(14/9) Geister
Er starrte auf das Bild. Der Mond und der Teufel nahmen also Einfluss auf seine Situation? Oder hatte der Mond Einfluss auf die Situation... auf teuflische Weise? Und wenn es so gemeint war: Was war darunter zu verstehen? Er besah die Karte genauer. Dieser Teufel saß auf einem Thron. Ein Mann und eine Frau standen davor, sie trugen Ketten um den Hals. Die Enden hielt der Teufel in der Hand. Zwei Gefangene in Ketten... und der Teufel hatte die Kontrolle.
Das war es, was er immer schon über diese Dinge gedacht hatte! Entweder verwirrten sie die Menschen - oder sie machten ihnen Angst! Das passierte denen, die naiv und leichtgläubig waren. Abergläubig. Und das war er nicht, er hatte keine Angst. Er war nur... wütend. Und enttäuscht. Weil er sich in seinem übermüdeten Zustand auf diese blödsinnigen Karten eingelassen hatte. Weil er tatsächlich geglaubt hatte, er sei resistent gegen ihre Wirkung. Bei solchen Ergebnissen war sogar er selbst in Gefahr sich verunsichern zu lassen, das musste er zugeben. Aber selbstverständlich siegte sein Verstand über seine Angst; das ungute Gefühl würde er bald schon überwunden haben.
Er hätte auf seine Fragen keine Karten ziehen dürfen. Er hätte überhaupt gar nicht erst fragen dürfen, mit oder ohne Karten! Denn seine jetzige Lage konnte er unmöglich voll erfassen... Er wusste doch gar nicht, was überhaupt passiert war und was die aktuellen Geschehnisse für ihn bedeuteten! Er warf die Karte zu den anderen, schob alle zum Stapel zusammen und steckte das Deck wieder in den Beutel zurück.
Draußen tobte der Sturm. Die Halle sang und wisperte. Das metallische Sirren des Spiegels drang durch die geschlossenen Flügeltüren.
Plötzlich hatte er das Bedürfnis sich unter eine Decke zu verkriechen. Seine Füße waren eiskalt. Und er war unglücklich.
Ein letztes Mal lief er zum Kamin hinüber, sah nach dem Feuer, das beinahe aus war; nur an den Rändern der Scheite glühte es noch hier und da auf, wenn der Wind aus dem Kaminschacht auf das verkohlte Holz traf. Das brannte nicht mehr weiter; er beschloss die Klappe im Schacht offen zu lassen. Wenn noch mehr Asche in den Raum hinein wehte, musste er eben den Boden vor dem Kamin wischen und die Sessel abklopfen. Umso besser - dann hatte er für den nächsten Tag eine weitere Aufgabe, die ihn eine Weile beschäftigte und ihn müde werden ließ. Noch einmal sah er sich im Raum um. Abgesehen von noch mehr Grübeleien, die aber heute Nacht zu nichts mehr führten, gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er musste dringend schlafen.
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agn...sss... Mag... nuss...
Valerio...? Ich kann dich hören... Wo bist du?
Ich... ...cht ...alerio...
Du bist nicht Valerio...? Aber... wer oder was bist du dann?
Die Stimme schwieg.
Keine Antwort... Er musste etwas anderes versuchen.
Weißt du etwas über ihn?
Ja... frage...
Was kann ich fragen? Was weißt du?
Fang ... vorne an.
Konnte er der Stimme trauen? Ihm blieb nichts anderes übrig... Er wollte es versuchen. Vorne anfangen... Also gut...
Was... Was verbindet uns?
Die... Welt.
Eine Tarotkarte erschien vor seinen Augen. Es war die letzte der großen Arkana. Er verstand nicht, und das stürzte ihn in Verzeiflung. Er wollte es verstehen! Aber es war so wenig, was die Stimme ihm vermittelte! Er musste alles versuchen, sich Mühe geben. Er spürte, es lag bei ihm.
Die Welt? Zeig mir... die Welt.
Ein Wesen, nicht Mann, nicht Frau, das Gesicht hinter einer Maske verborgen, schwebte durch die Leere des Alls. Es bewegte sich im Puls von Emotion, Schöpferkraft und Geist. Als es seinen Tanz begann, sog es Dunkelheit und Stille ein und atmete Licht und Rhythmus in die unendliche Weite hinaus. Mit seinem Tanz erschuf es die Welt: Mond und Sonne gingen auf und überstrahlten die dunkle Weite. Wasser strömte unter einem singenden Himmel, Land wurde geboren, Tiere, Vögel, Fische erschienen und kreisten als ein einziger vibrierender Strom um das tanzende Wesen. Alles sang mit tausend Stimmen und Klängen, rauschte und wogte im treibenden Puls des Lebens, verging und kam wieder... bis der Tanz sich wirbelnd in einer gigantischen Galaxie aus Millionen Sternen auflöste.
Jedes Ende ist ein Anfang... Jeder Beginn ist... Abschied... Loslassen ist Leben. Die Welt... währt ewig.
Das war gigantisch groß - unendlich! Er fühlte sich so entsetzlich klein, er begriff nicht, wie er, ein Nichts, ein Niemand, Teil von etwas so Unglaublichem sein konnte! Valerio... ja! Er trug das Sternenlicht in der Seele, seine Augen waren Teil dieser gigantischen festlichen Nacht, sie waren furchtlos und frei wie das All. Valerio kannte das, er war darin zuhause. Aber was... was hatte das alles mit ihm zu tun? Er sah keinen Zusammenhang. Niemals würde er wagen diese heilige Weite zu betreten! Seine Angst war Berge hoch, Vertrauen absolut illusionär. Er konnte vertrauen. Im Kleinen... Wenn der Einsatz nicht hoch und das Risiko überschaubar war. Aber das hier... das packte er nicht! Er war ja kaum in der Lage, sein kleines bisschen Leben zu leben!
Fassungslos ließ er seinen Blick durch die gewaltige Galaxie schweifen, hinter der er weitere und andere ahnte.
Das alles verbindet ihn und mich? Du musst dich irren! Wie könnte ich jemals daran Anteil haben! Ich würde wollen... Ich will! Aber ich kann doch nicht! Ich weiß nicht, wie! Ich habe Angst zurück zu bleiben... verloren zu gehen.
Warum ist Leben so schwer, fragte er und erwartete keine Antwort.
Nichts geht verloren. Leben ist... nicht schwer. Leben ist. Du bist. Übergänge sind schwer. Loslassen... ist schwer. Vertrauen.
Oh ja, Übergänge. Diese Schwellen, die er so schwer überwand! Er vertraute nicht genug. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jederzeit konnte es vorbei sein! Noch eine Frage. Er musste die Gelegenheit nutzen.
Was... was trennt uns?
Ob die Stimme verstand, was er meinte?
Eine weitere Karte wurde gezogen. Ein Mann saß unter einem Baum, die Arme vor der Brust verschränkt. Vor ihm standen drei Kelche. Eine Hand reichte ihm aus dem Nichts einen vierten Kelch. Er ignorierte alle vier.
Die Vier... der Kelche. Geschenk... wurde nicht angenommen. Verweigerung. Möglichkeiten, Wege... abgelehnt.
Bin ich gemeint? Aber... was lehne ich ab?
Nicht jetzt... lange her.
Er war erschüttert. Es war lange her... wovon war hier die Rede?
Und danach, fragte er. Was geschah weiter?
Eine dritte Karte erschien, sie schwebte im Raum, dann senkte sie sich langsam nieder.
Die drei... Schwerter. Verletzung. Sehr... tief. Schmerz... Verlust.
Habe ich... Habe ich ihm das angetan? Oder er mir? Ich verstehe nicht...
Die Stimme schwieg.
Antworte mir! Ich muss das wissen!
Deine Aufgabe.
Was soll ich tun? Soll ich ihn selbst fragen?
...wird... ...icht antworten. Noch nicht. Zu ...üh.
Eine Ewigkeit lang war es still. Dann überwand er seine Verzweiflung für eine weitere Frage.
Sag mir... Wer ist Valerio?
Die Stimme schwieg. Eine weitere Ewigkeit wartete er. Dann zog die Hand drei Karten aus dem Stapel. Legte sie nebeneinander unter die Weltkarte. Deckte die erste auf.
Der Magier. Der Heiler. Ewiger Anfang, an dem alles möglich ist. Mut und... Verführung... Kunst und Faszination. Ein Meister der... Kräfte und Elemente. Weisheit ...nd Geheimnis, Wanderer ohne Raum... und Zeit. Geist... erschafft Materie. Er kennt... ...nnere und äußere Wege.
Gebannt starrte er auf die anderen beiden Karten.
Aber das ist nicht alles... Was noch?
Die Hand deckte die zweite Karte auf.
Der Gehängte. Keine Erkenntnis ohne... Opfer. Die andere... Perspektive. Zum... Rand der ...elt... geht man... ...allein.
Zum Rand der Welt ging man allein... Er wollte weinen. Die Stimme wurde schwächer... Geh jetzt nicht weg, flehte er in den dunklen Raum hinein. Noch nicht! Eine Frage noch, die wichtigste...
Was geschieht mit ihm? Geht es ihm gut?
Lange Zeit herrschte Stille. Er dachte schon, die Stimme hätte ihn verlassen, da fiel eine Karte auf den Tisch. Entsetzen packte ihn, als er das Bild sah. Ein Mann lag leblos am Boden. In seinem Rücken steckten Schwerter.
Zehn... Schwerter. Mehr Leid... ...nicht möglich. Er... kann... ...icht...
Was ist mit ihm... Was ist passiert? Wie kann ich ihn finden?
Er stirbt an... Unsterblichkeit. Er weiß... ...as zu tun ist. Warte hier. Geh nicht... ...efährlich. Warte...
Aber... Ich kann doch nicht einfach hier warten! Ich muss zu ihm! Wo ist er?
Die Stimme brauste auf. Das Knistern und Rauschen wurde lauter, es verschluckte die Worte.
Bleib... Du ...indest ihn ...ichhht...
D... ...gehst verloren in... d... Sphären. Er braucht... Zeit, lass... ihn... Ruhe. Er... zurück, wenn... er soweit issss...
Aber das kann ich nicht! Ich muss ihm helfen! Wo ist er... wie kann ich zu ihm kommen?
...nichhhht! ...ör ....ichhh, so.... ....st allesssss ....en...
Sprich mit mir! Sag mir, was ich tun muss! Wie kann ich ihn finden? ... Komm zurück!
Er schrie innerlich, wütend und verzweifelt, aber die Stimme verging im weiten Raum. Lange wartete er, lauschte in die Dunkelheit, aber er hörte nichts mehr.
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"...agnusss..."
Mit einem Ruck wurde er wach. Die Stimme! Sie war wieder da! Die Decke halb weg geschoben, ein Bein bereits über dem Holzboden, horchte er in die Dunkelheit des Raumes. Regen prasselte gegen das Fenster, Donner grollte.
"...Magnu... ...sss..."
Da! Wieder! Er hatte sich nicht getäuscht! Er hatte mehr Fragen... Er war noch nicht fertig! Mit Schwung kam er von seinem Lager hoch und auf die Beine. Seine Füße waren noch kalt, er konnte nicht lange geschlafen haben.
Im Dunkeln tappte er zur Tür, fand den Knauf und horchte in den Gang hinaus. Nichts. Da war nichts mehr; nur das Rauschen des Regens und der ferne Hall des Donners erfüllten das Haus. Aber er war sich sicher: Es hatte ihn gerufen! Vielleicht gab es da noch etwas... etwas Wichtiges! Was, wenn er doch noch Antwort auf seine letzte Frage erhielt?
Die Hand gegen die Wand ausgestreckt tappte er über die Holzdielen des zugigen Flures und Richtung Kaminzimmer. Er hatte die beiden Flügeltüren weit offen gelassen, um am Morgen ein wenig Tageslicht vor seinem Raum zu haben.
Der heulende Wind, der von der Halle in die obere Etage aufstieg, machte es ihm unmöglich noch andere Geräusche zu hören. Der Sturm toste lauter, je näher er der Treppe kam. Ein greller Blitz leuchtete einen Moment lang aus dem Kaminzimmer in den Gang hinaus und verriet ihm, wo sich die offenen Türen befanden.
Er wäre nicht im Türrahmen stehen geblieben; er hätte das Treppengeländer angesteuert, die Treppe, die in die Halle hinunter führte... Aber im Kaminzimmer war etwas. Es war... ein heller Schatten. Oder besser gesagt, es wirkte wie... ein Negativ. Kälte kam ihm aus dem Raum entgegen. So kalt war es plötzlich, dass sich die Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten und eine Gänsehaut Brust, Rücken und Beine überzog.
Wie angewurzelt stand er, starrte auf die Erscheinung, die sich als rauchhelle Silhouette vor der Dunkelheit des Raumes abzeichnete.
Er war froh, dass er trotz des furchtbaren Schrecks keinen Laut von sich gegeben hatte. Die menschliche Gestalt - denn das war es, was die Umrisse ohne Zweifel verrieten - schien ihn nicht zu bemerken. Sekunden wurden zu Ewigkeiten, während er wie gelähmt da stand, nur wenige Meter entfernt, die klammen Finger in den Saum seiner Tunika gekrallt, unfähig irgendeine Entscheidung zu treffen.
Sein Instinkt sagte ihm, er sollte flüchten. Sofort. Aber er wusste, dass seine Beine das nicht mitmachen würden. Sie würden glatt stehenbleiben, verwachsen mit dem Boden. Denn zu mehr und anderem waren sie nicht fähig.
Wie eine Faust ballte sich sein Magen zusammen. Seine Tränen fühlten sich heiß an in dem eiskalten Gesicht. Drehte er jetzt völlig durch? Was sollte er tun? Wo sollte er hin? Das war zu viel für ihn. Und doch musste er hier in dieser Situation ausharren, konnte nicht weg, nicht die Augen schließen, nicht flüchten, sich nicht verstecken... Knapp drei Meter vor ihm saß ein Geist. Mit dem Rücken zu ihm. In seinem Armlehnstuhl.
"...Mag... usss."
Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Sie war es. Die Stimme. Sie hatte eine Gestalt. Beim nächsten Blitz konnte er durch ihre körperliche Form hindurch die Tischkante und den Leuchter mit den gelöschten Kerzenstummeln sehen. Und den Arm, der sich jetzt bewegte; nur einer, denn der andere hielt etwas Großes. Die freie Hand zog eine Tarotkarte aus dem Stapel. Das Deck... er hatte es in den Beutel zurück gepackt. Jetzt lagen die Karten auf dem Tisch ausgebreitet.
"...Magnusss."
Ein Donnerschlag grollte hinter ihm durch den Gang. Er klammerte sich an den Glauben, dass die Erscheinung dasselbe Wesen sein musste, mit dem er bereits zweimal kommuniziert hatte. Die Art, wie sie ihn rief, war dieselbe. Er nahm seinen Mut zusammen, unterdrückte das Klappern seiner Zähne, die unkontrolliert aufeinander schlugen. Seine Stimme war kaum vorhanden, als er sprach.
"Ja... Hier bin ich. Ich kann... Ich kann dich sehen. Wer... bist du?"
Er sah es deutlich, und es brachte ihn beinahe um den Verstand: Die nebelige Gestalt erhob sich aus dem Armlehnstuhl. Langsam, in fließender Bewegung. Wie paralysiert starrte er auf den Stuhl, als sie sich mitten hindurch bewegte und einen, zwei Schritte auf ihn zu machte. Wenn man es genau nahm, waren es keine Schritte. Sie schwebte über den Boden. Er wagte es nicht, der unheimlichen Erscheinung ins Gesicht zu sehen... aber dann musste er es tun.
Es war tatsächlich nicht Valerio. Sein Weinen war Schock und Erleichterung zugleich, es hinderte ihn daran durchzudrehen. Er kannte die Gestalt, die da vor ihm stand, so gut - und er verstand absolut nicht, warum er nicht viel früher darauf gekommen war: Es war Lena. Und sie war nicht allein. Der kleine Tom saß auf ihrer Hüfte und schmiegte sich an sie.
"Lena! Lena...! Ich werde verrückt...", schluchzte er. "Wie... Wie habt ihr hier... Warum! Warum bist du..."
Seine Hände zitterten, als er einen Schritt auf sie zu machte und ungläubig die Hand ausstreckte. Ein Blitz zuckte vor den Fenstern, dann ein zweiter. Hinter den beiden Gestalten erhellte sich der Raum für Sekunden, das Licht durchdrang sie und ließ sie im selben Moment unsichtbar werden.
Geblendet schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, lag das Kaminzimmer im Dunkeln. Und Lena und Tom waren verschwunden.
Ende Teil 126
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