(13/5) Im Türrahmen
Valerios Worte kippten sämtliche Perspektiven um, an denen er sich bisher orientiert hatte. Ja, es war ehrlicher zu sagen: an die er sich geklammert hatte! Denn das entsprach noch viel eher der unschönen Realität. Angst war nicht länger ein Alibi, Unvermögen keine Ausrede mehr. Entwicklung war das Thema! Und ja, ganz Ähnliches hatte Valerio bereits zu ihm gesagt, als sie gestern vor dem Baderaum in Streit gerieten!
Klein hatte er ihn genannt. Erbärmlich klein, feige und machtversessen. Und Recht hatte er! Magnus wollte alles haben, was das Leben zu bieten hatte und war dabei so hilflos, unwissend und unfähig, er war nicht in der Lage, sich in diesem Leben, das er begehrte, innerlich auch nur einen Schritt zu bewegen. Angst hieß der König, der seine innere Welt regierte. Und die Königin der Kontrolle herrschte mit harter Hand über sein äußeres Reich. Erstarrung war sein Zustand. Er lebte nicht.
Und als sie im Wasser waren, als Valerio ihm die Frage nach seinem Vertrauen stellte und er menschlich so sehr versagte... Das war so beschämend gewesen, er hatte in diesem Moment nur knapp dem Impuls widerstehen können, einfach aus dem Zuber zu steigen, Valerios Haus zu verlassen und in die Dunkelheit zu verschwinden. Ins Nichts. Wo er hin gehörte.
Mit einem Unbehagen, das ihm wie Eiswasser den Rücken hinab lief, dachte er an die Offenbarung seiner inneren Armut. Du lebst ja gar nicht, hatte er zu ihm gesagt. Er erinnerte sich an sein Gesicht bei diesen Worten; noch nie hatte jemand so zu ihm gesprochen. Und noch niemals hatte ihn jemand in seinem tiefsten Innern so brutal gesehen und entlarvt.
Dass er auf einem gewaltigen Irrweg unterwegs war, wusste er nicht erst seit heute. Wenigstens das konnte er sich nun langsam eingestehen. Wie inspiriert und hoffnungsvoll war er als Kind gewesen! So plötzlich wurde es ihm nun bewusst, und mit der Erkenntnis kamen Szenen aus der Kindheit in sein Gedächtnis zurück, Erinnerungen, die wohl mehr als zwanzig Jahre verschüttet gewesen waren. Ja, da war er, der inspirierte, begeisterungsfähige Junge. Einer dieser Helden aus seinen Comics wollte er werden! Er hatte fest geglaubt, das sei ein Beruf, eine Mission - eine phantastische Aufgabe, die man wählen konnte, wenn man erwachsen war. Großes tun... Gut sein, die Dinge bewegen! Die Welt retten! Er hatte an Helden geglaubt. Und absolut für möglich gehalten selbst einer zu werden.
Aber dann ging sein Vater weg. Und kam nicht mehr wieder. Es war wohl kaum von Anfang an so geplant gewesen, es hatte sich ... durch Umstände ergeben. Aber dass er letztlich nichts dagegen unternommen hatte, dass er einfach aus dem Leben seiner Kinder verschwand, war etwas, das Magnus ihm bis heute nicht verzeihen konnte. Feigheit und Verantwortungslosigkeit mochten eine Rolle gespielt haben, er stellte sich seinen Themen nicht ...
Ein ganz neuer Gedanke, eine neue Perspektive auf die Dinge, die da geschehen waren, aber auch auf sich selbst, kam ihm plötzlich in den Sinn: Was, wenn er seinem Vater ähnlicher geworden war, als er es jemals für möglich gehalten hätte? Wenn auch der von ihm damals so bewunderte souveräne Mann in Wirklichkeit klein, unsicher und vor der eigenen inneren Wahrheit auf der Flucht gewesen war? Sein Vater hatte eine Wüste hinterlassen, ein verrottendes Stahlgerüst und bröckelnde Mauern, wo er die Idee des verlässlichen, verantwortungsbewussten Mannes und Vaters aufgegeben hatte, der er sicher hatte sein wollen.
Aus den dunklen Räumen der Verdrängung kamen ihm nun andere Szenen mit seinem Vater entgegen - völlig andere als die, die er zwanzig Jahre lang in seinem Kopf bewegt hatte. Sie hatten nicht in sein einseitiges Konzept vom gleichgültigen, egozentrischen Vater gepasst. Er musste diese Erinnerungen weggepackt haben, dorthin, wo ihre Bedeutung ihn nicht schmerzen konnte. Oh, es war so viel schief gelaufen!
Die Verbitterung seiner Mutter über das Zerbrechen der Familie hatte lange Zeit wie eine erstickende Wolke über ihnen gestanden. So gründlich hatte sie jedes Gefühl von Sicherheit und Hoffnung absorbiert, dass weder Kraft noch Aufmerksamkeit übrig waren, den kleinen Jungen, der er war, auf festen emotionalen Boden zurück zu stellen. Und später, als sich zumindest die sichtbaren Wogen wieder geglättet hatten, da hatte man es wohl vergessen. Ihn hatte man vergessen. Und so wurde er erwachsen - und niemand, zuletzt er selbst, wollte sehen, was tief in ihm auf der Strecke geblieben war.
Erwachsen... wann war man erwachsen, ein Mann? Was brauchte man dazu? Das hatte sich auch der junge Valerio gefragt, als er die Eimer mit den Beeren in die Backstube brachte. Ganz sicher hing mehr daran als seine Schuhe nicht mehr auf Dächern liegen zu lassen. Oder zu wissen, wann man sein Hemd an- oder auszog.
Der Klumpen, der unter Valerios Worten eben stetig gewachsen war, ging nicht weg, im Gegenteil. Er machte sich in seinem Hals drückend bemerkbar. Das konnte er nicht so einfach schlucken! Der kleine Magnus hatte gewusst, was Neugierde, Aufgeschlossenheit und Mut waren - er hatte Vertrauen gekannt! In sich und die Welt. Aber heute war er nicht die weiter entwickelte erwachsene Version dieses kleinen Jungen, er war... das dürre, trotzige und sperrige Gerüst einer längst verlassenen Baustelle. Man sah noch die Idee, die Inspiration, das, was es ursprünglich werden sollte, wenn es einmal fertig war.
Alles, dachte er. Alles, was gut und stark und groß war, hatte er sich damals für sein erwachsenes Ich vorgestellt. Ein Gefühl der Verzweiflung und Wut kam jetzt über ihn, als er daran dachte, wie sehr er den kleinen Jungen in sich stehen gelassen hatte - auch er! Nicht nur sein Vater hatte ihn verraten, er selbst hatte es ebenfalls getan! Er war dreißig Jahre alt und hatte seine Zeit nicht genutzt. Er hatte alle Energie, die er besaß, in die Entwicklung seiner Fluchtreflexe und den Aufbau brüchiger Ausreden investiert, anstatt die Träume des kleinen Jungen Realität werden zu lassen. Oder wenigstens etwas Ähnliches.
Oh nein, er wollte seinen aktuellen Zustand nicht mit seiner Kindheitsgeschichte entschuldigen! Heute wuchs jedes dritte Kind mit nur einem Elternteil auf, das war für viele Familien mittlerweile Standard, das wusste er. In der Regel war es der Vater, der fehlte - Und so viel hatte er in seinem kleinen Bekanntenkreis beobachten können: Es kam sehr darauf an, wie die Eltern mit der Trennung umgingen, wie sehr sie den generellen Respekt füreinander weiterhin aufrecht erhielten oder restaurierten - und wie ernsthaft und selbständig der Vater sein Verhältnis zu den Kindern auch weiterhin pflegte. Wenn er es tat. Magnus' Vater war keine exotische Ausnahme gewesen. Solche Väter passierten vielen Kindern.
Die Wut, die sich mit den Jahren über den Verrat seines Vaters in ihm angestaut hatte, war seitdem nie verflogen, im Gegenteil. Wie ein dumpfer, dunkler Stein saß sie ihm bis heute noch im Bauch. Er hatte sich damals vorgestellt, da einfach hinaus zu wachsen. Es abzustreifen wie eine alte Haut, die nicht mehr gebraucht wurde. So wie er auch aus seinen Jeans und T-Shirts hinaus wuchs. Er hatte abgewartet, dass es vorbei ging, verblasste... ihn in Ruhe ließ. Mit fünfundzwanzig hatte ihn die Erkenntnis eingeholt. Es ging nicht mehr weg. Das Warten auf seinen Vater und das Starren auf die Wunden, die dieser ihm beigebracht hatte, würde noch in ihm sein, wenn er ihn längst begraben hatte. Es war mit ihm verwachsen.
Und dann war ihm Giulia begegnet. Ihre Beziehung wurde zur Leinwand, auf der er den Film seines inneren Elends erstmals vollständig und in erschreckenden Farben und drastischen Bildern sah: So erbärmlich feige war sein Part, so übel sein Text aus Rechtfertigungen und Ausreden, so handlungsunfähig und gehemmt war er... verschanzt hinter seinen Barrikaden aus Verleugnung, Schuldzuweisung und Verweigerung. All das hatte er Giulia in die Arme geschoben - anstatt sich selbst in ihre Arme zu wagen! Er hatte ihr jede Verantwortung, jede Schuld für ihre Konflikte angehängt. Nur zwei Dinge blieben hartnäckig auf seiner Seite der Mauer und er wurde sie nicht los bis heute: Angst und Scham.
Und Angst vor der Angst, ergänzte er still für sich. Und Angst vor immer weiterer Erfahrung von Scham über sich selbst. Und Scham wegen... dieser furchtbaren, alles hemmenden und blockierenden Angst. Man könne sich für Angst oder Liebe entscheiden, hatte Valerio eben gerade gesagt, Oh, er hatte sich damals ganz klar entschieden! Er hatte Angst davor, sich lieben zu lassen, weil er nicht noch einmal fallen gelassen werden wollte. Er lebte nicht nur in einem klebrigen Spinnennetz, nein. Er war auch bereits mit dem Gift seiner eigenen destruktiven Lebenshaltung und falschen Überzeugung über sich selbst angefüllt. Und ausgesaugt und leer, wo er sich nach Leben und Fülle sehnte.
Trauer und Schmerz bäumten sich in seinem Innern auf, als er an Giulia dachte. So viele Situationen, so viele Momente, in denen er einfach nur über seinen Schatten springen, die Probleme anpacken, die Wahrheit über sich selbst hätte eingestehen müssen, und alles wäre vielleicht anders gelaufen! Wieso war er so schwach? Als er das Gesicht in den Händen verbarg, gab er ihr in allem Recht, was sie über ihn gesagt hatte. Mit ihm war nicht gut zu leben, denn er lebte nicht. Auch sie hatte das in ihm gesehen! Es gab bereits keine Gegenwart mit ihm... Wie hatte er nur erwarten können, dass sie an eine Zukunft mit ihm glaubte!
Er fuhr mit den Händen über sein Gesicht, wischte die Tränen weg, versuchte den Gedanken an Giulia abzuschütteln. "Bitte entschuldige... Das nimmt mich gerade sehr mit. Mein Leben ist zur Zeit nicht... einfach."
Es war Valerios Art, da zu sitzen und ihn offen und unmittelbar anzusehen, still abwartend, was sich bei ihm tat. Auch jetzt, als Magnus einen Blick zu ihm hinüber wagte, beobachtete er ihn. Es machte keinen Sinn mehr auszuweichen. Er hatte längst begriffen, dass Valerio nicht auf seine äußeren Reaktionen sah, sondern unmittelbar in ihn hinein.
Ich denke", begann Magnus, "ich... gehöre zu denen, die sich von Angst beherrschen lassen." Er lachte traurig über sich selbst und schüttelte den Kopf. "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so werde! Ich bin nicht der Typ Mann, der in einstürzende Ruinen hinein klettert und rettet, was zu retten ist. Mich selbst müsste ich retten! Mein Leben stürzt um mich zusammen!" Er sah Valerio fragend an. "Wie... wie findet man Inspiration über die eigene Angst hinaus? Es muss doch so etwas wie eine Methode, einen Schlüssel geben?" Der Narr auf dem Bild in seinem Hotelzimmer reichte ihm den Schlüssel. Immer noch. Wie nahm man Schlüssel an, die nicht... greifbar waren?
Ein dunkler Glanz trat in Valerios Augen, bevor er sie für einen Moment schloss. Er lächelte. Die warme, herzliche Zuneigung, die sich in seinem Blick zeigte, als er sie wieder öffnete, bewegte und verunsicherte Magnus zugleich. Er beugte sich in seinem Sessel vor, halblaut sprach er nun - gerade so, als würde er einem Kind ein Geheimnis verraten.
"Nimm diese plumpe und schlecht zu handhabende Kanone, die dein momentanes Werkzeug ist, und schieß auf den Mond. Selbst wenn du Lichtjahre daneben triffst, landest du in den Sternen."
Magnus war so erstaunt über diese Antwort, dass er den Mund öffnete und ihn danach gleich wieder schloss, so wenig wusste er darauf zu sagen.
Valerio nickte ihm zu. "So geht Leben. Es ist nicht anders als Atmen. Hör auf, über Ziele da draußen nachzudenken. Buchstäblich alles ist Leben! Du wählst, ja! Aber du musst aufhören dich vor der Freiheit zu ängstigen, die diese Wahl bedeutet. Frage dich nicht, wo dieses oder jenes Ziel sein könnte und wie du es erreichst - oder ob du jetzt gerade die Mittel dazu hast und ob es gelingen könnte. Hab deine Inspiration im Herzen! Beginne dich zu bewegen, fang irgendwo an, egal wo! Und das Leben bewegt sich mit dir. Es kommt dir entgegen. Und Ziele... die finden sich auch unterwegs." Seine Stimme wurde sanft. "Man kann sie austauschen, wenn sie nicht funktionieren."
Magnus blinzelte. Er war nicht sicher, ob er verstanden hatte, was Valerio ihm da sagte. "Woher weißt du solche Dinge", fragte er und hatte das Gefühl, eben erst aufgewacht zu sein. "Woher nimmst du solche Erkenntnisse?"
Valerio wies mit einer unbestimmten Geste durch den Raum. "Ich sehe es. Ich sehe die Welt. Es ist wie mit einer Kamera und dem Keimen von Samen. Wenn du ein Foto machst, siehst du ein Samenkorn. Du siehst die Entwicklung nicht, deine Kamera hält nicht fest, was sich im Innern tut, wie alles längst in Bewegung und im Werden ist. Während du denkst, du blickst auf ein starres, lebloses Ding. Stelle deine Kamera auf und lass sie viele Bilder in Folge machen, über einige Tage - und du siehst etwas völlig anderes: Bewegung, Zusammenhänge, Lebendigkeit. Und Entwicklung. Da hast du es, das Leben."
Magnus war verblüfft über die Einfachheit der Bilder, die Valerio verwendete. "Du verstehst eine Menge davon! Ist das ein Zeitwanderer-Ding, dieser erweiterte Blick auf... die Welt und wie sie funktioniert?"
Das Lachen, mit dem Valerio den Kopf schüttelte, ließ ihn aufschrecken. Sofort befürchtete er etwas Dummes gefragt zu haben.
"Nein, absolut nicht! Das ist ein menschliches Ding!"
"Ein menschliches Ding? Aber wie das? Warum weiß ich das alles nicht?"
Valerio nahm die Karaffe vom Tisch und füllte Magnus' Glas. "Nun", begann er und wurde wieder ernst, "ich denke, die meisten Menschen leben ungefähr achtzig bis hundert Jahre zu wenig, um den Blick einer Kamera zu erlangen, die mehr als einzelne Momentaufnahmen macht." Er seufzte. "Ihr lest eure Philosophen nicht, Magnus. In jeder Generation gibt es einige, die beobachten das Leben und die Welt. Sie üben den weiteren Blick auf Zusammenhänge und Prozesse. Die meisten jedoch verbringen ihr ganzes Leben damit, dem System zu dienen, ihre Ängste zu pflegen und sich tieferen Erkenntnissen und Einsichten zu verweigern."
"Du hältst es also für möglich, dass man lernen und seinen Horizont erweitern könnte, wenn man mehr Lebenszeit hätte?"
Valerio hob eine Augenbraue. "Selbst der größte Idiot hört nach zwanzig Versuchen auf, in dieselbe Steckdose zu fassen. Bei vielen Menschen genügt zehn Mal eben nicht für eine brauchbare Erweiterung des Horizontes. Sie brauchen Zeit für mehr Versuche. Bis sie etwas anderes versuchen." Er dachte einen Moment nach, dann nickte er. "Doch... Ich denke, der Blick auf die Dinge des Lebens und auf sich selbst würde sich weiten."
Er nahm die Weinflasche vom Boden hoch und öffnete sie. "Nicht immer sicherlich, nicht bei jedem Menschen. Aber da wäre ein Effekt in der Gesellschaft zu sehen. Sie brauchen nur mehr Zeit, denn sie haben zuvor einen Haufen Angst zu überwinden und alte Strukturen abzulegen. Bevor sie lernen können, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und sensibler zu werden für das, was nicht offensichtlich ist. Sie haben zu lange auf Material gestarrt. Ihr Blick muss sich wandeln. Es geht im Leben nicht um Materielles, sondern um alles andere."
Magnus war einigermaßen verwirrt. Das ging ihm ein wenig zu schnell ... "Aber woher kommen diese Ängste", fragte er, um über Valerios Erläuterungen seine eigenen Gedankengänge nicht aus dem Blick zu verlieren. "Die ganze Gesellschaft ist von Angst beherrscht! Wenn man nicht handelt, obwohl man müsste, dann aus Angst. Und weil man nicht weiß, wie man sie überwinden könnte. Aber auch, wenn Menschen aktiv sind, geschieht vieles, was sie entscheiden und tun, zur Vermeidung von Angst. Oder getrieben durch Angst! Warum ist das so?"
"Weil wir gewaltvolle und lebensfeindliche Strukturen geschaffen haben, in die wir bereits hinein geboren werden. Gewalt erzeugt Angst. Gewaltvolle Strukturen verwenden Angst als Werkzeug zur Kontrolle von Menschen. Und Menschen, die regelmäßig Gewalt erfahren, lernen ihrerseits Kontrolle und Gewalt auszuüben, um ihre Angst ertragen zu können. Du hast es selbst gesagt: Die sichtbaren, materiellen Dinge haben in diesem System einen extremen Wert erhalten, während alles Unsichtbare entwertet und unterdrückt und daher oft auch beschädigt und verkümmert ist."
"Unsichtbares?"
"Ja. Deine Psyche, Magnus. Dein Geist, deine Seele. Gefühle. Fantasie, Inspiration, Hoffnung. Und Liebe."
"Aber... wird nicht Geist heutzutage sogar sehr hoch geschätzt?"
Valerio warf den Kopf zurück und lachte wieder. "Du stellst Fragen, Magnus! Oh ja, selbstverständlich! Solange du Geist einsetzt, um Material zu mehren - und um Prozesse zu rationalisieren, um dann noch mehr Material in noch weniger Zeit zu erschaffen und dieses dann gewinnbringend zu verkaufen - so lange sind du und dein Geist auf diesem Planeten willkommen." Er ließ Magnus einen Moment Zeit, seine Worte nachzuvollziehen. Seine Stimme wurde dunkel, als er weiter sprach. "Aber versuche diesen Geist zu bewegen, um ein Mittel gegen Krebs oder zur Linderung von Armut und Hunger in die Welt zu bringen, und du wirst sehen, wie man dich und deinen Geist schätzt. Oder zeige deinen Geist, indem du die Lügen und sich selbst erhaltenden unmenschlichen Mechanismen dieser Gesellschaft aufdeckst. Man wird dich angreifen. Und je mehr du Recht hast und je klarer du darüber sprichst, desto mehr wird man versuchen, dir deinen Geist abzusprechen."
In den letzten Worten spürte Magnus eine gewaltige Bitterkeit und Enttäuschung. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also schwieg er.
"Die Gewalt der Entwurzelung", spann Valerio den Faden weiter. "Wir sind so weit weg von allem Lebendigen, wir haben den Kontakt zu unser eigenen Lebendigkeit verloren. Zu dem, was wir brauchen und was gut für uns ist. Bring Liebe und Vertrauen in diese Welt, und man wird dich für einen religiösen Spinner oder für einen Esoteriker halten, dich an den Rand stellen und lächerlich machen. Gutmensch nennt man bei euch spöttisch die Inspirierten, die an Positives glauben. Versuche alternative und natürliche Heilmittel an die Menschen zu bringen oder die Massentierhaltung zu beenden, und du wirst in Depressionen verfallen und Freunde verlieren. Versuche Kriege zu beenden und man wird dich töten, weil zu viele am Krieg verdienen wollen. Versuche den Zucker aus unser Ernährung zu verbannen und den Menschen die Augen darüber zu öffnen, wie sehr Wirtschaft und Industrie gezielt die Süchte der Bevölkerung fördern, um sie krank und abhängig zu halten! Du wirst mit deiner guten Idee kein Land gewinnen und dich vor Gericht wiederfinden, verklagt von denen, die auf Kosten der Menschen ihre Geschäfte machen."
"Aber einige schaffen doch etwas", wandte Magnus ein. "Es wurde ja schon vieles bewegt! Manche haben die Kraft, sie finden Möglichkeiten, sich mit guten Ideen durchzusetzen und die Dinge zum Besseren zu verändern."
Valerio nickte. "Ja, das ist richtig. Und das hört hoffentlich nicht auf, die Gesellschaft braucht solche Menschen. Denn das sind sie, die Leute, die in Ruinen hinein gehen, weil sie an alle denken - und nicht nur an sich selbst. Aber Angst ist ein starker Gegner. Angst kooperiert mit verschiedenen Formen von Gewalt. Wer Angst hat, sieht weg, wenn Unrecht geschieht. Wer einzuschüchtern ist, schweigt, wenn er reden sollte. Wer ängstlich ist, wird manipulierbar, unaufrichtig und gewaltbereit. Nicht nur unter Zuhilfenahme äußerer Mittel wie Waffen, sondern bereits hier."
Valerio legte die Finger an seine Schläfen. "Gewalt beginnt hier, in der persönlichen Fantasie über die eigene Schwäche - denn du tust dir Gewalt an, wenn du deine Stärke aus dem Fokus verlierst und an deine Schwäche zu glauben beginnst, weil du selbst oder jemand anders sie dir einredet. Du fühlst dich verletzlich, gefährdet, und das ist der Beginn der Gewalt, die von dir ausgehen wird. Wer sich für ein Opfer hält, kann Täter werden."
Wie er da mit offenem Mund saß und ihm zuhörte, machte Magnus wahrscheinlich keinen intelligenten Eindruck, aber das war ihm egal. Valerio eröffnete ihm eine ganz neue Perspektive auf sein inneres Dilemma. Und die Zusammenhänge! Er selbst hatte immer gemeint, seine Feigheit sei ein privates Problem und daher seine Angelegenheit. Langsam dämmerte ihm, dass Valerio recht hatte: Es gab ein System, dem er diente. Ein wenig schämte er sich; all das hatte viel mit ihm selbst zu tun, mit seiner Art, wie er sich vor dem Leben, den Herausforderungen weg duckte. Der Kloß in seinem Hals wurde größer, auch ein Schluck aus seinem Glas brachte keine Erleichterung. Mit brennenden Augen hörte er weiter zu, als Valerio fortfuhr.
"Wenn wir glauben, dass wir schwach und ausgeliefert sind, Magnus, wenn wir abgeschnitten sind von unseren eigenen Kräften, dann beginnt es: Angst ist Nährboden für Aggression. Und weil wir wissen, dass es Folgen hat, wenn wir unsere Aggressionen gegen die Dinge und Menschen richten, die uns Angst machen, richten wir sie nach innen, gegen uns selbst. Wir schaden uns - und geben weiterhin den Dingen und Menschen die Schuld, die uns Angst machen. Viele Menschen richten ihre Aggressionen gegen sich selbst - und immer wieder aber auch gegen andere Menschen. Sie werden kalt, unfair, egoistisch. Kurzsichtig."
Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und lehnte sich in den Sessel zurück. "Irgendwo muss der Druck hin! Ihr habt eine Menge Abwehrmechanismen, die euch regelmäßig um die Ohren fliegen. Und ihr entwickelt Feindbilder, die euch von den wahren Ursachen für euer Leiden ablenken sollen. Die meisten Menschen suchen zuletzt bei sich selbst: Die Regierung ist schuld, die Alten sind Schuld, die Ausländer, die Arbeitslosen, die Reichen sind Schuld - und im Privaten ist es der böse Bruder, die neidische Freundin, der geizige Chef... oder der Nachbar. Oder seine Katze, sein Hund, seine Kinder, sein Rasenmäher."
Magnus wollte etwas sagen, aber Valerio war noch nicht fertig. "Du leidest schwer unter deiner Angst... Aber ich sehe auch, dass du sie zu deinem mächtigsten Alibi gemacht hast. Darum gibst du sie nicht auf, du brauchst sie. Du hast sie instrumentalisiert, sie ist dein Werkzeug geworden. Angst ist dein Argument für dein Handeln und Nichthandeln. Du hast entschieden, dass nichts Besseres und Höheres deine Entscheidungen und dein Handeln beherrscht als das größte Gift, das dieses lebensfeindliche System produziert: Angst. Du bist ein Teil dieser zerstörerischen Strukturen. Deine Entscheidungen und Überzeugungen halten diese Mechanismen aufrecht."
Magnus sah erschüttert auf. Er dachte an den Jungen, der im Garten seines Großvaters in seinem Indianerzelt saß und Berufsheld werden wollte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass in jeder Generation kleine inspirierte Menschen Großartiges in der Welt tun wollten - bis ihnen Erwachsene den Mut und die Inspiration ausredeten, sie brachen und sie zwangen, ebenfalls in das System von Leistung, Material, Schuld und Angst einzusteigen. Irgendwann, vor Jahren, da hatte Giulia einmal versucht ihm zu erklären, warum sie Kinder wollte. Er erinnerte sich jetzt. So etwas in der Art hatte sie gesagt! Sie wollte ihren Beitrag dazu leisten, dass spätere Generationen ihr inspirierendes Licht in die Welt brachten. Magnus hatte davon nichts verstanden. Er hatte die Diskussion damit erstickt, dass er ihr erklärte, wohin er noch in Urlaub fahren und was er sich im Leben noch kaufen und gönnen wollte... und dass er seine Ziele mit Kindern getrost vergessen könne.
"Ich denke, ich... Ich belüge mich selbst und meine Umgebung", sagte er leise. "Ich mache mir bereits mein Leben lang etwas vor. Und ich richte gewaltvollen Schaden an mir selbst an. Und bei anderen Leuten." Noch bevor irgendein Kontrollmechanismus in seinem Innern einrasten konnte, hatte er die Worte bereits ausgesprochen.
Valerios Augen wurden weit. Ungläubig starrte er ihn an. Dann nickte er ihm langsam zu. "Willkommen unter dem Türrahmen zum Leben.... Magnus Weber. Aber Vorsicht: Hier wird gefühlt! Du eroberst dir die Fähigkeit zum Empfinden von Glück, Freude, Inspiration, Mut und all der anderen wunderbaren Dinge zurück, die das Leben zu bieten hat - aber nicht, ohne im selben Maß auch Schmerz und Leid zu spüren. Du bekommst das eine nicht ohne das andere. Habe den Mut, mit dir selbst und mit der Welt zu fühlen, sieh hin - und dann handle aus der Mitte deines Herzens. Denn dort findest du deine wahren Kräfte."
Die Worte trafen Magnus wie ein Stein an den Kopf. In einer hilflosen Geste breitete er die Arme aus. Er wollte reden, etwas drängte danach ausgesprochen zu werden, aber er fand die Worte nicht, ja, nicht einmal die Luft, die es gebraucht hätte, sie hervor zu bringen.
Mühsam schluckte er. Er atmete zitternd ein. Erschüttert und stumm starrte er in Valerios Gesicht - hilflos vor der Wahrheit, die dieser ihm gerade vor Augen geführt hatte. "Im Ernst, ich will... Ich will das nicht mehr", stammelte er schließlich, während ihm die Sicht auf sein Gegenüber verschwamm. "Ich kann so nicht weitermachen, ich... Ich will mein Leben zurück!" Er weinte jetzt, und es war ihm egal. "Ich will das schaffen! Aber wenn ich Angst habe? Wie finde ich den Anfang?"
Er heftete sich an die sanfte Stimme Valerios, er saugte die tiefen, vibrierenden Klänge, die darunter mitschwangen, wie ein Lebenselexir auf, während er zugleich aufnahm, was er ihm sagte.
"Es beginnt damit", erklärte Valerio, "dass du verstehst, was Angst ist. Sie ist ... ein Stacheldraht. Abschreckend, aber nicht unüberwindbar. Sie ist keine abgeschlossene Stahltür. Man holt sich einige Kratzer, wenn man sie überwindet, aber das heilt wieder. Man sollte regelmäßig seine Ängste überwinden, denn dieser Stacheldraht hat es an sich, dass er dichter wird, wenn man ihn selten oder kaum übersteigt. Aber das Gute ist, Magnus: Wenn du das öfters machst, erhältst du Übung darin, Erfahrung. Es wird leichter." Er lächelte. "Und meistens geht es nicht gleich ums Leben, sondern vielleicht einfach nur darum, die Wahrheit zu sagen. Aufzustehen. Nein zu sagen, wenn alle anderen Ja sagen. Oder... eine Frau anzurufen."
[HINWEIS: Dies ist kein Kapitelende, die Szene setzt sich fort!]
Ende Teil 111
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