(11/2) Sechzehn und drei
"Und raus mit ihr! Langsam, Elizio... Pass auf, wenn sie in Sicht kommt! Die Leiter darf nicht die Steine berühren!" Valerio griff zwischen ihre Füße und legte die Hände an die Sprossen, um das Tempo notfalls bremsen zu können. Mit einem leisen Ruck kam die Leiter in Bewegung.
"Aber ich... Ich möchte bleiben! Ich kann helfen", rief Fiamma zum zweiten Mal.
Valerio krabbelte auf allen Vieren nach vorne, packte ihre Arme, die sie gestikulierend gehoben hatte und drückte sie ihr fest auf die Brust zurück. "Lass die Arme unten, Fiamma, die Wand kommt. Den Kopf runter! Mach die Schultern schmal..."
"Aber ich..."
"Aber du willst ganz bestimmt mal wieder frische Luft atmen! Die Sonne und den Himmel sehen!", ergänzte Valerio energisch den Satz für sie. "Und das wirst du jetzt."
Über ihren Kopf hinweg rief er zum Loch hinaus: "Anna! Hier kommt Fiamma... Beinahe unversehrt, nur eine kleine Kopfwunde... und zäh und mutig wie ein Bär!" Er lachte. "Und ich kann dir sagen, Heilerin, wir geben sie nur ungern heraus!" Er zwinkerte der Nonne in das noch immer trotzige Gesicht und ihre Züge milderten sich ein wenig. Schließlich lächelte sie.
Er sah, wie erschöpft sie war. Es wurde Zeit, dass sie aus dieser bedrückenden Dunkelheit heraus kam. Dass sie etwas aß und sich erholte. "Grüß die Welt von uns", murmelte er halblaut, als ihr Kopf durch das Loch verschwand.
Valerio hörte sie weinen, als man sie draußen jubelnd begrüßte. Neben der Öffnung sackte er in die Knie. Seine klebrigen Handflächen schlossen sich vor dem Gesicht. Wie satt hatte er diesen metallischen, süßlichen Geruch!
Er stellte sich vor, der Duft aus Peppinas Backstube, von der Heuwiese oder dem Basilikum aus dem Garten würde ihm in die Nase steigen. Kamille! Zimt! Das Pflaumenmus seiner Mutter! Kaum konnte er sich an solche Düfte erinnern. Caterinas Haare. Nicht... Er durfte nicht an sie denken. Und doch tat er es die ganze Zeit! Er hatte Colombano weggeschickt, der es doch nur gut gemeint hatte! Der Mönch wollte helfen! Aber Valerio verteidigte dieses finstere Loch wie eine Festung, einen Schatz. Weil er Angst hatte, man würde sie verletzen... auf sie treten, wenn sie hier irgendwo lag.
Es war richtig, dass zu viele Helfer hier alles zum Einsturz bringen konnten, ja. Die Gefahr war zu groß und sie konnten nicht alle zugleich beaufsichtigen und anleiten. Der Kartenraum war die Hölle und der Gang mit seinen Trümmern und Schatten, den instabilen Wänden und dem Knirschen in der offenen Decke ließ die Nerven nach kurzer Zeit blank liegen...
Wer war geeignet für so etwas? Es gab nicht viele, die das schafften. Oder die ihr Leben riskieren würden, um vielleicht jemanden zu retten - und vielleicht auch nicht. Aber einen oder zwei verständige und vorsichtige Helfer, die hätten sie annehmen müssen. Ihnen gingen die Kräfte aus! Sie konnten nicht überall zugleich sein oder noch lange so weitermachen - und Valerio wusste, er hatte Schwierigkeiten sich einzugestehen, dass er sterbensmüde und verzweifelt war.
Nun mussten sie Platz schaffen. Sechzehn Frauen lagen hier im Schein der Fackeln. Die meisten tot. Zwei der fünf, die lebten, waren nun draußen, die anderen drei waren schwer verletzt und Valerio hatte keine Ahnung, ob sie es schaffen würden. Sie schliefen zwischen Matten und Decken, notdürftig verbunden und betäubt von Schlafmohn, weil ihr Schreien alle wahnsinnig gemacht hätte. Und sie selbst zu aller erst.
Einer hatte er den Arm abgebunden. Es musste fest sein, der Arm würde absterben. Aber entweder würde einer der Heiler ihn heute noch amputieren... oder sie musste verbluten. Und wenn die Blutung aufhören würde, was einem Wunder gleich käme, dann würde sie verfaulen, Tag für Tag, wenn man den Arm nicht trotzdem abnahm. Sie musste den Arm verlieren oder das Leben. Oder erst den Arm und dann das Leben. Wenn der Heiler die Blutbahnen nicht abband und auch nicht zuließ, dass Valerio ihm zeigte, wie und wo... dann konnte man sie bereits jetzt zu den Toten zählen. Und auch, wenn alles heute Abend so verlief, wie er es sich für die Novizin wünschen konnte... so würde dies immer noch ein furchtbarer Abend werden, denn er musste wohl dabei sein, wenn sie eine Chance haben sollte. Valerio hatte Angst. Er hoffte so sehr, sie würden es allein tun. Auf seine Weise, ja - aber ohne ihn, so dass diese neue Schreckensszenerie, noch mehr Blut, noch mehr Schreie an ihm vorbei gingen.
Er versuchte seine Gedanken abzulenken. Fiamma und Scalea... und dazu drei mehr, die lebten. Zumindest in diesem Moment. Wenn diese drei den Heilern übergeben waren... Vielleicht sollte er dann vernünftig sein und zwei Helfer hinein holen, damit sie die Leichen auf die Leiter binden konnten, während er weiter suchte? Drei fehlten noch. Nur noch drei mussten gefunden werden. Je mehr sie fanden und je mehr der Gefundenen nicht Caterinas Gesicht hatten, desto näher rückte für ihn der grausige Moment, den er sich die ganze Zeit bereits vorstellte. Die Rechnung war einfach: Wenn sie jetzt, gleich tatsächlich noch weitere Frauen fanden, dann musste sie dabei sein.
Der wollene Riemen der Tasche kratzte und juckte Valerio über der Brust. Er wollte sie nicht abnehmen. Wenn er sie irgendwo ablegte, würde er sie nicht bei sich haben, wenn er sie am meisten brauchte. Er hatte in einer der beiden Flaschen einen Rest aufbewahrt. Diese Menge würde reichen. Für jeden Zweck.
Ihm war übel. Sein Magen war ein schmerzendes dunkles Loch. So wie dieses hier, dachte er bitter und nahm die Hände noch immer nicht vom Gesicht. Er wollte es nicht mehr sehen, dieses dunkle, harte und kalte Verließ, voll mit Blut und Leichen. Ein plötzliches Zittern durchlief ihn vom Kopf bis zu den Beinen hinunter, ihm war kalt.
Das Blut an der Hose trocknete zum wiederholten Mal, er hatte nicht mitgezählt, wie oft der Stoff sich wieder neu mit frischem Blut voll gesaugt hatte, wenn es vom letzten Mal schon beinahe getrocknet war. Die Hose scheuerte auf der Haut, der Stoff fühlte sich mittlerweile hart und rau an. Er würde sie wegwerfen, wenn er hier fertig war. Wo seine Tunika lag, wusste er nicht mehr. Hatte Scalea sie mitgenommen? Hatte er sie wieder unter ihren Kopf gelegt, als sie sie hinaus zogen? Oder lag sie hier irgendwo in einer dunklen Ecke, hinter Steinen oder vom Staub bedeckt, so dass er sie im Schein der Fackeln nicht sehen konnte? Valerio konnte sich nicht erinnern, wo er sie zuletzt gesehen hatte.
Es musste lange her sein, seit er dem Baumeister hier hinein gefolgt war, dachte er. Jahre, ein Leben, eine Ewigkeit verbrachte er bereits hier, sein Zeitgefühl war vollkommen aufgelöst. Die Schulter- und Nackenmuskeln schmerzten, als er langsam den Kopf aus den Händen hob und zur Öffnung hinüber sah. Seine Augen brannten. Wann hatte er zuletzt da draußen die Sonne gesehen? Das Licht verschwand... Es musste die Dämmerung sein. Es wurde Abend.
Als Valerio aus seinen trostlosen Gedanken auftauchte, war Tomaso da. Mit besorgtem Blick hielt er ihm einen mit Wasser getränkten Lappen aus grobem Leinen hin. Valerio verstand nicht, was er damit sollte.
"Du siehst schlimm aus." Tomaso wies mit dem Lappen auf Valerios Brust und Arme. "Hier, nimm das. Besser als nichts." Er seufzte, als Valerio ihm den nassen Stoff aus der Hand nahm. "Ich glaube, ich gönne mir heute Abend ein paar Stunden im Badehaus. Ich brauche eine, die mir das hier", sein Blick schweifte über das Chaos, das sie umgab, "von der Haut schrubbt. Und von der Seele", ergänzte er. Er lächelte. Dann schüttelte er den Kopf. "Wenn ich eine finde, die sich darum kümmern mag. Das wird einige Taler kosten."
Valerio sagte nichts. Er kämpfte mit den Tränen, die plötzlich seine Augen überschwemmten. Ein Bild von Caterinas weißer Hand, wie sie über die Nadeln eines Rosmarinzweiges strich, erschien aus dem Nichts und bannte ihn, quälend und unausweichlich. Wenn sie ihn so sehen würde - was musste sie denken! Er packte den nassen Stoff fester. Das getrocknete Blut wollte sich nicht lösen, als er immer wieder mit dem Lappen seine Unterarme und Hände abrieb. Der Lappen war kalt. Wo er seine nasse Spur hinterließ, spürte Valerio den Luftzug auf der Haut. Als eine Gänsehaut schmerzend Oberkörper und Arme überzog, warf er das blutige Tuch auf den Boden und gab auf. Beine und Rücken verkrampften sich, als er langsam aufstand. Er war unendlich müde... Er musste sich bewegen, wenn er nicht einschlafen wollte.
Tomasos Hand legte sich matt auf seine Schulter. "Ich hatte dir gesagt, Junge... das hier wird nicht einfach werden. Aber nun sind wir hier. Und darum bringen wir es auch zuende."
Valerio starrte auf die Öffnung hinunter. Blass und dünn lag der Streifen schwindenden Lichts auf dem Steinboden davor. In seinem Kopf formierten sich Gedanken.
"Tomaso...", begann er zögernd, "...passt du da durch?" Fragend sah Valerio ihm in das müde und verdreckte Gesicht. Um ihm zu zeigen, was er meinte, klopfte er ihm mit dem Handrücken auf den Bauch.
Der Baumeister schüttelte langsam den Kopf. "Nein. Da passe ich nicht durch." Er wirkte sehr ruhig, als er es sagte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst.
Valerio sah ihn erschrocken an.
Die Leiter kam zurück. Es ging weiter.
Ende Teil 86
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