(10/5) Gefährliche Wege
Tomaso wandte sich zu ihm um. Erschrocken hob er die Augenbrauen und sah ihn fragend an, als er Scaleas leblosen Körper auf seinen Armen sah.
"Ist sie...?"
Valerio schüttelte den Kopf. "Schlafmohn", sagte er halblaut. "Wenn sie wach wird, ist sie in der Krankenstube und gut versorgt."
"Aber wie willst du sie hier raus..."
Er unterbrach den Baumeister; ruhig und leise sprach er über Scaleas Kopf hinweg, als befürchtete er sie zu wecken. "Da vorne, die Lücke." Er wies mit dem Kopf zur äußeren Wand hinüber. "Ein direkter Weg nach draußen. In den Hof."
"Nein", zischte Tomaso. "Das ist zu gefährlich. Wir können die Lücke nicht erweitern. Wir nehmen da nichts weg! Die Außenseite rühren wir nicht an."
"Also gut." Valerio nickte. Der Baumeister musste ihm seine unterdrückte Wut anmerken. "Wie du willst", sagte er und atmete tief ein. "Dann also... das Treppenhaus."
"Du bist ja völlig verrückt", stieß Tomaso aus. "Das werde ich verhindern, solange ich hier drinnen bin und es mein Kopf ist, auf den diese Decke runterbricht, Junge." Er zeigte nach oben. "Du wirst da nicht hochgehen."
Valerio warf ihm einen harten Blick zu. "Dann eben die Lücke. Sie ist das einzige, was wir..."
"Nein!" Tomasos Augen funkelten ihn aus einem roten Gesicht an. "Ich hatte dir gesagt, wenn wir hier reingehen, dann hörst du auf mich. Ich bin der Baumeister. Und du bist nur..."
Valerio hielt Scalea fester. Er ließ Tomaso stehen und balancierte mit ihr über die Trümmer hinweg und einige Schritte weiter in den Gang hinein, wo weniger Steine und Dachpfannen lagen. "Hast du einen besseren Plan", gab er wütend über die Schulter zurück.
"Ja", knurrte Tomaso. "Wir bringen sie über den Weg hinaus, den wir gekommen sind."
Langsam drehte Valerio sich zu ihm um. Scalea fühlte sich kalt an seiner Brust an. "Ich fragte, ob du einen besseren Plan hast. Das ist nicht besser."
"Und ob! Das ist die einzige Möglichkeit."
Valerio lachte auf. Dann fuhr er leiser fort: "Du bist auf allen vieren über diesen Trümmerteppich gekrochen und konntest dir selbst kaum hinüber helfen. Du hast geflucht wie... wie ein betrunkener Baumeister. Dabei hattest du beide Hände zur Verfügung, dazu gesunde Beine, einen Kopf zum Nachdenken, Ohren zum Hören, Augen zum Sehen, alle deine Sinne, um den Luftzug an deinem Gesicht und die Stabilität der Steine unter dir wahrzunehmen - und: Du hattest eine Fackel und mich in Reich- und Sichtweite. Was, wenn du dabei die Fackel noch selbst tragen müsstest - und dazu einen Verletzten? Und dann noch einen - und noch einen? Du wirst niemanden zwölf oder mehr Meter weit über Schotter und Geröll tragen. Du nicht! Wir haben gerade gesehen, welche Figur du dabei machst. Möchtest du dir die Fackel zwischen die Zähne klemmen und dass wir dir die Verletzten auf den Rücken binden, weil du nur auf allen Vieren einigermaßen vorwärts kommst?"
Tomaso schnappte nach Luft und wollte etwas sagen, aber Valerio schnaubte wütend und ließ den Älteren nicht zu Wort kommen.
"Du lässt sie fallen, du stürzt mit ihnen, wenn du sie dort hinüber bringen willst! Auf einem solchen Weg bist du keine Hilfe. Und ich selbst kann diesen Weg mit einem schwer verletzten Menschen über diesen Schotter und durch das Labyrinth hinter diesem Gang nicht fünfzehn Mal und mehr machen, das ist unmenschlich! Das schaffe ich nicht!
Tomaso kratzte sich am Kopf. Er schwieg. Schließlich hob er den Blick; darin lag zähneknirschende Einsicht und so etwas wie Scham.
"Lass es mich versuchen", bat Valerio versöhnlich. "Es ist der bessere Plan. Ich mache jetzt vor dem Loch Platz und sehe es mir genauer an. Die Trümmer werden hier vorne schon weniger, wir können einen kurzen Weg bis an die Tür freiräumen, das wird nicht lange dauern. Du kümmerst dich um die Tür. Ein Spalt genügt erstmal, ich muss nur hindurch passen. Fang an. Ich komme gleich."
Mehr sagte er nicht. Er kletterte mit Scalea im Arm über die Steine hinweg und bis zu der Lücke hinüber, wo der Boden freier wurde. Eine gute Armlänge entfernt legte er das Mädchen auf den Bodenplatten ab und breitete seine Tunika über ihrem schmächtigen Körper aus.
Das Loch! Es blieb ihnen jetzt im Grunde kaum Zeit dafür, sie mussten nach den Verletzten sehen - aber bei ihrem Transport nach draußen würden sie dafür eine Menge Zeit und auch Risiko einsparen. Er hatte so viele Bilder im Kopf! Er würde dem Baumeister beweisen, dass es funktionierte! Aber er musste sich beeilen. Nicht eine Verletzte konnten sie aus dem Kartenraum hinaus bringen, bevor nicht der Boden hier draußen einigermaßen vorbereitet war. Für Scalea war das Liegen auf den Trümmern schon nicht zumutbar gewesen, für die anderen wollte er darum eine ebene Fläche schaffen, die zumindest ausreichte, um sie hier abzulegen und zu versorgen.
Über den Steinen legte er sich flach auf den Bauch und besah die bröckelnde Umgebung des Lochs. Die Ecken und Kanten des Schotters drückten unter seinen Rippen, aber er achtete nicht darauf; geblendet blinzelte er in dem Tageslicht, das hier in den Gang hinein sickerte. Sehnsucht nach Licht und Luft und weitem Himmel schlich sich quälend in sein Herz. Er war gefangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung - beides wog gleich schwer, und es gab für die eine der Waagschalen nichts, was er noch hinein werfen konnte, um dem unerträglichen Gleichstand ein Ende zu machen.
Probeweise tastete er nach den Steinen in der Wand. Er rüttelte vorsichtig an einem faustgroßen Brocken und hatte ihn auch schon in der Hand. Es würde nicht schwer sein, einige mehr zu entfernen, was aber auch bedeutete, dass Teile der Wand, die bleiben sollten, sich ebenso leicht lösen konnten. Tomaso besaß Erfahrung, er wusste, wovon er sprach, das war ihm durchaus bewusst - aber hatte er eigene Ideen! Und wer wollte sagen, ob sie wirklich so schlecht waren! Alles konnte gut gehen - und alles konnte genauso gut auch ein gewaltiger Fehler sein und in einer Katastrophe enden. Sie waren dem Leben da draußen, der Freiheit so nahe, und doch hing alles Gelingen an einem seidenen Faden.
Er kam vom Boden hoch und auf die Beine. Er hatte versprochen, er wollte auf ihn hören, ja. Aber was Tomaso vorschlug, war Wahnsinn! Auf diesem schwierigen und langen Weg würden sie kaum jemanden retten. Sie hatten ihr Leben riskiert, um von der offenen Rückseite der Schule über steile, rutschende Schotterberge und instabile Mauern hinein zu klettern. Tomaso hatte seine Hilfe gebraucht. Niemals würden sie dort Verletzte und Tote hinaus schaffen. Auch nicht, wenn sie weitere Hilfe hätten.
Aber das war noch nicht alles. Was, wenn Caterina tot war? Zum ersten Mal dachte er diesen Gedanken klar zuende. Er kannte sie nicht. Er wusste kaum etwas von ihr. Und doch wusste er, er wollte nicht in eine Welt hinaus klettern, in der es keine Caterina mehr gab. Sicher, er würde auch nicht hier bleiben und sterben, wenn er sie tot fand, das war klar. Er würde... gar nichts mehr sein. Nicht lebendig genug, um sein Leben zu leben - und nicht tot genug, um zu sterben. Die Waage seines Lebens würde auf ewig still stehen, erstarrt im Ungleichgewicht. Und Freude und Glück, sein Herz, nichts würde in dieser Erstarrung jemals wieder zu beleben sein.
Im Schein des weichen Lichts, das durch das Loch sickerte, begann er den Boden frei zu räumen. Es lagen hauptsächlich Dachpfannen und einzelne Mauersteine im Weg, die leicht weg zu schaffen waren, dazu waren es weniger als dort vorne, wo Tomaso stand. Teilweise konnte man sie sogar mit den Füßen wegschieben.
Bald war der Steinboden rings um die Öffnung von den Trümmern befreit. Diese Fläche erweiterte Valerio um eine gangartige Schneise, indem er von der Lücke aus einen schulterbreiten Weg ebnete. Die Schneise schaffte eine Verbindung zwischen der Lücke auf der einen Seite des Ganges und der Tür zum Kartenraum auf der anderen.
Tomaso hatte die Wände um den Türrahmen herum untersucht und prüfte nun die Angeln der Tür. "Wenn wir sie ganz heraus nehmen", brummte er über die Schulter zu Valerio hinüber, "dann könnten wir vielleicht... hm... aber wir müssten sie weit genug auf bekommen, wenn wir sie aushängen wollen..." Er schnaufte. "Junge. Kannst du herkommen und mit anpacken?"
Valerio richtete sich auf und atmete tief durch. Es war also soweit! Gleich würden sie wissen, wer dort drinnen war. Und auch, wer noch lebte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn Evelina Recht hatte, mussten sie alle im Kartenraum sein - abgesehen von denen, die hier draußen im Gang von den herab stürzenden Steinen überrascht worden waren. Die tote Novizin und Scalea waren wahrscheinlich nicht die einzigen, die sie hier im Gang finden konnten, aber sie hatten jetzt keine Zeit, das gesamte Trümmerfeld zu durchsuchen. Die meisten Novizinnen schienen zur Zeit des Unglücks im Kartenraum gewesen zu sein - und da die Tür nach innen auf ging und nicht abgeschlossen war, musste es dort entweder ein Chaos aus blockierendem Schutt geben, so dass die Frauen sie nicht öffnen konnten, oder sie waren so schwer verletzt, dass niemand es überhaupt aus eigener Kraft zur Tür schaffte. Ansonsten hätten sie sie geöffnet und versucht, aus der Ruine hinaus zu gelangen... Da die Tür aber geschlossen war, musste man davon ausgehen, dass niemand in diesem Raum nur leicht verletzt sein würde.
Valerio mochte sich nicht vorstellen, wie es hinter der Tür aussah. Während der kurzen Zeit, in der er sich um Scalea gekümmert und den Boden vor der Lücke freigeräumt hatte, war es ruhig geblieben. Er hatte Angst vor dem, was ihn nun erwartete. Scalea würde hier im Dunkeln liegen bleiben, sie brauchten die Fackel dort drinnen. Aber sie schlief tief und fest und ihre Schmerzen waren so gründlich betäubt, sie würde davon nicht geweckt. Nicht in der nächsten Stunde.
"Komm her. Es geht los", brummte Tomaso zu ihm hinüber.
Valerio zog die Fackel aus den Trümmern hervor und nutzte den freigeräumten Pfad, um auf die andere Seite des Ganges zu gelangen. Gespannt hielt er die Luft an, als der Baumeister vorsichtig die Klinke herunter drückte und die Tür nach innen aufschob. "Nicht den Rahmen berühren, Junge", mahnte er. "Wir fassen nur die Tür an. Niemand lehnt sich gegen den Rahmen."
Eine gute Handlänge weit stand die Tür nun offen, aber es reichte nicht aus, um einen Blick hinein zu werfen, geschweige denn, um das Türblatt auszuhängen. Es war stockdunkel im Kartenraum. Valerio hielt die Fackel hoch über ihre Köpfe, während Tomaso ein Bein gegen die Tür stemmte und sie sehr vorsichtig und langsam weiter in den Raum hinein schob.
Sie lauschten auf jedes Geräusch. Valerio richtete seine Aufmerksamkeit zugleich zur Decke hinauf und in den Raum hinein. Warum waren die Verletzten auf einmal so still? Kein Husten, kein Schmerzenslaut oder Reden war mehr zu ihnen gedrungen, seit er Scalea gefunden hatte.
Hinter der Tür befand sich etwas, das sich aber wegschieben ließ. "Langsam", ermahnte er den Baumeister, obwohl dieser bereits alle Vorsicht walten ließ, die hier überhaupt möglich war.
Sie horchten.Es war totenstill, nichts regte sich. Bis ein Jammern hörbar wurde, das aus der Tiefe des Raumes zu kommen schien. Es wurde lauter, eine Stimme, die stöhnte, folgte. Dann sagte jemand: "Sie kommen... hörst du, Christiana? ...Christiana?" Husten hörte man nicht mehr.
Eine Schulter breit war stand das Türblatt nun offen. Ungeduldig zog Valerio den Baumeister am Hemd aus der Türöffnung, hob die Fackel und drang in die Dunkelheit des Raumes ein.
Ende Teil 79
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