He... was soll das! Lass gefälligst das Licht an, bis ich das Feuer..."
Hektisch wandte Ivano sich nach hinten und winkte Massimo, er solle still sein. "Halt den Mund", zischte er. "Die Laterne aus, schnell."
Massimo tat, was der Ältere ihm sagte. Schnaufend erhob er sich, reckte den Hals. "Was gibts denn da? Siehst du deine Dämonen?" Neugierig trottete er heran.
"Hock dich hier hin und halt den Mund." Ivano zog ihn ins Gras nieder.
"Und was jetzt?", raunte Massimo. "Was ist denn nun da drüben?" Er kniff die Augen zusammen. "Also... ich für meinen Teil sehe gar nichts..."
"Psst. Leise. Da vorne, direkt gegenüber. Oben beim Wasserfall, mehr auf der rechten Seite..."
"Da... da sind Bäume."
"Richtig. Dort gibt es einen Vorsprung, er ragt ins Wasser hinein, kurz bevor es hinunter stürzt. Genau so einen wie hier, nur kleiner."
Massimo beugte sich vor, die Stirn in Falten ziehend bemühte er sich weiter, auf die Entfernung etwas zu sehen. "Aber... auf der rechten Seite, da... ist doch gar nichts! Ich glaub', du siehst Gespenster."
Dann, urplötzlich, sah er es auch. Die alte Eiche, die da oben am rechten Ufer stand, war von unten her beleuchtet. Der schwache Schein, der über einen Teil des Stammes und den unteren Bereich der goldbraun belaubten Krone zuckte, musste von einem Feuer stammen - das man aber von dort, wo sie saßen, nicht sehen konnte. Es musste klein sein... Ein Schatten verdeckte es beinahe ganz. Es war die Silhouette eines sitzenden Mannes. Hinter ihm rauschte der Wasserfall den bewaldeten Hang hinab.
"Hat... hat er uns entdeckt?"
"Wie soll ich das wissen", flüsterte Ivano zurück. "Ich denke, nicht. Er sitzt ja mit dem Rücken zur Schlucht. Wenn er die Wälder beobachten oder uns im Blick haben wollte, würde er sich umdrehen."
Obwohl sie nun im Dunkeln hockten und der Wind ihre Stimmen in alle Richtungen verteilte, wagte keiner von beiden mehr laut zu sprechen.
Massimo starrte gebannt auf die Szene über dem Wasserfall. "Ist das einer der Männer des Kardinals? Meinst du, er sucht hier nach Wilderern? Oder ist er vielleicht selbst..."
"Verflucht nochmal, du stellst Fragen", schnauzte Ivano mit unterdrückter Stimme. "Ich hab' ihn doch selbst eben erst entdeckt! Ich sagte doch gerade, wenn er auf den Wald achten wollte, würde er nicht mit dem Rücken zur Schlucht sitzen. Weiß der Teufel, was der Kerl da oben macht. Uns kann er jedenfalls nur bemerken, wenn er mit dem Hinterkopf sehen kann. Und Augen wie eine Eule hat."
Massimo ignorierte den gereizten Ton seines Jagdgenossen. "Aber... soweit ich weiß, geht es am Wasserfall nicht weiter, Ivano. Da, wo er sitzt, ist der Weg zuende. Nur wer bei der Abei zu tun hat, kommt überhaupt den Weg entlang, dahinter führt er nirgendwo mehr hin. Was macht er da also, auf der anderen Seite des Klosters? Das ist ein eigenartiger Platz, um ein Feuer zu machen. Und nichts gibt es da zu sehen."
"Ein eigenartiger Platz für ein Feuer", murmelte Ivano, "...und noch viel eigenartiger für ein Pferd."
"Ein Pferd... da oben?" Massimo wollte gerade fragen, ob Ivano ihn auf den Arm nehmen wollte, da sah er es. Das Tier war groß. Sein silbergraues Fell leuchtete im Mondschein auf, als es einen Schritt vor trat. Es stand bei der Eiche, deren ausladende Zweige bis über das Wasser gingen. Jetzt trat es auf die Gestalt am Feuer zu, senkte den Kopf und legte die Nase an die Schulter des Mannes. Er schob den Kopf des Pferdes beiseite und stand auf.
Massimo neigte sich zu Ivano herüber. "Es ist ein Mönch", raunte er. "Wahrscheinlich auf Reisen."
"Ich denke nicht", war die knappe Antwort.
"Aber er trägt doch eine Kutte", wandte Massimo ein.
"Kein Gürtel, keine Kapuze. Und keine Tonsur. Und seit wann geht eine Mönchskutte nur bis knapp unter die Knie?" Ivano wartete auf eine Antwort, die aber nicht kam. Triumphierend fuhr er fort: "Und außerdem hat er lange Haare. Ist doch klar, das ist kein Mönch."
Massimo kratzte sich am Kopf. "Wieso sollten deine alten Augen besser als meine sein? Ich sehe keine langen Haare..."
Ivanos Hand ging zeigend nach vorne. "Warte... bis er sich umdreht. Wenn er seitlich steht, dann siehst du es. Er hat sie zum Zopf gebunden... da! Jetzt! Siehst du? Kannst du sie sehen? Der Zopf geht ihm bis zwischen die Schulterblätter. Ich sage dir, das ist kein Mönch. Und auch kein Soldat oder Wächter des Kardinals. Dieses Gewand... wenn du mich fragst... er sieht gar nicht vernünftig gekleidet aus. Er sieht aus, als käme er geradewegs aus dem Bett."
"Aber... wie kann es sein, dass er ein so prächtiges Pferd reitet und sich aber nicht einmal anständige Kleidung leisten kann?"
"Vielleicht ist es ja gar nicht sein Pferd. Ich wette, er hat es gestohlen."
Massimo schnaufte verärgert. "Und dann bleibt es bei ihm stehen, während er ein Feuerchen macht? Einfach so? Vier, fünf Schritte von einem tosenden Wasserfall entfernt? Es ist nicht angebunden... oder sehe ich das falsch?"
Ivano schwieg.
Der seltsame Mann schien nicht gerade klein von Wuchs zu sein - und gerade darum konnten sie an seiner Größe die gewaltigen Maße des Pferdes erkennen. Es neigte jetzt den langen Kopf zu ihm herunter. Er griff in das Zaumzeug und löste es, ließ es auf den Boden fallen. Das Tier schüttelte die silberhelle Mähne. Dann kam es ganz nahe heran. Stirn an Stirn standen beide, so lange, dass es den Wolfsjägern wie eine Ewigkeit erschien. Pferd und Mann wirkten unbeweglich wie Statuen. Der Wind zerrte an Mähne und Schweif, aber das Pferd stand still. Auch als eine Böe das Feuer traf und es neben ihnen aufloderte, dass die Funken stoben, scheute es nicht. Der Anblick war so eigenartig und magisch, die Männer verstanden nicht, was sie da sahen.
"Du irrst dich", unterbrach Massimo flüsternd die Stille. "Es ist sein Pferd. Sieh dir das doch an... Wenn unsereins so ein Tier hätte..."
"Halts Maul, du Besserwisser. Dann hab ich mich eben geirrt, er hat es nicht gestohlen. Dann wird er wohl ein reicher Kaufmann sein."
"Ein ausgeraubter reicher Kaufmann, meinst du wohl", berichtigte Massimo ihn. "Er trägt ja nur dieses dünne Untergewand... Wahrscheinlich wollte er die Dominikaner um Hilfe bitten, dass sie ihm etwas anzuziehen geben. Er will sie vor dem Morgen nicht stören. Sieh mal... Jetzt nimmt er dem Pferd Sattel und Decke ab." Er kniff die Augen zusammen. "Aber... was macht er denn jetzt! Himmel, verdammt! Hast du das gesehen, Ivano? Er hat den guten Sattel ins Wasser geworfen! Hat ihn einfach weggeworfen! Jetzt hängt er oben an der Felsnase fest... nein, er geht den Wasserfall hinunter!"
"Der ist nicht ganz bei Trost", stieß Ivano aus und zügelte sich gerade noch, um nicht zu laut zu werden. "Hat man sowas schon gesehen. Wenn einer einen so feinen Sattel nicht mehr braucht, kann er ihn doch für gutes Geld verkaufen... Ha! Steht da im Unterhemd, hat nichts an den Füßen... und wirft einen Prachtsattel weg." Er schüttelte den Kopf. "Versteh einer die Welt, mein Freund. Ich versteh sie jedenfalls nicht."
Sie beobachteten, wie der Fremde das Pferd weg schickte. Mit offenen Mündern sahen sie, wie er die Arme hob und auf das Tier zuging, es ins Wasser trieb, zur anderen Uferseite hinüber. Aber es wollte sich nicht wegschicken lassen. Immer, wenn er sich umdrehte und durch das Wasser zurück stapfen wollte, folgte es ihm wieder. Wenn er stehen blieb, hielt es ebenfalls an, und wenn er es trieb, lief es einige Schritte vor ihm weg. Bis er sich zum Feuer zurück wandte, dann folgte es ihm wieder. Schließlich blieben sie im Wasser voreinander stehen. Einen Moment lang wirkte der Mann ratlos. Langsam kam er dem Pferd den letzten Schritt entgegen, griff mit beiden Händen in den Mähnenkamm und lehnte sich gegen Brust und Hals des großen Tieres. Er schob seine Hand unter die lange Mähne, dann wandte er sich um und führte es zum Feuer zurück.
Und dann geschah etwas Seltsames. Er griff um die Nüstern des Pferdes, mit beiden Händen tat er es, er fuhr höher, über den Nasenrücken und zur Stirn hinauf. Dort blieben seine Hände, bis das Tier müde zu werden schien; langsam und immer mehr ließ es den Kopf sinken, der Hals bog sich auf seine Schulter hinab, er stemmte die Beine in den Boden, um es zu stützen, die Vorderbeine des Pferdes knickten ein, dann die Hinterbeine... und schließlich sackte es ganz zu Boden. Still kniete er vor dem Pferd, weder das Tier noch er selbst rührten sich mehr. Dann hob er die Arme, ganz langsam tat er es, griff in sein schlichtes Gewand und zog es sich über den Kopf. Er breitete es über dem Pferd aus, das reglos am Boden lag.
Einen Augenblick schien er einfach nur da zu sitzen. Das Feuer flackerte in seinem Rücken, die Kronen der Eichen wogten im Wind. Dann hob er erneut die Hände, führte sie in seinen Nacken. Die gebundenen Haare lösten sich, der Wind zerrte an ihnen, warf sie ihm ins Gesicht und wieder über die Schultern zurück.
Langsam stand er vom Boden auf. Zum ersten Mal wandte er sich nun zur Schlucht hinüber. Nackt und mit wehenden Haaren stand er zwischen Feuer und Mond. Er ging die wenigen Schritte hinaus auf den steinernen Vorsprung, trat auf den flachen Stein. Das Wasser um ihn rauschte, es umspülte seine Füße, die Waden, bevor es in die Schlucht hinunter fiel. Einen Moment stand er da, das Gesicht in die Ferne gerichtet.
Was er sah, woran er dachte - die beiden Wilderer konnten es später nicht einmal raten, so sehr waren sie erschrocken von dem, was er nun tat: Er sah hinunter. Unter ihm schäumte und brauste der Wasserfall. Er hob das Gesicht zum Himmel, zu den Sternen, breitete die Arme aus. Langsam, ganz langsam ließ er sich nach vorne fallen, stürzte hinab in die reißenden Fluten, fiel und fiel - und einen Augenblick, bevor er auf dem steinernen Plateau aufschlug, war er... verschwunden.
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Noch bis zum Morgen saßen Massimo und der alte Ivano an dem großen Stein. Erschüttert und stumm waren sie ganz in sich versunken, sie hatten einander nichts zu sagen. Feuer hatten sie nicht mehr gemacht in dieser Nacht. Als der Morgen kam, zogen sie schweigend ins Tal hinunter, das Fleisch noch im Beutel. Wolfspelze brachten sie nach dieser Nacht lange nicht nach Hause.
Ende Teil 180
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