(18/17) Plejaden
Erstaunt trat Magnus einen Schritt vor, dann noch einen. Er bemerkte gar nicht, wie sein Arm immer tiefer sank, wie die Hand die Fackel losließ. Erst als sie in der dünnen Wasserschicht aufzischte und qualmend erlosch, fand er in die Realität zurück. Noch gefangen im undefinierbaren Wirrwar seiner Gefühle starrte er auf die Bewegung der Tür.
Auf halber Strecke stand das Türblatt plötzlich still. Draußen wogten die dunklen Zypressen. Er sah die hölzernen Bohlen der Plattform, die als Anlegesteg und Unterstand für die Gondel diente, den verhängten Himmel des trüben Spätnachmittags.
Es war nicht Valerio. Es war... nur Zugluft, die die Tür bewegt hatte. Wahrscheinlich hatte er sie am Morgen, nachdem er mit den Flaschen vom Wasser zurück gekommen war, nicht richtig geschlossen. Noch einmal wandte er sich in die Halle zurück. Sie erschien ihm nun, da er im matten Licht des Tages stand, so viel dunkler als gerade eben noch. Der letzte Spiegel in der Reihe, am Fuß der Treppe, reflektierte den blassen Himmel. Die Stimme, die er zu hören gemeint hatte, sie war verschwunden, nur der Wind rauschte in den Bäumen.
Auf der Türschwelle lag eine Feder. Eine Rabenfeder wie die, die ihm aus dem Buch über die italienische Inquisition entgegen gefallen war. Er hatte sie mitnehmen wollen ... Sie musste noch oben auf dem Esstisch im Kaminzimmer liegen. Als Ersatz konnte er diese hier einstecken. Er hob sie auf und schob sie in die Brusttasche seines Pullovers. Es wurde Zeit, dass er hier weg kam. Dieser Ort machte ihn unglücklich. Entschlossen griff er nach den ausladenden Zweigen, bog sie beiseite und wand sich zwischen ihnen hindurch.
Der erste Schritt. Er war froh, das Haus nun nicht sehen zu können, wenn er den zweiten unternahm; er hatte sich vorgenommen, nicht mehr zurück zu schauen. Nur einen Moment lang rechnete er die Stunden nach, versuchte am trüben Himmel den Stand der Sonne auszumachen. Dann wandte er sich nach links hinüber, fort vom ausgetrockneten Kanal, weg von dem Brombeergebüsch und dem kohlschwarz verbrannten Fleck im struppigen Gras davor. Sein Blick ging zu dem kleinen Waldstück hinüber. Das musste Norden sein oder Nordwesten - er wollte sehen, was dahinter lag. Kräftig schritt er aus, hob die Beine, um nicht über die zotteligen Erhebungen und Buckel im hohen Gras zu fallen, überquerte die Wiese und trat unter die Bäume.
Bald umfingen ihn feuchte Kälte und erste tiefe Schatten. In drei Stunden, vielleicht eher, würde sich die Dämmerung über den Wald legen. Er hatte am Morgen aufbrechen wollen, um über den Tag genug Zeit zu haben für die Suche nach einem Schlafplatz. Jetzt bedauerte er, sich nicht an seinen Vorsatz gehalten zu haben. Der Wald war tiefer und größer als er geschätzt hatte. Zwischen den Bäumen hingen erste Nebelschwaden, die Stämme erschienen ihm beinahe schwarz, bis an die zwei Meter hoch waren viele mit Moos und Flechten bewachsen. Auf dem weichen Boden kam er gut voran. Er beeilte sich; er packte den Riemen seiner Tasche vor den Schultern fester, beugte sich vor und schritt schneller aus. Er hatte sich einige breite Streifen Leinen um den rechten Schuh gebunden, die Sohle hatte sich vor Tagen beim Laufen um das Gelände vom Leder gelöst. Das musste halten. Vorsichtshalber hatte er noch einige Ersatzstreifen in die Seitentaschen seiner Jacke gestopft. Man konnte nie wissen, wie der Boden beschaffen sein würde. Hier, auf moosigem Grund, hatte er keine Sorge, dass der Stoff sich schnell durchrieb, aber er hoffte bald auf gepflasterte Wege zu stoßen. Mit nur einem Schuh würde es sehr problematisch werden.
Auch wenn der Schuh dabei hatte leiden müssen: Es war gut, dass er mehr als eine Woche lang täglich trainiert hatte; die unzähligen Runden um die wilde Wiese, die ihn zu der Zeit vor allem vor dem Durchdrehen bewahren sollten, machten sich nun bezahlt. Es war beschwerlicher und anstrengender querfeldein zu laufen, als er es sich vorgestellt hatte. Er wünschte sich jetzt seine Wanderschuhe zu haben, die standen aber in seiner Wohnung in Frankfurt...
Frankfurt. Zuhause. Das klang jetzt nicht nur weit entfernt, es schien ihm auch völlig fremd. Beinahe so, als hätte er nur von einem Leben, von Arbeit und Beziehungen in einer Stadt, die Frankfurt heißt, geträumt und sei nun aufgewacht. Aber das alte Haus und die Erinnerungen, die er jetzt zurück ließ, waren ebenso ein Traum; denn alles, was ihn tatsächlich daran band, bezog sich auf Valerio. Ohne ihn verlor es jede Bedeutung, verschwamm alles zu Nebel, aus dem nur ein einziger Klang noch zu ihm herüber wehte... und der schmerzte so sehr, als würde sie beide weit mehr als diese wenigen Wochen verbinden. Es konnten genauso gut auch Jahre, Jahrhunderte sein. Wenn er an Valerio dachte, fühlte auch er sich alt - nicht im herkömmlichen Sinn, sondern... erfahren. Weit gereist. Sehr weit. Und so tief und ernst in Geist und Bewusstsein, dass er Schwierigkeiten hatte, dieses alte oberflächliche Leben in Frankfurt überhaupt noch als real und wesentlich genug anzusehen.
Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er tatsächlich hoffen wollte, ausgerechnet dorthin zurück zu kehren. Wenn er eine Wahl hätte, wenn er - wie Valerio - nicht essen und trinken müsste und sich besser zu organisieren wüsste - wahrscheinlich wäre er geblieben. Oh, er war sicher: Er hätte auf Valerio gewartet. Er war unsterblich, was also konnte es geben, das ihn auf Dauer hindern könnte zurück zu kehren? Und er selbst war jung genug, er konnte auch zehn Jahre warten. Theoretisch jedenfalls. Caterinas Zopf hatte Valerio fünfhundert Jahre lang aufbewahrt und mit sich genommen, bis hierher an diesen Ort. Er hatte Bedeutung für ihn, einen Wert. Jetzt lag er in Leinen gewickelt im Kaminraum im Schrank. Er hatte ihn dort hinein gelegt - zu dem Kerzenvorrat, damit Valerio ihn leicht finden konnte und nicht dachte, er sei irgendwo verloren gegangen. Nein, er würde nicht für immer wegbleiben! Er musste wieder kommen. Und er würde seinen Brief lesen. Und dann musste er entscheiden, ob er ihn zurück holen wollte.
Das Waldgebiet wirkte riesig, es schien kein Ende zu nehmen. Abgesehen von den vielen Moospolstern war der Boden einigermaßen eben und die Bäume standen zumeist so weit voneinander entfernt, dass er geradewegs hindurch gehen konnte und kaum Umwege um Sträucher und Gestrüpp nehmen musste. Das sparte ihm Zeit und Energie. Er war hungrig und hatte zu wenig geschlafen. Seine Augen gewöhnten sich bald an die beginnende Dämmerung und er lief unermüdlich weiter, bis es beinahe ganz dunkel war. Dafür, dass er trotz des späten Aufbruchs so gut voran gekommen war, kam es ihm aber seltsam vor, wie weit dieser Wald sich erstreckte. Er erinnerte sich nicht, dass es im Norden Italiens, insbesondere in dem Teil Venetiens, der an der Lagune lag, solche weitläufigen bewaldeten Flächen gab. Diese Bäume konnten genauso gut aber auch erst vor Jahrzehnten gewachsen sein; zu seiner Zeit jedenfalls begannen die größeren Waldgebiete erst vor den Alpen.
Ob er Berge sehen können würde, wenn er aus dem Wald hinaus kam und einige Tage lang weiter nach Norden ging? Zwischen der Küste und den Alpen gab es eine große Anzahl Städte und Ortschaften. Auch, wenn dies hier die Zukunft darstellte, konnten all die Orte durchaus noch bewohnt sein oder er würde zumindest die Ruinen verlassener Städte antreffen. Vielleicht hatten die Städte sich auch vergrößert, das war ebenso möglich. Andererseits gab ihm die absolute Stille hier zu denken; wenn der Norden Italiens immer noch intensiv bewohnt war - warum unternahm man dann nichts mit dem Gebiet um die Lagune und ließ es so verwildern?
Vor zweieinhalb Wochen hatte er noch vermutet, Valerios Haus sei irgendwo am Rand von Venedig und mitten in der Lagune zu finden; aber dieser Wald zeigte ihm zumindest schon einmal, dass er die Lagune hinter sich hatte und sich tatsächlich auf dem Festland befand. Wenn er nun direkt Richtung Norden ging, musste er auf Siedlungen und Städte und später auf die Voralpen stoßen - und wenn er versehentlich zu sehr nordwestlich abdriftete, würde er sich Richtung Lombardei bewegen und konnte damit rechnen, Städte wie Padua, Verona, Vicenza oder Mantua vorzufinden. Jenseits des Waldes würde es sicher Hinweisschilder an den Straßen geben.
Schnell war das letzte Tageslicht verschwunden. Und kalt war es jetzt - aber wenigstens gaben die Bäume einen guten Windschutz ab. Er musste wohl oder übel im Wald schlafen. Irgendwie hatte er gehofft, einen alten Schafstall oder die verlassene Ruine einer Scheune oder eines Bauernhauses zu erreichen, aber das würde mit ein wenig Glück dann wohl eine Option für die nächste Nacht sein. Er wollte sich nicht gleich an Menschen wenden, sollte er morgen jemandem begegnen - dann würde er Fragen beantworten müssen, aber er hatte selbst so viele und wollte niemandem auffallen, solange er sich nicht zumindest ein wenig orientiert hatte. Es war ja nicht einmal sicher, dass seine Kleidung noch zeitgemäß war.
Valerio hatte gesagt, sie befänden sich in einer Art Zukunft. Im Grunde konnte er gar nicht wissen, ob dies nur das Haus selbst oder die gesamte Gegend betraf. Er hatte ihn nicht danach gefragt. Morgen würde er mehr erfahren, jetzt brauchte er ein wenig Licht und Wärme, ein paar Schlucke Wasser und ein gutes Stück von dem Brot, das ihm gar nicht übel gelungen war. Er wollte es über dem Feuer rösten.
Als er einen Arm voll toter Astabschnitte und Zweige sammelte, stellte er fest, dass sie ausnahmslos feucht und schwammig waren. Pilze hatten das Holz durchfressen, es war nicht zu gebrauchen. Die Kerze, die er entzündete, beleuchtete das braune Innere der Äste und Zweige. Man konnte es zwischen den Fingern zusammen drücken. So stellte er nur ein großes Stück klamme Baumrinde als Windschutz um einen Stein herum auf, tropfte Wachs in eine der Mulden und setzte die Kerze darauf. Er hatte sich gerade im weichen Moos niedergelassen, das Seil, das die Decke hielt, gelöst und begonnen in seinem Rucksack nach dem Brot zu graben, als er spürte, wie die Nässe aus dem Boden drang und sich in seine Hose saugte. Als er sich auf eines der moosigen Polster stützte, um sich hoch zu stemmen, sah er, wie sich Wasser um seine Finger sammelte. Der gesamte Boden war vollgesogen wie ein Schwamm. Unsicher stand er auf, nahm die Kerze hoch, schützte sie mit der Hand, um eine trockenere Stelle zu suchen... und verstand plötzlich: Er befand sich mitten in der Lagune, auf halber Strecke zum Festland. Der Wald hatte sich in der versumpften Lagune ausgesät und verbreitet, bis er sie ganz ausfüllte. Unter dem moosigen Boden stand das Wasser über Quadratkilometer hinweg.
Valerios Haus lag also tatsächlich im Norden Venedigs, im alten jüdischen Viertel Cannaregio - und direkt an seiner Wiese, hinter dem Haus, begann der Urwald, der einst die Lagune war. Venedig ist nicht mehr, hatte er gesagt, er erinnerte sich jetzt wieder. Dass die Vegetation zumindest bis hier weitgehend aus Eichen, Buchen und Pinien bestand, war Glück; sie standen so weit auseinander und es gab so wenig Unterholz, dass man gut hindurch kommen konnte.
Aber wie weit hatte sich dieser Wald ausgebreitet? Änderte sich die Landschaft, wenn die Lagune ins Festland überging? Oder konnte die Vegetation ungestört so weit wachsen, weil es in dieser Gegend gar keine Menschen mehr gab?
Er musste darüber nachdenken, was das bedeutete - er war so sicher gewesen, bald in der Zivilisation anzukommen. Sich aussuchen zu können, wann er sich an die Leute wenden wollte, um mehr über die Zeit und das Jahr zu erfahren, in dem er sich befand. Dass er womöglich Wochen, ja, sogar Monate lang in einer unbekannten Wildnis auf sich gestellt sein würde, das hatte er in seine Überlegungen gar nicht erst mit einbezogen. Wenn diese Gegend von verheerenden Kriegen betroffen gewesen wäre, hätte an Valerios Haus wohl kein Stein mehr auf dem anderen gestanden. Die antiken Dinge, die er dort gesehen hatte, der Stuck außen an den Fenstern, die uralten Türen, alles war im Original erhalten. Es hatte keinen Krieg gegeben, nicht hier. Folglich dürfte es auch für die Bevölkerung kaum einen Anlass gegeben haben, die Gegend zu verlassen. Er musste bald auf funktionierende Städte treffen. Mit Menschen darin. Womöglich betrachteten sie die Gegend rings um Venedig und die Lagune als Naturschutzgebiet und rührten hier deshalb nichts an.
Aber er konnte auf diesem Boden nicht schlafen - und zum Weitergehen war es zu dunkel, er hatte keine Taschenlampe und die Kerze gab kein vernünftiges Licht ab. Er war schlecht präpariert. Es fehlte noch, dass er sich beim Umherstolpern im Wald den Knöchel verletzte. Morgen würde er versuchen weit zu kommen und auf den Boden achten. Damit er gegen Abend einen trockenen Schlafplatz hatte - vorausgesetzt, er war dann immer noch im bewaldeten Sumpf unterwegs. Ob der Wald sich auf dem Festland fortsetzte, darüber hatte er jetzt noch keine Vorstellung. Wenn es so war, musste der Boden dort zumindest trockener sein. Er musste nur die Richtung so gut wie möglich halten, denn wenn er nach Osten geriet, lief er weit in die Lagune hinein und würde schließlich Richtung Slowenien wandern, wo er sich nicht verständlich machen konnte.
Dass er gleich am ersten Abend an Problemen wie einem nassen Boden, einer fehlenden Plastikplane, schlechtem Licht und einem nicht vorhandenen Kompass scheitern würde, hätte er nicht gedacht. Gut, er war mit den Jahren ein Stadtkind geworden, gezwungenermaßen. Denn eigentlich liebte er genau das, was er hier nun hatte: Eine Wildnis und eine Witterung, die bezwungen werden mussten, und dazu eine Situation, die ihm Durchhaltevermögen, Kreativität und auch Mut abverlangte. Aber das hier war kein Campingausflug, nichts, das man unternahm in dem sicheren Wissen, dass da draußen, jenseits des Waldes, vertrautes und sicheres Terrain auf einen wartete.
Er hob seine Tasche vom nassen Boden auf und schwang sie sich auf den Rücken. Dann nahm er die Kerze aus ihrer schützenden Ummantelung, packte das lange Stück Baumrinde und zerschlug es an einem Baum in zwei Hälften. Das größere Stück genügte, um die Flamme vor dem Erlöschen zu schützen, zumindest so lange, bis er sich nach einem besseren Rastplatz umgesehen hatte. Einige Meter stapfte er zwischen den Bäumen entlang, dann entdeckte er zwei dicke alte Baumstämme am Boden. Sie lagen parallel zueinander. Er musste nur einige der herumliegenden Zweige und Äste dazwischen werfen und alles mit Laub auffüllen, dann würde es eine trockene, wenn auch nicht sehr bequeme Fläche abgeben, auf der er die Nacht verbringen konnte. Valerios alte Decke musste als Abdeckung dienen, allerdings konnte er sich dann nicht zudecken... Aber er würde wohl ein Auge zumachen und sich bis morgen ein wenig ausruhen können.
Da er beide Hände frei haben musste und die Kerze nicht mitnehmen konnte, war es eine schwierige Arbeit, bis er im Umkreis von zehn Metern genug geeignete Zweige beisammen hatte, um die Lücke zwischen den Stämmen gut zu füllen. Der Mond, der inzwischen voll und rund hinter den Wipfeln aufgestiegen war, leuchtete ihm zumindest ein wenig. Er brauchte enorm viel Zeit und wurde bald sehr müde - dafür fand er viele Zweige, die fein und biegsam waren, was bedeutete, dass er keine sperrigen Äste verwenden musste, die ihm später das Liegen schwer machen würden. Sein Ruhebett lag nun nicht auf den Stämmen, wie er es geplant hatte, sondern geschützt dazwischen - was ihn auch vor dem aufkommenden Wind schützte, wenn schon die Decke doppelt gefaltet als Überwurf dienen musste. Auch eine einfache Plane hätte ihn nun gewärmt.
Beim Sammeln von Zweigen und Laub in der Dunkelheit hatte er sich so sehr konzentrieren müssen, dass lange kein Raum für andere Gedanken gewesen war. Jetzt, als er wie ein Tier in der Enge und Stille seines Schlafplatzes lag, die Arme vor die Brust gezogen, den Rücken an den hinteren der beiden Baumstämme geschmiegt, und in die Nacht lauschte, kam er sich gänzlich verlassen vor. Um ihn war pechschwarze Nacht. Die Bäume rauschten und knackten, in der Ferne schrie ein Fuchs und über seinem Kopf zeichneten sich die bereits lichten Baumwipfel vor einem diamantenfunkelnden Sternenhimmel ab. Die Plejaden standen dort oben, das Siebengestirn. Klar und rein.
Er war glücklich gewesen, ein Prinz mit sternenheller Seele, jung und voller Träume.
Warum kam ihm plötzlich dieser Satz in den Sinn? Woher hatte er ihn? Aus Assisi ... Es war die Nacht nach dem Einsturz der Novizenschule gewesen. Als Valerio sich von Tomaso verabschiedet hatte und nach Hause wollte. An der Klostermauer entlang, die Ebene hatte schlafend unter dem samtenen Nachtblau des Himmels gelegen. Und die Sterne ... die Sterne waren so nahe gewesen, so viele.
Er weinte. Die Sehnsucht überfiel ihn mit solcher Gewalt, dass er sich hilflos ergab. Dieser Sommer in Assisi! Der heiße Wind und der Duft nach Rosmarin und Thymian und frisch gebackenem Brot, das Donnergrollen über der Ebene, das Glockenläuten. Und Valerio. Wie er auf dem Dach stand und lachend den Kopf zurück warf, die Haarsträhne, die sich in seinem Mundwinkel verfing ... Valerio singend im Refektorium, seine Finger tanzten über die Saiten, die Sommerbräune auf seinen Unterarmen. Und der Abend im Kräutergarten. Wie Maria ihn auf die Stirn küsste. Er hatte ihn so sehr geliebt in diesem Augenblick. Und in der Nacht auf seinem Bett - bevor er mit nacktem Oberkörper über die Klostermauer kletterte, um seine Laute zu suchen.
Ein Leben hatte er mit ihm in Umbrien verbracht, so fühlte es sich an. In all diesen lebendigen Bildern der Vergangenheit war er sein Freund, sein Bruder, sein Geliebter geworden. Er hatte sein Herz an Assisi verloren, an den Himmel, den Monte Subasio. An Valerio. Er wollte dorthin zurück. Es war albern, ja! Es war völlig verrückt! Er wusste, das war nicht seine Zeit, nicht sein Leben. Nicht wirklich. Und es war alles längst vorbei, vergangen und passé! Aber auf eine Art, auf diese unglaublich verrückte Art fühlte er, er wollte in Assisi sein. Zu der Zeit, als alles - der Blick über das Land, die Schlucht, das Kloster, die Stadt und die Menschen - ein Teil von Valerios Leben gewesen war. Dort, wo er zum ersten Mal ernsthaft begriffen hatte, was dieser Mann ihm bedeutete, wollte er ihn wieder und wieder erleben - noch einmal und immer wieder neu und anders, auf diese magische Art.
Er vertraute ihm jetzt ganz und gar, er hatte keine Angst mehr, er könnte verloren gehen. Es war so echt gewesen, so... erschütternd real. Es hatte ihm Erinnerungen geschenkt - an Dinge und Ereignisse, die ihm sofort so lieb und nahe geworden waren! Es war nicht sein Leben, ja, das wusste er! Und doch lag er hier, völlig durcheinander und verzweifelt vor Sehnsucht nach diesen Menschen, dieser Zeit und Welt. Und nach ihm. Er war aus seinem Haus weg gegangen in der Überzeugung, er müsse nach Hause... nach Hause. Zurück an einen Ort, der ihm nichts gab und nichts bedeutete, noch nie. Welche eigenen Erinnerungen, welche persönlichen Erfahrungen besaß er, die tiefer gingen und lebendiger waren als das, was er mit Valerio verband? Es erschien ihm jetzt, als sei er niemals wirklich in diesem Leben angekommen.
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er tatsächlich nicht mehr von Valerios Vergangenheit erfahren sollte als das, was dieser ihm gezeigt hatte. Dass es vorbei sein sollte, jetzt schon... War es denn zu kühn, zu vermessen, sich vorzustellen, dass sie noch mehr Zeit miteinander teilten - jetzt und in der Vergangenheit? Wie sollte er hier weg gehen, wie weiter leben mit diesen starken Eindrücken einer inneren und äußeren Heimat, der ersten und einzigen, die er je wirklich empfunden hatte?
Er fühlte sich auf einmal so offen und verletzlich wie niemals zuvor. Sein Panzer, seine Schutzmauern waren verschwunden, aufgelöst, er war... in diesem Augenblick ganz er selbst. Mit nichts in sich als diesem großen, brennenden Sehnen und einem verzweifelten Gefühl von Unglück und Verlust, das zugleich Realität und Irrsinn war. Er weinte, weil er plötzlich wahrhaftig und lebendig war; weil er Heimat, Sehnsucht, Zugehörigkeit und Liebe spürte, wo er immer nur dunklen, leeren Raum gekannt hatte. Die Erkenntnis dessen, was ihm schmerzlich fehlte, kam so überraschend, er wusste sich nicht mehr zu halten.
Irgendwann, sehr viel später - denn der Mond war inzwischen ein gutes Stück weiter gewandert - hörten seine Gedanken auf durch Zeit und Raum zu wirbeln. Sein Herzschlag beruhigte sich, die Nacht nahm ihn mit und er glitt in erschöpften Schlaf hinüber.
Ende Teil 179
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