(16/2) Sakrament
Unter der Tür blieb er stehen. Auch wenn sein Gesicht im Schatten lag: Valerio wusste, er starrte zu ihm herüber. Nur wenig Licht spendete die Fackel, die in der Nähe des Türbogens an der Wand brannte... Der Kardinal blieb dahinter zurück, dafür hatte er ihn umso besser im Blick. Feigling, dachte Valerio. Du versteckst dich vor einem, der an die Wand gekettet ist.
Vincenzo Grassi hob die Hand, ein Wink folgte. Er trat vom Eingang zurück und ließ einen Wächter hinein. Zwei weitere Fackeln wurden an den Wänden verteilt. Dann trat Vincenzo selbst in den Raum. Jetzt, wo die kleine Kammer erstmalig heller ausgeleuchtet war, wurde Valerio nur noch unbehaglicher in seiner hilflosen Lage. Der Kardinal stand da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und fixierte ihn. Seine Miene war nicht zu deuten.
Valerio hatte keine Zeit gehabt sich zu überlegen, wie er dem Inquisitor beim nächsten Mal begegnen wollte. Alles hatte er sich vorstellen können - aber nicht, dass er bei ihrem nächsten Treffen auf halber Höhe an die Wand gekettet sein würde. Und er war davon ausgegangen, bekleidet zu sein! Was für ein Fehler! Der Kirchenmann griff in jede Kiste, wenn es darum ging, einen Menschen einzuschüchtern, ihn lächerlich zu machen, ihn bloß zu stellen. Er hätte damit rechnen müssen.
Es gab nichts, wofür er sich schämen musste. Das Fehlverhalten war auf der Seite des Kardinals. Er beschloss seine verletzliche Lage zu ignorieren, die Nerven zu bewahren und ihm ins Gesicht zu sehen. Vincenzo Grassi sollte lernen, dass er Gegner hatte, die auch in benachteiligter Position mehr Würde und Haltung zeigten als er selbst jemals aufzubringen in der Lage war.
Noch immer sagte der Kardinal kein Wort. Valerio sah ihm fest entgegen und dachte darüber nach, ob er selbst die Konversation eröffnen sollte, als zwei Diener einen schweren Armlehnstuhl samt Tisch hinein brachten. Beides stellten sie neben der Tür an der Wand auf. Der Kardinal setzte sich. Man schenkte ihm Wein ein.
"Wollt Ihr beichten", fragte er schließlich in vollkommen beiläufigem Ton und zupfte mit spitzen Fingern etwas von seinem Ärmel herunter. Er sah seinen Gefangenen nicht an - Es wirkte beinahe, als meinte er gar nicht ihn, sondern irgendwen.
Es kostete Valerio alle Beherrschung, zu der er fähig war, um nicht bereits bei diesen ersten Worten des Inquisitors die Fassung zu verlieren. Was hatte er zu beichten! Gar nichts!
"Werde ich denn sterben?", fragte er schließlich zurück, wobei er sich Mühe gab, seine Stimme so ruhig wie möglich zu halten. Es war klüger, keine seiner Gefühlsregungen zu offenbaren, sondern eine konstruierte Rolle zu spielen, die sich steuern ließ.
Der Kardinal nahm einen Schluck von seinem Wein, stellte das Glas auf den Tisch zurück und hob angespannt die Augenbrauen. "Das hängt von Euch ab."
"Was wollt Ihr von mir? Warum haltet Ihr mich fest?" Er musste einen Anfang finden, den Kardinal gedanklich beschäftigen, ihn reden lassen. Er brauchte Zeit, sich eine neue Taktik zurecht zu legen, auch konnte er sich kaum auf das Gespräch konzentrieren, solange die Durchblutung in seinen Händen abgeklemmt war und er sich deshalb sorgen musste. Er hing hier bereits zu lange. Es kam auf jede Minute an.
"Warum ich Euch hier festhalte? Nun, das ist schnell gesagt. Weil Ihr einen Mord begangen habt. Ihr erinnert Euch?"
"Ich habe niemanden ermordet", zischte Valerio durch die Zähne. Der zynische Tonfall brachte ihn zur Weißglut. "Ich möchte meine Kleidung haben. Und nehmt die Eisen weg, Ihr zerstört meine Hände."
Mit einer langsamen Bewegung schüttelte Vincenzo Grassi den Kopf. "Ihr braucht Eure Hände nicht, solange Ihr hier seid. Für Euch gibt es nichts zu tun... Und nichts zu fordern. Ihr habt nur zu antworten."
"Ich bin Musikus", schrie Valerio dem Inquisitor entgegen. "Ich spiele Laute! Ich brauche meine Hände!" Er riss an den Fesseln. Eine hilflose Geste, die ihm nichts einbrachte und den Blutstau in den Händen nur verstärkte.
Der Kardinal lächelte. "Ist das so? Dann solltet Ihr vorsichtiger sein. Ich könnte sie Euch abschlagen lassen. Beide." Er lachte leise. "Oder Euch für mich spielen lassen... und sie Euch danach abschlagen. Seid Ihr denn gut?"
Er spürte, wie sein Herz raste. Warum ließ er sich derart provozieren? Er musste seine Beherrschung wiederfinden, aber es schien unmöglich; er hing unglücklich fest, er hatte seine Kräfte nicht beisammen und musste zugleich das Tier in sich zurück halten. Als er sah, wie der Kardinal einen weiteren Schluck aus seinem Glas nahm, klang plötzlich ein Ton in ihm an, eine Idee. Vielleicht konnte sie funktionieren.
"Ich... ja, ich möchte die heiligen Sakramente empfangen", erklärte er und zögerte absichtlich, damit es wirkte, als würde ihm dieses Eingeständnis schwer fallen. "Ich möchte beichten.... aber nicht, was Ihr glaubt. Ich habe den Jungen nicht ermordet." Unsicher, wie der Kardinal reagieren würde, wagte er einen Blick zu ihm hinunter. "Gebt mir meine Kleidung zurück, ich bitte Euch. Und macht meine Hände los, Eminenz. Ich werde Euch die Wahrheit über gestern Nacht sagen. Ich werde auf die heilige Schrift schwören. Und dann möchte ich beichten. Damit ich vor dem Herrn rein bin und nichts mehr an mir haftet."
Eine ganze Weile geschah nichts. Was in dem Kardinal vorging, er konnte es nicht sagen. Er erspürte ein so verworrenes Gemisch aus aufrichtigem Staunen und menschlichem Interesse bei dem machtversessenen Mann, dass es ihn wunderte.
Aber da war auch noch etwas anderes, es lauerte im Hintergrund. Verschlagenheit. Misstrauen. Und persönlicher Ärger. Unterdrückte Aggression, Wut. Eine graue Energie, die versteckt in den Schatten lauerte, von dort aus leise, drohend vibrierte und Valerio nicht verborgen blieb. Sie warnte ihn, dem Inquisitor nicht vollständig zu trauen, was immer dieser nun auf seine Bitte sagen oder tun sollte. Das eine war vom anderen nicht zu trennen... so wie er es hier und da bei Menschen wahrgenommen hatte, die tatsächlich glaubten, was sie sagten und taten, während sie aber einem Wahn, einer irrsinnigen Idee über sich selbst oder über die Situation verfallen waren. Er musste auf der Hut sein. Diese verwachsene Mischung alltäglich gewordenen, selbstverständlichen Wahnsinns, der in diesem Mann nistete, war gefährlich - insbesondere, wenn man ihm und seinen aus dem Unbewussten inspirierten Entscheidungen und Handlungen ausgeliefert war.
Vincenzo Grassi hatte weder geantwortet, noch verriet seine Mimik, ob er gewillt war, der Bitte seines Gefangenen nachzugeben. Er stand von seinem Stuhl auf, strich seine Robe glatt. Einen Augenblick schien er zu zögern, etwas sagen zu wollen; dann jedoch nickte er nur und wandte sich zur Tür, die einen Spalt offen stand. Er sprach mit einem der Wächter.
Valerio reckte den Oberkörper; seine Rippen schmerzten, er hatte das Gefühl, nicht genug Luft in seine Lungen zu bekommen. Es wurde immer enger in seinem Brustkorb. Er wusste, das war eine Folge der über Stunden hochgestreckten Arme. Es belastete den Kreislauf und ließ die Atmung flach werden, bis sich Sauerstoffmangel bemerkbar machte; das Zwerchfell konnte seine Arbeit in dieser Haltung nicht gut aufrecht erhalten. Es war derselbe Effekt wie bei Kreuzigungen. Wie viele alte Kulturen besaßen auch die Römer große Erfahrung in solchen Dingen. Die Inquisition hatte sich diese zunutze gemacht.
Es wurde Zeit, dass er aus seiner unerträglichen Haltung erlöst wurde. Kaum mochte er hoffen, dass sein Plan aufging - der Kardinal kippte sämtliche Regeln und Gesetze über den Haufen, wenn es ihm gefiel. Aber der Wunsch, die heiligen Sakramente zu empfangen, durfte einem Gefangenen nicht verwehrt werden. Dann konnte er die wahre Geschichte erzählen, ohne dass Vincenzo Grassi ihn unterbrechen oder zum Schweigen bringen durfte; vielleicht konnte er dabei Mauros Part ein wenig abschwächen, ihn umdichten, sollte man den Kaufmann hier noch festhalten. Denn wenn es ihm gelang den Kardinal von der Wahrheit zu überzeugen, würden Mauro und er die Seiten wechseln und Mauro geriete in die Situation, die er selbst gerade durchlitt. Niemand hatte das verdient.
Und wenn der Kaufmann bereits in Freiheit war? Dann konnte er wagen alles so zu berichten, wie es der Wahrheit entsprach. Dass er diese an die Beichte knüpfte und mit einem Eid auf die Bibel ablieferte, brachte den Kardinal in die Pflicht, der Aussage Gewicht zuzuschreiben und sie nicht beliebig und persönlich zu werten, zu verdrehen oder umzudichten. Er durfte verlangen, dass seine Version als ernst zu nehmende Aussage anerkannt wurde. Zugleich würde er mit den heiligen Sakramenten einen weiteren Schluck Wein erhalten, dieser konnte helfen, dass er sich mit ein bisschen Glück ganz gut bis morgen hielt - und dann würde er sehen, ob der Kardinal ihn frei ließ. Und wenn nicht... dann mussten die wiedererlangten Kräfte genügen, um sich selbst zu befreien. Wenn alles gut ging, konnte er bis zum Abend des nächsten Tages frei und auf dem Weg nach Venedig sein.
Während der Plan in seinem Kopf Gestalt annahm, war der Kardinal in den Gang hinaus getreten. Die Tür war nur angelehnt, aber die Zugluft hatte sie hinter ihm wieder aufgedrückt. Es war nicht möglich zu verstehen, was gesprochen wurde, aber Vincenzo Grassi schien dem Wächter Order zu geben. Dann schickte er einen der Diener weg, der junge Mann verschwand nach rechts durch den Gang. Er holte eine Bibel. Oder die Kleidung.
Oh, er hatte kein Problem damit, auf dieses menschengemachte Buch zu schwören. Er empfand Respekt vor Schwüren, er achtete sie hoch. Gegenstände jedoch, die man in einen Schwur einband, waren beliebig und galten nichts, Wortinhalte und Herzenshaltungen waren entscheidend. Wahrheit war Wahrheit. Er erinnerte sich, wie er es Magnus erklärt hatte: Wahrheit wird nicht gemacht, sie ist, hatte er zu ihm gesagt. Ihr Wert konnte nicht - durch welchen heiligen Gegenstand auch immer - gewichtiger oder wahrhaftiger werden. So wie eine Lüge durch das Fehlen oder die Anwesenheit eines Gegenstandes, auf dem man schwor, nicht fataler und falscher oder richtiger und wahrer wurde, als sie von ihrem Wesen her war.
Aber wenn es galt, sich mit einem falschen Schwur den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, einer Schlinge, deren anderes Ende ein Tyrann in der Faust hielt, so war das legitim. Er machte Musik. Er heilte Menschen. Er tat nichts Böses. Und er hatte Aufgaben, Verantwortung. Er musste immer noch herausfinden, was mit Caterina geschehen war. Und Magnus... Magnus brauchte ihn. Er hatte ihn aus persönlichen Gründen aus seiner Welt weg geholt. Er musste sich um ihn kümmern.
Ende Teil 145
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