(16/6) Das Zeichen
Der Wald erstreckte sich in gigantischen Wellen bis an den Horizont. Als dunkle, geschlossene Decke überzog er die gesamte Gegend. Die rollenden Berge Umbriens... Magisch und geheimnisvoll, wie die buckeligen Rücken ins Meer eintauchender Wale, lagen sie in all dem Nebel und verrieten nicht, was sich unter ihrem dichten Baumbewuchs verbarg.
Valerio wusste es. Uralte Quellen, umwaldete Wasserfälle und seit Jahrtausenden bewanderte Wege gab es dort unten, namenlos und auf keiner Karte verzeichnet; schattige Pfade, die sich, versteckt unter dem Dach alter Baumkronen, durch das endlose Grün hinauf wanden bis zu den abgeflachten Gipfeln. Auf einem dieser langgestreckten Berge residierte die Stadt Narni mit ihren ockerfarbigen Häusern, Mauern und Türmen, aber Valerio konnte von dem Fenster, an dem er stand, nichts davon erkennen. Die Festung Albornoz lag jenseits der Stadt, an der südöstlichen Seite der Hochebene. An dieser Seite fiel der Berg steil ab. Tief unter ihm musste die Schlucht liegen, in der er gefangen genommen worden war; die aufgehende Sonne würde den Nebel, der dort unten in den Wipfeln hing, bald aufsaugen.
Er biss von dem Brot ab, das man ihm gebracht hatte. Mit zusammen gekniffenen Augen richtete er den Blick zum Himmel. Gleich würde das Licht hinter der Festung aufsteigen und die gigantische Landschaft fluten... Er beugte sich weiter aus dem schmalen Fenster und sah an der Mauer hinab. Den Becher in der Hand stützte er sich auf den Unterarm und schob die Schulter vor, um sich ein wenig weiter hinaus zu zwängen.
Auf dem schmalen Absatz zwischen dem Fuß der Mauer und dem steil abfallenden Berg verlief ein Weg. Soweit Valerio ihn mit den Augen verfolgen konnte, war er von alten Bäumen gesäumt. In Richtung der Stadt blitzte er nur hier und da einmal unter dichten Baumkronen hindurch, aber hier vorne, direkt unter dem Fenster, hatte man einen freien Blick darauf. Nur zwei, drei Eichen überschatteten ihn auf der linken Seite, nahe der Festungsmauer. Wahrscheinlich würden sie diesen Weg zum Dominikanerkloster nehmen. Jeder andere Weg auf diesem Berg musste durch die Stadt führen...
Man würde ihn gleich holen. Er musste sich anziehen. Vor Tagesanbruch hatte man ihm neben dem einfachen Frühstück auch seine Stiefel gebracht, dazu einen schlichten Wollmantel. Er spülte das Brot mit einem letzten Schluck Wasser hinunter, zwängte die Schulter wieder durch den engen Fensterrahmen hinein und zog die Hand mit dem Becher zurück.
Ein Geräusch und Stimmen hinter der Tür lenkten ihn mitten in der Bewegung ab. Das tönerne Trinkgefäß stieß beim Hereinziehen des Armes gegen die Außenmauer und rutschte ihm aus der Hand. Erschrocken streckte er den Kopf erneut aus dem Fenster und sah gerade noch, wie der Becher im Fall einige Meter tiefer die Mauer traf und über dem Weg zerplatzte.
Unten scheute ein Pferd. Der Reiter musste in dem Augenblick unter der Eiche hervor gekommen sein, als Valerio sich bereits abgewendet hatte. Er hatte alle Mühe das Pferd zu zügeln. Erst als es stand und der Mann zu ihm hinauf sah, fiel Valerio auf, wie gekrümmt er im Sattel saß. Den rechten Arm hielt er vor der Brust, links hielt er die Zügel. Er starrte zum Fenster hinauf. Sein Gesicht war schneeweiß, die Augen wirkten dunkel in ihren Höhlen. Langsam hob er den angewinkelten Arm, reckte ihn Valerio entgegen. Die Geste war eigenartig, beinahe gespenstisch... Sie schien keinen Sinn zu machen, auch blieb der Reiter vollkommen stumm. Valerio starrte zu ihm hinunter und der Mann zu ihm herauf.
Als er den Blick von dem kreideweißen Gesicht abwandte und den in die Höhe gehaltenen Arm genauer ansah, erkannte er, was der Mann ihm zeigen wollte: Dem Arm fehlte die Hand. An ihrer Stelle war der Stumpf mit einem blutdurchtränkten Lappen umwickelt. Die verzerrten Züge des Mannes und der harte Kontrast zwischen der schneeweißen Haut und dem dunklen Bart hätten Valerio beinahe getäuscht. Als er einen zweiten Blick in das verstörte Gesicht warf, erkannte er ihn endlich: Es war Mauro de Lorca.
Erst das Geräusch des schweren Riegels, als dieser beiseite gezogen wurde, bewegte Valerio, den Blick von ihm abzuwenden und sich vom Fenster zurück zu ziehen. Noch bevor die Wachen in den Raum traten, wurde ihm dunkel bewusst, dass man ihn belogen hatte. Der Kaufmann war nicht frei, sondern in der Festung gefangen gewesen, als Valerio dem Inquisitor die Wahrheit über dessen Tat gesagt hatte.
Ich lege hier nun in Eure Hand die volle Verantwortung für alles, was Euch selbst oder Mauro de Lorca in Folge Eurer Aussage geschieht. Meine Hände sind rein und werden es bleiben. Niemand anders wird für die Folgen Eurer Aussage zur Verantwortung zu ziehen sein als Ihr allein und selbst...
Die Worte, mit denen Vincenzo Grassi das Verhör begonnen hatte. Kaum gelang es ihm die unbändige Wut zu verbergen, die in ihm aufstieg, als er den Mantel vom Bett nahm und den Wachen nach draußen folgte. Seine Freiheit war zu teuer bezahlt. Das würde er niemals wieder gut machen können.
Ende Teil 149
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