(10/1) La voce
[Oben: Atmosphärische Untermalung (creepy!) fürs Lesen!]
Tomaso entzündete die Fackel.
Im Lichtkreis der wachsenden Flamme wurden Berge von Trümmern sichtbar. Sie erstreckten sich über den Boden, hingen verkeilt über umgestürzten Tischen und Schränken und blockierten den Raum, so weit man sehen konnte. Wie die Zähne riesiger Drachen ragten Teile des Fußbodens der oberen Ebene in den Raum hinunter. Im Licht der Fackel warfen ihre scharfen Kanten ringsum gespenstische Schatten an die ehemals weiß getünchten Wände - jetzt waren sie grau vom Staub. Gewaltige Löcher klafften in den Mauern auf der anderen Seite des Raumes, teilweise reichten sie vom Boden bis zur Decke. Dahinter lauerte tiefe Dunkelheit.
Valerio versuchte seine Augen an die düsteren Schatten jenseits des zuckenden Lichts zu gewöhnen. Zu ihrer Linken stand eine halb zerbröckelte Wand. Qualmende Balken und Teile von Möbeln lagen kreuz und quer über dem Boden verstreut. Dumpf und grau waberte der Staub zu ihren Füßen, als sie die ersten Schritte hinein wagten. Ihm brannten die Augen. Er hielt an und hustete.
Der Baumeister packte ihn am Arm. "Warte", sagte er halblaut. "Nimm das hier. Und keinen Laut." Er drückte ihm ein Tuch in die Hand. Ein zweites band er sich selbst vor Nase und Mund. Valerio tat es ihm nach. Tomaso deutete nach rechts an einem Haufen Steine und zerschmetterter Möbel vorbei. Mit den Füßen tasteten sie sich über den dichten Teppich aus Trümmern und Steinbrocken.
Vorsichtig bewegten sie sich zwischen dem Rest einer gemauerten Säule und einem Haufen zerstörter Tische und Bänke hindurch. Im trüben Dämmerlicht erkannte Valerio einige Schritte weiter ein Türblatt, das noch im Rahmen hing. Er wunderte sich, dass hier offenbar der Raum schon zuende war - dann war dies sicher einer der kleineren Nebenräume. Er hatte nur so groß gewirkt, weil die Trennwand zum größeren Schulraum beinahe vollständig zerstört war. Die Tür, die einsam vor ihm aufragte, war geschlossen, sogar ein Schlüssel steckte noch. Aber abgesehen von einem letzten halben Meter Mauerrest, der sich nach oben im Dunkel verlor, gab es ringsum keine Wand mehr.
Mit den Fingern strich er über das staubige Holz. Tomaso schüttelte energisch den Kopf. Er griff nach Valerios Arm. Über den Rand seines Tuches hinweg ging sein Blick nach oben. "Nichts anfassen, hatte ich gesagt", zischte er mit unterdrückter Stimme. "Du willst hier doch lebend wieder raus, Junge. Diese Tür hat Kontakt zur Decke. Pass auf."
Valerio nickte. Er hatte verstanden.
Merk dir das. Komm. Weiter."
Der Boden war übersät mit Steinen. Sogar Dachschindeln waren von ganz oben bis hinunter ins Erdgeschoss gefallen. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht stolperten und kamen nur langsam voran. Die Fackel flackerte in der Zugluft.
"Tomaso."
Der Baumeister hielt an und wandte sich zu ihm um. "Was?", flüsterte er rau. "Hast Du etwas gehört?"
Valerio schüttelte den Kopf. "Nein... Aber sie müssten auf dieser Seite sein." Er zeigte nach links ins Dunkel. "Dort hinten müsste es irgendwo in den Gang hinein gehen, der zum Treppenhaus führt... und zum Raum, in dem sich die Karten befinden."
"Die Karten?" Tomaso schnaufte. "Welche Karten? Ich dachte, wir suchen Menschen?"
Valerio kam näher, damit er nicht so laut sprechen musste. Er spürte einen kühlen Luftzug an der Stirn. Die Fackel duckte sich, beinahe ging sie aus. Dann flackerte sie wieder auf. Er ließ das Feuer nicht aus den Augen. Er mochte sich nicht vorstellen, hier in absoluter Schwärze zu stehen. "Der Raum mit den Karten", antwortete er. "Sie sind dort."
"Die Frauen? Bist du sicher? Woher...?"
"Die Novizin, die sich retten konnte. Sie sagte es mir."
Tomaso winkte mit der Hand. "Dann komm, geh voran", brummte er unter seinem Tuch hervor. "Zeige es mir... Aber vorsichtig. Wir rühren hier nichts an. Und leise bist du, hast du mich verstanden." Er wies nach oben. "Ich möchte jeden Stein hören, der hier fällt. Bevor die ganze Decke auf uns herunter stürzt. Wenn sie kommt, dann hört man das vorher."
Und jeden Laut, jede Stimme möchte ich hören, dachte Valerio für sich, als er die Fackel aus Tomasos Hand entgegen nahm. Wie sollte es ihnen nützlich sein, wenn sie einen Moment vorher hörten, dass die Decke herunter kam? Sie waren bereits tot! Er blinzelte in dem flimmernden Staub, der im Feuerschein schwebte. Er sog die Luft durch das Tuch ein.
Tomasos Worte machten ihm Angst. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass die Decke herab stürzte! Sie sollten sich beeilen! Er musste sich zwingen, nur an Gutes zu denken... nur an Gutes. Noch war alles gut.
Mühsam und viel zu langsam kamen sie vorwärts. Aber dass er hier drinnen war! Zusammen mit dem Baumeister, von dem niemand mehr irgendwelche Hilfe erwartete! Er konnte kaum glauben, dass der Mann sich zuletzt doch noch bereit erklärt hatte, ihn zu begleiten.
Er hatte Angst sie zu finden - Und Angst, sie nicht zu finden. Tomaso hatte ihm geraten, vorher am Brunnen zu trinken, aber in der Aufregung hatte er es vergessen. Nun quälte ihn der Durst... Er nahm die Fackel in die linke Hand und rückte den Riemen der Tasche über seiner Brust zurecht. Unter seiner Handfläche wölbte sich der gewebte Stoff über den beiden Flaschen. Tomaso deutete mit dem Kopf voran. Es ging weiter ins Dunkel der Ruine hinein.
Immer wieder stießen sie auf unüberwindbare Hindernisse und mussten denselben Weg zurück nehmen, um es anders zu versuchen. Es dauerte ewig - und es war kaum möglich, die Richtung bei zu behalten. Die gesamte untere Etage kam ihm vor wie ein einziges, düsteres Labyrinth. Vorsichtig umgingen sie Haufen von Trümmern und zerborstene Bücherregale. Er wusste nicht mehr, wo sie sich befanden und wie es weiter ging, aber Tomaso merkte sich die Richtung. Er erkannte, wo sie bereits vorbei gekommen und welche Ecken neu waren und führte sie immer wieder in die richtige Richtung zurück, wenn sie die Orientierung auf einem der Umwege verloren hatten.
Mit der Zeit gewann auch Valerio mehr Überblick. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Bald war er in der Lage, die Trümmerhaufen bezüglich Höhe und Beschaffenheit voneinander zu unterscheiden und begann sich sicherer zwischen Ihnen zu bewegen.
Sie stiegen über gesplittertes Gebälk, von dem beißender Rauch aufstieg. Er hatte längere Beine und kam daher schneller als der Baumeister zwischen den überall umher liegenden Balken und Steinhaufen hindurch. Oft wartete er mit der Fackel auf Tomaso, bis dieser ihn eingeholt hatte. Sie waren in einem der unteren Räume, Valerio konnte nicht sagen, in welchem. Größe und Lage waren nicht mehr erkennbar, da der Blick aus den Fenstern fehlte - sie waren zusammen gefallen, und auch die Trennmauern zwischen den Räumen waren nicht mehr auszumachen. Hinter ihnen blitzte noch hier und da Tageslicht durch Lücken in der Mauer, aber es brachte kein Licht in dieses Chaos.
Sie hatten nur die eine Fackel, und das machte es schwierig, da sie deswegen immer dicht beieinander bleiben mussten. Valerio probierte Wege und Möglichkeiten aus, tastete sich Schritt für Schritt vor, und Tomaso trat dorthin, wo zuvor sein eigener Fuß gewesen war und folgte ihm, so gut er konnte. Bald erkannte Valerio, dass Tomaso nicht sehr ausdauernd und beweglich war; auch war er ihm kläglich unterlegen, wenn es darum ging, über Schutthaufen und Balken zu klettern und dabei das Gleichgewicht zu halten. Mehr als einmal erwischte Valerio ihn gerade noch am Ärmel, bevor er abrutschte oder wegfiel. Tomaso fluchte. Er war nicht in bestem Zustand für solche Strapazen.
Allerdings hatte er andere Fähigkeiten, er kannte sich aus mit Katastrophen dieser Art. Er wusste, wie sich Außenmauern, Wände und Decken verhielten, was sie vertrugen und was sie instabil machte. Er kannte die Baumaterialien in Gebäuden wie diesem und wusste, auf welchen Trümmern man herumklettern und wann man erwarten konnte, dass etwas gefährlich ins Rutschen kam. Einmal wies er stumm auf einen aus der Decke ragenden Balken, um Valerio zu warnen - bevor er sich löste und wie ein Geschoss auf sie hinunter kam. Oder er zeigte ihm Lücken, die Valerio übersah - und Mauerreste, die einstürzen konnten, sobald man sie auch nur versehentlich mit der Schulter streifte.
Bald hatten sie sich mit Gesten und Zeichen aufeinander eingestellt und sprachen nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Valerio führte Tomaso schließlich über viele Umwege weit nach Links hinüber und sie nutzten eine große Lücke in der Wand, in der Hoffnung, dass der Gang dahinter begehbar sein würde.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als sie den Schotter vor dem Durchgang überwanden und schließlich in den düsteren und zugigen Tunnel hinein traten, zu dem der Gang geworden war. In den Seitenwänden lagen die verschütteten Türen, die ehemals nach draußen auf den Säulengang hinaus geführt hatten. Winzige Ritzen, dazu einige Löcher, deren Durchmesser nicht mehr als die Stärke eines kleinen Fingers betrug, ließen Tageslicht hindurch. Hier irgendwo musste Evelina ihr Schlupfloch gefunden haben... bevor die Decke des Säulenganges herunter kam und alles in sich zusammenfiel.
Ein Geräusch ließ Valerio zusammenzucken. Direkt vor ihm hatte sich ein Stein gelöst, womöglich kam er von der Decke - oder von der Barriere aus Schutt und Balken, die den Blick zum Innenhof hinaus versperrte, er konnte es nicht genau sagen. Nach dem Aufprall auf den Steinplatten des Bodens zu urteilen mochte er in eine geschlossene Faust hinein passen, größer war er wohl nicht.. Dem Aufschlag folgte ein rollender und hüpfender Klang, bis er spürte, wie etwas am Leder seines Stiefels anschlug. Dann war es still.
"Schhht... Leise."
Tomaso packte ihn an der Schulter. Einen Augenblick lang standen beide wie erstarrt und lauschten. Noch während der Baumeister die Hand wieder zurück nahm, schien es Valerio, als würde plötzlich die Zeit anhalten. Einen winzigen Moment nur, einen Atemzug lang... Und in diesem zeitlosen Loch, diesem Augenblick des Wartens und Horchens in der Dunkelheit geschah es: Es war nur der Hauch einer Stimme, kaum waren es Worte. Valerio erkannte sie trotzdem.
"...alla donna che allora... io amavo."
Caterinas Stimme! Aber... sie sang? Beinahe hätte er vergessen, dass er auf seinen Beinen stehen, dass er atmen musste, um nicht umzufallen. Er keuchte.
"...Still! Hörst du das?", flüsterte Tomaso. Sein Blick war auf einmal hellwach.
Valerio nickte zögernd. Er wollte etwas sagen, aber der Baumeister kam ihm zuvor.
"Regen! Das ist Regen!" Er zeigte auf die Außenseite des Ganges. Seine Augen strahlten über die Kante seines Tuches hinweg. "Es donnert, das Gewitter kommt zurück! Es regnet ... man kann es riechen!" Tomaso befreite sich von dem Tuch, er zog es auf den Hals hinunter. "Ah, die Luft hier ist besser", seufzte er und atmete tief durch. "Es regnet in Strömen, Junge! Hörst du das? Weißt du, was das bedeutet?"
Valerio sah ihn entgeistert an. Hatte Tomaso den Stein denn nicht bemerkt? Und die Stimme, die gesungen hatte?
"Regen ist es, was wir jetzt brauchen! Der Dachstuhl wird nicht ganz herunterbrennen, das Feuer geht aus", erklärte Tomaso. "Wenn wir sie finden - und wenn wir keinen Fehler machen und uns vorsichtig bewegen - könnten wir Zeit haben, zumindest diejenigen hier raus zu bekommen, die nicht unter schweren Trümmern liegen." Er lachte und trat einen Schritt von der Fackel zurück, die Valerio unbedacht bis an sein fleckiges Hemd sinken lassen hatte. "Der Rest des Daches wird also wohl nicht auch noch herunter kommen" fuhr er fort, "jedenfalls nicht jetzt... und das bedeutet, dass diese Decke hier über uns", er zeigte mit dem Finger nach oben, "wohl bleiben wird, wo sie hingehört. Zumindest, bis wir hier raus sind. Beten darfst du trotzdem", fügte er an und lachte zwinkernd. "Na? Ist das gut, Junge?" Er trat wieder vor und klopfte Valerio bekräftigend gegen den Oberarm.
Valerio ließ beinahe die Fackel fallen.
"Holla! Die Fackel, pass doch auf. Ist dir nicht gut?"
Valerio zog sich das Tuch von Nase und Mund. Er wischte sich die Augen, sog die frischere, kühle Luft ein. "Nein ... doch. Es ist nur ..."
"Was ist mit dir? Hast du das nicht verstanden? Das ist eine gute Nachricht, Kerl! Es bedeutet, wir gehen jetzt dort hinunter", er zeigte hinter ihm den Gang entlang, "und sehen, ob wir deine Nonnen finden. Und dann holen wir sie raus. Und die Decke, die wird schön dort oben bleiben!"
Valerio nickte stumm. Er musste sich geirrt haben. Es war der Regen gewesen, wie Tomaso sagte. Nur der Regen. Ihm war auf einmal sehr kalt. "Ja", murmelte er abwesend. "Wir holen sie raus..."
"Nun komm, Junge. Nich grübeln. Weiter."
Die Fackel brannte jetzt heller. Als sie an einem Wall von Trümmern vorbei waren, zeigte Tomaso zur linken Seite hinüber. "Sieh mal hier, die Wand. Sie ist intakt... gib mir mehr Licht."
Valerio hielt die Fackel höher. Der Schein des Feuers leuchtete warm auf dem hellen Putz... Die Abendsonne hatte Caterinas Gesicht mit goldenem Licht überflutet. Es hatte geleuchtet wie ein Lilienblatt. Ihre Haut war wie Milch gewesen. Hell und weiß. Und ihre Augen! Ihr Blick...
"Hast du mich gehört, Junge? Das ist wichtig, verdammt. Du musst zuhören und nicht die Wände anstarren."
Valerio zuckte zusammen. "Was ...?"
"Was", äffte Tomaso ihn nach. "Du gehst nicht an die Mauern, habe ich gesagt. Du fasst sie nicht an. Nicht, bis ich es dir sage. Und das gilt für alles, was wir hier finden." Er zeigte durch den Gang voraus. "Halt die Fackel höher, in diese Richtung. Siehst du das, ganz da hinten? Die beiden Schatten in der Wand?" Das Licht erfasste gerade noch zwei Türen, die sich dunkel von dem hellen Putz abhoben. "Auch für die Türen gilt das, für die ganz besonders. Hast du verstanden?" Tomaso senkte die Stimme. "Der Meister bin ich. Du hörst auf mich. Oder wir sind tot."
Plötzlich drang ein Geräusch zu ihnen herüber. Worte. Undeutlich wisperte es ihnen aus dem Gang entgegen. Sie hatten es beide gehört.
Und da! Schon wieder! Es war eine menschliche Stimme... Jemand sprach dort vorne! Irgendwo links hinter der Wand musste es sein. Dann folgte ein schwaches Husten - und etwas, das wie ein Schmerzenslaut klang. Valerio und Tomaso wechselten einen Blick. Sie begannen zu laufen.
Ende Teil 75
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