(10/6) Das halbe Versprechen
Ihr Lieben! Wer bei Musik lesen kann, dem empfehle ich, das wunderschöne Heyr Himna Smiður (gesungen von Eivør Pálsdóttir) beim Lesen laufen zu lassen. Die Musik ist perfekt auf den Text abgestimmt (auch bezüglich der Länge), bzw. umgekehrt, ich habe das Kapitel zu diesem Stück geschrieben. Und ja, es ist Isländisch, aber lasst Euch deswegen nicht irritieren! Isländisch ist die gigantisch schönste Sprache für dieses Stück. Viel Freude am Effekt, wenn Musik und Kapiteltext zusammen kommen! :-) (Zeit lassen beim Lesen, nicht durch den Text jagen - dann kommt es wunderbar mit der Musik hin!)
Text (Hochmittelalter): Kolbeinn Tumason, geb. 1173 (!!)
Melodie: Thorkell Sigurbjornsson, geb. 1938
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Gott hörte zu. Sie spürte es. Zu groß war die Erfahrung mit dieser Art des Zwiegesprächs, als dass sie sich täuschen konnte. Anna saß versunken da, alle Sinne gebündelt und zum Ewigen hingewendet, auf der Suche nach der Stimme, die keine war und die sich doch so klar verständlich machte.
Was kostete es, dieses Unglück zu mildern, es abzufangen? Was war der Preis? Was verlangte Gott dafür, welches Opfer würde er annehmen? War es Sünde, heidnisch, so zu denken? War es ein Bestechungsversuch, ein Rückkauf dessen, was geschehen war, wenn man über Preise verhandelte? Anna wusste es nicht. In der Bibel prüfte Gott die Menschen, er verlangte große Opfer zum Beweis ihrer Treue, ihres Glaubens. Aber das war etwas anderes. Konnte man mit dieser Kraft verhandeln? Was... Was hatte sie anzubieten - sie, eine alte Nonne, die im Winter ihres Lebens stand? Dein Wille geschehe... Es war eine der großen Herausforderungen dieses Glaubens, dass man vertraute. Und hinnahm.
Nimm mich, dachte sie. Für ein einziges dieser jungen Leben, nur eines. Sie dachte nicht an Namen. Oder... drei. Gib uns drei. Fünf. Zehn Leben, wenn das nicht zu viel ist... Es würde ihr Leben und Sterben krönen mit der Gnade Gottes.
Sie fiel aus der Zeit, vergaß, wo sie war. Antwort kam, als sie die Frage beinahe schon vergessen hatte. Er sprach zu ihr. Nicht in Worten, sondern es bewegte sie unmittelbar - weg von dumpfer Verzweiflung, quälender Hilflosigkeit und dieser Schuld, die in ihr bohrte...
Gott antwortete auf ihr Gebet und schickte Erleichterung. Es war... eine unmittelbare Erkenntnis, ein neues, plötzlich einsetzendes Gefühl, entlastend und belebend, das sich wie eine Welle in ihr ausbreitete. So überraschend, dass es sie aus ihrer Versunkenheit hob. Tief atmete sie ein und öffnete verwundert die Augen.
Sie musste geweint haben... sie blinzelte in dem hellen Licht, das den Hof durchflutete. Der Regen hatte aufgehört. Von der Kante der Überdachung tropfte es. Mühsam stützte sie sich an dem großen Weidenkorb hoch, der greifbar nahe stand, und erhob sich vom Boden.
Als sie unter dem Tuch hervor trat, sah sie die bildgewordene Antwort, die Gottes Sprache war.
Der Regenbogen, der sich über der Ruine der Novizenschule wölbte, war kein volles Versprechen, es war... ein Vielleicht. Die linke Seite fehlte, sie verschwand im Nebel, der vom Berg auf das Kloster herab wallte. Aber auf der anderen Seite, dort, wo ihn das Licht der Sonne traf, erstrahlte er mit ihr. Seine Farben waren satt und klar und hoben sich so deutlich voneinander ab, wie sie es in ihrem Leben noch nicht gesehen hatte.
Der alte Busch mit den länglichen Blättern, der dort vorne vor den Trümmern des Säulenganges stand - an der Stelle, wo die niedrige Mauer gewesen war, bevor Dach und Gewölbe darauf nieder stürzten - er leuchtete regelrecht vor den grauen Steinen! Sein sattes, tiefes Grün, und dazu der Regenbogen, der direkt aus ihm zu entspringen schien, verzauberten die alte Heilerin.
Grün war die Hoffnung! Und der Regenbogen war Symbol für das göttliche Versprechen, niemals mehr die Menschen mit Vernichtung zu strafen, so wie es bei der Sintflut geschehen war. Keine Flut mehr, die alles unter sich begrub....
Verwundert über den Anblick, langsam, staunend, näherte sie sich der Ruine. Tief atmete Anna die warme, feuchte Luft, während sie zögernd einen Fuß vor den anderen setzte. Das musste sie erzählen, dachte sie. Sie würde den anderen von dem Regenbogen über der Ruine erzählen, dem Zeichen, das unmittelbar aus diesem Busch zu kommen schien...
Anna streckte die Hand aus, berührte die Blätter. Was hatte das zu bedeuten? Gab es Hoffnung? Sie sollte zu den anderen laufen und deren Meinung hören. Sie mussten neu beginnen, die Situation besprechen! Was, wenn noch nicht alles verloren war?
Sie wandte sich um und lief schnellen Schrittes über den Hof und auf das Tor zu.
Hinter dem Busch verborgen griff eine Hand durch ein Loch in den Trümmern, direkt über dem Boden. Sie umfasste einen Stein, löste ihn vorsichtig und zog ihn ins Dunkel hinein.
Ende Teil 80
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