(15/6) Die Katze auf dem Dach
Es wurde besser, als er wieder vor seinem Teller saß. Die Schmerzen fielen in das Dunkel zurück, aus dem sie gekommen waren, die Übelkeit legte sich. Sogar das Blut von der Leiche des Jungen war über diese wenigen Meter Distanz bereits nicht mehr so intensiv wahrzunehmen. Stattdessen stieg nun der Geruch des Essigs, in dem das Gemüse eingelegt worden war, beißend vom Teller auf und in seine Nase. Die Schwäche seiner Sinne, hervor gerufen durch den Mangel an Wein, wurde ausgeglichen durch den Beginn der furchtbaren Wandlung. Er befand sich in einem trügerischen Gleichgewicht, es gaukelte ihm Frieden vor. Stabilität.
Aber das war ein Übergang. Es würde sich in ihm ausbreiten wie die Pest, der Prozess ging voran und war nicht aufzuhalten. Bald würde auch kein Wein mehr helfen, denn der Hunger der Bestie suchte sich seinen Weg; er wurde stärker, floss wie glühende Lava über Mauern und Gräben hinweg und kannte kein Halten, bis der Urgrund des Seins sich ganz verformt und gewandelt hatte ... Dies war die Zwischenphase. Die letzten Stunden, in denen es noch etwas abzuwenden gab. Danach kam das Tier - und mit ihm das Ende jeder Gnade und jeden Mitgefühls. Damals war es Liebe, die ihn gerettet hatte. Heute liebte ihn niemand genug. Niemand würde für ihn in solche Abgründe steigen.
Sekunden verbrannten zu Asche. Seine Gedanken wirbelten im Kreis, ohne Halt oder Ziel, ohne Lösung. Es wäre gut, jetzt etwas essen zu können ... wenn es auch nur der Ablenkung diente, denn er brauchte es nicht. Aber vielleicht konnte es ... ihn erinnern. An den Menschen, den Mann, der tief in ihm um sein Überleben kämpfte.
Mit den Augen verfolgte er den Inquisitor, sah, wie dieser wieder an seinen Platz zurück kehrte. Vincenzo Grassi sprach zu Mauro, wies mit der Hand zur Trage hinüber, auf den toten Jungen. Er achtete nicht auf die Worte der beiden Männer, sie schienen endlos weit weg. Dann bemerkte er, dass es anders war: Die Worte waren da. Hier - am selben Tisch, an dem er saß. Was fehlte, war sein Hörsinn.
Er war noch so sehr neben sich, dass er den Fokus auf alltäglichere Dinge richten, sich an ihnen festhalten musste, um nicht doch noch in den furchtbaren Zustand zurück zu fallen. Die komplizierte Situation entglitt ihm, er konnte sich ihr nicht zuwenden. Stattdessen zog Unwesentliches seine Sinne an, als verfügte er über keine eigene Entscheidungskraft darüber, was jetzt wichtig war ... Die Fliege an der Ecke des Tisches fing seine Aufmerksamkeit vollkommen ein, dann das trübe Licht, das flach durch die beiden Fenster am Ende des Raumes fiel. Ein braunes Blatt, das vorbei trudelte und aus seinem Sichtfeld verschwand, ließ ihn noch weitere Sekunden, die er wie Stunden erlebte, auf die leere Scheibe starren. Dann kam ein Diener herein und verteilte Öllampen auf dem Tisch... und seine Aufmerksamkeit fixierte sich auf die feinen Haare, die er auf dem Handrücken des Mannes sah.
Während ihm sehr bewusst war, dass er von Sekunde zu Sekunde Wichtiges verpasste, war seine Hörfähigkeit wie ausgeschaltet. Sein Geist jedoch war endlos beschäftigt, gefangen in einem Mikrokosmos der Banalitäten. Panisch verkrallte er seinen Geruchssinn in dem Essig, um nicht auf die Gier des Tieres zurück zu fallen. Der Essig war stark genug, um ihn von den Gerüchen der Anwesenden abzulenken, aber er durchlebte Augenblicke, da wurde er beinahe wahnsinnig von dem Geruch seines eigenen Blutes; er nahm ihn durch die Haut hindurch wahr und konnte ihm nicht entfliehen.
Er musste zu seiner gewohnten Wahrnehmung zurück finden! Jetzt! Hier wurden gerade Weichen für sein Schicksal gestellt und er ... war nicht dabei. Mit aller Konzentration, die er aufbringen konnte, bündelte er seinen über Jahrhunderte erprobten Willen, verband sich mit sämtlichen Kräften, die in ihm waren ... und gewann die Herrschaft über seinen Fokus nach einigen Versuchen zumindest so weit zurück, dass er seine Aufmerksamkeit wieder einigermaßen steuern konnte.
Das Essen. Es schien in Ordnung. Der Kardinal aß dasselbe. Auch war nichts Ungewöhnliches daran, es war die übliche Küche des frühen sechzehnten Jahrhunderts. Aber abgesehen davon, dass er gerade Wasser hinein gegossen hatte, von dem er nicht wusste, was es noch enthielt, stand dieser Teller auf dem falschen Tisch und unter dem falschen Dach. Der Kardinal gehörte nicht zu der Sorte Männer, in deren Gesellschaft er aß.
Das Wasser hätte er tatsächlich gebraucht, und er rechnete fest damit, dass es für ihn präpariert worden war. Also ging sein Blick weiter über den Tisch hin und her, prüfte die Schärfe der Messer, die bei den anderen Tellern lagen, während er selbst nur einen Löffel hatte, schätzte die Distanz ab, die ihn von dem Weinkrug trennte ... und wartete ungeduldig, dass sich sein Gehör wieder einstellte. Er bemühte sich ruhig zu atmen, konzentrierte sich mit dem zurück gewonnenen Fokus nach innen und nahm Einfluss auf die Funktion seiner Organe; er kontrollierte das Zuviel an Energie, das ihn blockierte, leitete es ab... und war erleichtert, als er endlich Wortfetzen zu verstehen begann.
".... hatten vor, ... Nacht hindurch zu reiten und ... Lager erst am Morgen aufzuschlagen, wenn wir aus den Wäldern hinaus ..."
Als die Stimmen an seine Ohren drangen und wenige Sekunden später das Gesagte auch in seinem Verstand ankam, schärfte sich seine Aufmerksamkeit. Er war wieder da. Mauro begann gerade erst mit seinem Bericht, wahrscheinlich hatte er nichts Wichtiges versäumt! Es war entscheidend für sie beide, was Mauro aussagte.
"Und da seid Ihr auf diesen Man n...", Vincenzo Grassi nickte zu Valerio hinüber, "... und seine Familie gestoßen?"
"Ja. Das heißt, nein ..." Mauro warf Valerio einen unsicheren Blick zu. "Die Familie, das waren ein Mann, eine Frau, ein Mädchen im heiratsfähigen Alter und ihre junge Schwester. Er hier ... hatte sich ihnen nur angeschlossen, er reiste allein. Jedenfalls sagte er so."
Die raubvogelartige Wendung des Halses und der starre Blick, mit dem der Inquisitor ihn nun musterte, ließen Valerio beinahe zusammen zucken. Gerade noch rechtzeitig fing er sich, schob den verbliebenen Nebel in seinen Sinnen beiseite und hielt der Neugierde des Kirchenmannes seine gerade erst zurück gewonnene Aufmerksamkeit entgegen.
"Der Mann ... reiste allein", wiederholte der Kardinal gedehnt Mauros Worte und starrte Valerio aus grauen Augen an. "Ist das wahr? Und sagt er uns nun auch endlich seinen Namen?" Der Ton wurde schärfer. "Oder muss ich Gewalt anwenden und ihn aus Euch heraus pressen? Es wäre schade um ..."
"Angelo".
Valerio ließ den Namen wie eine Spielkarte auf den Tisch fallen. "Angelo Gatto. Aus Perugia. Geboren in Florenz."
"Ah, Florenz", rief der Kardinal in gespieltem Entzücken. Dann, als hätte jemand einen Hebel umgelegt, wechselte seine Stimmung. "Gatto"... sinnierte er. "Gatto... Ein florentinischer Kater also. Wie nett! Oder sollten wir sagen... ein Engel, aufgezogen von... Katzen? Auf den Dächern von Florenz vermutlich?" Sein Lachen entblößte gelbe Zähne.
Valerio straffte den Rücken und richtete sich auf seinem Stuhl auf. "Vincenzo...", beantwortete er die Provokation. "Der Gewinner. Der Siegende."
Der Kardinal lächelte selbstgefällig. "Immer", säuselte er mit gespitzten Lippen und unterstrich seine Antwort mit ausgebreiteten Händen.
"Nicht gegen Engel. Und wahrscheinlich auch nicht gegen Katzen."
"Gegen Katzen? Aber sicher. Erneut setzte er ein überlegenes Lächeln auf. "Wenn ich sie erwische, ziehe ich ihnen das Fell ab."
Valerio kniff die Augen zusammen und richtete den Blick auf den gewölbten Bauch des Kirchenmannes. "Wie gut seid Ihr auf Dächern?"
Die Frage schien ihm nicht zu gefallen. Einen Augenblick lang waren ihm Überraschung und Ärger anzusehen; doch dann fing er sich, ignorierte die provokante Frage und wandte sich an den Schreiber. Dieser hielt immer noch die Feder gezückt in Erwartung der Fortsetzung des Verhörs. "Schreibt. Angelo Gatto, geboren in Florenz. Aus Perugia." Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. "Und... lasst Platz darunter. Damit wir Korrekturen vornehmen können, sollte er lügen."
"Wenn ich etwas dazu anmerken darf, Eure Eminenz", meldete sich der Kaufmann zu Wort.
Der Kardinal nickte. "Nur zu, wenn es der Sache dient."
Mauros Bemühungen fest und überzeugend zu sprechen, waren spürbar. "Es war gegen Abend", begann er mit einem Blick auf Valerio, "als wir die Gruppe am Wegrand lagern sahen. Ich rechnete in dieser Gegend mit räuberischem Volk, darum schlossen wir uns ihnen für die Nacht an. Am Hang fanden wir die Äste eines umgehauenen Baumes; Angelo half uns damit. Wir unterhielten uns, während wir sie für das Feuer zerteilten..."
"Kommt auf den Punkt", grummelte der Kardinal ungeduldig.
"Er erwähnte seine Geburtsstadt... und auch Perugia, wo er lebt. Er nannte Details. Es waren Dinge, die man erzählt, wenn man eine Stadt gut kennt. Nicht als Reisender, meine ich. Sondern als einer, der dort zuhause ist. Ich denke daher, man sollte es ihm abnehmen..."
"Was Ihr aber mir überlassen werdet", unterbrach ihn Vincenzo Grassi. "Nun", richtete er sich wieder an Valerio. "Soll ich Euch also... Angelo nennen, wollt Ihr das?"
Es war nicht als Frage gemeint, es diente nur dem Spott, der die Worte des Kardinals begleitete, so oft er sich an Valerio richtete. "Gut. Dann sagt mir... Angelo Gatto... aus Perugia... was verschlägt einen Florentiner in die Provinz? Wie kommt es, dass Ihr ausgerechnet in einer kleinen Bergstadt auf dem Land lebt, nachdem Ihr doch in Florenz geboren seid? Ihr verbergt doch nichts?"
Valerio nickte. "Eine berechtigte Frage, Hochwürden. Florenz ist eine schöne Stadt. Schön anzusehen für die Augen. Aber das Leben dort ist gut für die Wohlhabenden, nicht für die einfachen Leute." Er bemühte sich um ein Lächeln, das er dem Kardinal über den Tisch schickte. "Meine Eltern verkauften Keramik im Norden der Stadt. So wie es auch meine Großeltern vor ihnen getan hatten. Ich wollte ein anderes Leben; ich war jung und träumte davon, ein Musikus zu werden. Mein Vater hatte kein Geld dafür... Aber als er durch den Tod meines Onkels eine kleine Erbschaft machte, gab er das Geld für meine Ausbildung." Er lachte dem Kardinal ins Gesicht. "Ich war sein einziger Sohn. Er wollte stolz auf mich sein - Das war mein Glück!"
Der Kardinal hob die Brauen. "Florenz bietet das Studium der Rechtswissenschaften und Theologie. Warum nicht dieser Weg für einen wissenshungrigen jungen Mann? Hätte das nicht mehr Ruhm und Ehre eingebracht als... das Anschlagen einer Harfe? Oder seinen Atem an eine Flöte zu verschwenden?"
"Oh, sicher ... ich wollte ja in Florenz bleiben und Recht studieren! Aber das Geld war begrenzt und das Studium der Rechte war lang und kostspielig. Es reichte aber für die Musik und einen Platz an der Universität in Perugia. Die Stadt ist bekannt für die gute musikalische Ausbildung, die man dort erhält. Es war nicht die schlechteste Wahl. Ich war damit zufrieden... War ich doch der erste Sohn in meiner Verwandtschaft, der überhaupt studierte."
Die Mimik des Kardinals verriet, dass er nicht geneigt war, die Geschichte zu glauben. "Und dann... seid Ihr also in dieser kleinen Stadt auf dem Land geblieben", sinnierte er. "Sagt mir... Angelo... Warum geht jemand, der Musikus ist - und dazu gebürtiger Florentiner - nicht zurück in seine prächtige Stadt und verdient sein Geld mit Musik dort, wo es sich lohnt? Als Hofmusiker zum Beispiel? Oder im Dienst der Kirche? Der Lohn wäre um einiges..."
"Wegen der Liebe, Eminenz. Ich möchte heiraten. Ein Mädchen aus Perugia. Sie ist die Tochter des Wirts, in dessen Herberge ich für mein Studium unterkam. Auch zieht mich nichts mehr nach Florenz. Meine Eltern sind inmitten meines Studiums an der Cholera gestorben und die übrige Verwandtschaft lebt im weiten Umland und an der Küste."
Er gab sich Mühe, dem Kardinal ein alltägliches und unspektakuläres Leben vorzugaukeln, weit jenseits allem politischen oder kirchlichen Interesse. Zugleich wollte er sehen, in wieweit er Mitgefühl und Sympathie wecken konnte - um ihn friedlicher und wohlwollender zu stimmen. In der Hoffnung, dass der Inquisitor daraufhin vielleicht einige Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigte.
Ende Teil 139
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro