
9. Ein Brief
Ein Brief (TW: Keine)
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Liebe Liz,
Ich kann dir nicht sagen, wie ich heiße oder woher ich komme. Ich kann dir nicht einmal sagen, warum ich dich und deinen Namen kenne. Und eigentlich kann ich dir auch nicht sagen, was ich dir gleich eröffnen werde. Doch ich tue es trotzdem, selbst wenn es mein Verderben werden könnte. Du hast ein Recht darauf zu erfahren, wer du bist und warum du dich so anders fühlst. Denn die Wahrheit ist: Du BIST anders, Liz. Du hast Fähigkeiten, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen kannst. Fähigkeiten, die du entdecken musst, um dich selbst zu finden.
Liz, du bist besonders. Wenn du möchtest, kannst du fliegen. Probier es aus! Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Das verspreche ich dir. Ich-
Wütend stopfte ich den Brief zurück in die Schublade, aus der ich ihn gezogen hatte. Ich wusste nicht, wer sich diesen Scherz mit mir erlaubte - wer es wagte mir solche Dinge zu erzählen und zu denken, dass er mich damit hereinlegen konnte. Und ich wollte es auch überhaupt nicht wissen. Ich hatte so schon genug Ärger, noch mehr konnte ich wirklich nicht gebrauchen.
Trotzdem weigerten sich meine Hände, den Brief in hundert kleine Schnipsel zu zerreißen und meinem Konfetti unterzumischen - irgendetwas hielt mich davon ab. Ein kleiner Teil von mir glaubte vielleicht wirklich daran. Wünschte sich, dass es die Wahrheit war. Dass da draußen wirklich irgendjemand war, der mich nicht nur als Fehler oder merkwürdigen Außenseiter sah, um den man stets einen Bogen machen sollte. Irgendjemand, der mich liebte - so meinte ich zumindest zwischen den Zeilen herauslesen zu können. Denn jemandem, der so etwas schrieb und es ernst meinte, konnte ich doch nicht egal sein, oder?
Aber selbst wenn es stimmte, so hatte mich diese Person allein gelassen. Allein mit diesem zerknitterten Stück Papier, das offenbar einfach nur aus einem Collegeblock - wie es sie zu tausenden gibt - herausgerissen und in größter Eile beschrieben wurde. Als wäre ich keine Sekunde mehr wert gewesen. An einer Stelle hatte der Füller einen großen Klecks Tinte hinterlassen, sodass einige Worte unmöglich zu lesen waren. Das war die Stelle, an der ich stets aus meiner Trance erwachte und den Brief weglegte. Nach "Das verspreche ich dir." Denn dieses Versprechen war absolut wertlos.
Und überhaupt: Ich wollte gar nicht mehr von diesem Fremden hören. Er hatte mich im Stich gelassen. Dafür gab es keine Entschuldigung. Und doch hatte ich die Zeilen bis zu dem königsblauen Tintenfleck schon so oft gelesen, dass ich sie auswendig konnte. Auch, wenn ich wusste, dass ich mich bescheuert verhielt, indem ich daran glauben wollte. Auch, wenn ich mich dafür hasste, so naiv zu sein. Dabei sollte ich den Autoren des Briefes hassen, nicht mich selbst. So ein Scherz war grausam. Doch obwohl mir mein Verstand sagte, dass es einfach nicht wahr sein konnte, klammerte ich mich so sehr an diese eine kleine Hoffnung, dass es vielleicht doch die Wahrheit war und mich irgendjemand lieben könnte. Dass ich doch nicht so widerlich abnormal war, wie ich immer dachte. Dass ich nicht allein war.
Es war erbärmlich.
"Liz! Runterkommen, Abwasch machen! SOFORT", riss mich die plärrende Stimme meiner Adoptivmutter aus meinen Gedanken. Das letzte Wort klang nicht nur wie eine Drohung, ich wusste, dass es tatsächlich eine wahr. Und das Letzte, was ich wollte, war, dass sie diese wieder wahr machte. Also knallte ich die Schreibtischschublade, in der nun wieder der zusammengeknüllte Brief lag, knurrend zu und stand auf. Als ich die Treppe herunterlief ballte ich die Hände zu Fäusten.
Ich hasste das alles hier so sehr.
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Die Zeit verging im Nachhinein immer so schnell. Eben noch war man zwölf Jahre alt, saß mit laut aufgedrehter Rockmusik in seinem Zimmer und zerbrach sich über unfaire Noten, lästernde Mitschüler und gemeine Eltern den Kopf, und im nächsten Moment - nur wenige Atemzüge später - stand man bereits in seiner ersten eigenen Wohnung, den kleinen silbernen Haustürschlüssel in der Hand, und malte sich aus, wo das Bücherregal und wo der Fernseher stehen konnten.
Es war beängstigend. Am liebsten hätte ich die Zeiger aller Uhren der Welt festgehalten und einmal tief durchgeatmet, doch ich wusste, dass ich die Zeit nicht stoppen konnte. Also machte ich weiter.
Die Kartons standen ungeöffnet in der Wohnung verteilt. Sie waren gestern angekommen, doch ich war zu erschöpft gewesen um sie zu öffnen. Doch nun war ich motiviert, diesen Ort zu meinem Zuhause zu machen. Dem ersten und einzigen Ort, wo ich mich nicht immer verstellen musste. Ich sah mich um und fragte mich, wo ich anfangen sollte, bis ich schließlich zu einer kleinen, zerdellten Box ging - mich neben ihr auf den kühlen Boden hockte.
Ich betrachtete das braune Paketklebeband und den auf die Oberseite gekritzelten Namen. Es war mein eigener, mit einem sehr schiefen "L" und einem Strich statt einem i-Punkt. Merkwürdig, das war nicht meine Handschrift. Überhaupt konnte ich mich an den ganzen Karton nicht erinnern.
Neugierig geworden machte ich mich am Klebeband zu schaffen und brachte es nach einigen Minuten tatsächlich zustande, es ohne Schere zu lösen und die kleine, unscheinbare Kiste zu öffnen. Ich hielt die Luft an, als ich den Deckel aufklappte, doch stieß einen enttäuschten Laut aus, als ich darin nur einen dünnen Briefumschlag fand. Welcher Mensch verpackte einen einzelnen Brief extra in einem Paket? Das war ganz sicher nicht ich selbst gewesen.
Zögernd nahm ich den weißen Umschlag in die Hand und wusste noch bevor ich ihn aufgerissen hatte, was sich darin befand.
Der Brief. Der Brief von der fremden Person, die behauptete, ich könnte fliegen.
Das war unmöglich. Ich hatte ihn entsorgt, als ich meine Sachen gepackt hatte. Ich hatte die Schnauze voll davon gehabt, mir einzureden, dass es nicht meine Schuld war, dass ich nirgends dazupasst. Dass es nicht an mir lag, dass, egal, wohin ich auch ging, ich mich stets fühlte wie ein Außerirdischer, der in eine Seifenoper geplatzt war und nun alle Darsteller durcheinander brachte. Inklusive sich selbst. Und deshalb hatte ich mich in den letzten Jahren verändert - hatte endlich akzeptiert, dass ich nicht besonders war, sondern einfach nur ein Freak, der Anpassungsprobleme hatte.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, mich zu erinnern. Und ja, wenn ich zurückdachte hatte ich genau im Kopf, wie ich den Zettel zerrissen und in den Müll geworfen hatte. Er konnte nicht hier sein. Ich war mir so sicher, dass ich ihn vernichtet hatte.
Und doch befand er sich direkt vor meinen Augen, ich hielt ihn in den Händen. Und ich las ihn - las all die Worte, die ich schon unzählige Male gelesen hatte. Sie hatten sich nicht verändert. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich hätte mich auch nie verändert. Wäre immer noch das Kind, das sich von seiner Adoptivmutter herumkommandieren ließ und sich an die Hoffnung klammerte, der Fremde aus dem Brief würde sie eines Tages holen kommen. Mir zeigen, wo ich wirklich hingehörte und mir helfen, die Fähigkeiten zu entdecken, von denen er geschrieben hatte. Mich lieben.
Ich stoppte an derselben Stelle wie immer.
Das verspreche ich dir.
"Ich bin echt bescheuert." Alte Wut kochte in mir hoch. Ich konnte nicht fassen, dass ein Teil von mir noch immer an die Worte, die ich soeben zum millionsten Mal gelesen hatte, glauben wollte.
Ich zischte. "Verdammt, ich bin erwachsen. Das ist doch Schwachsinn." Der Brief landete wieder im Karton, und der wiederum wurde unter die Treppe gekickt. Ich wollte ihn nie wieder hervor holen. Nie wieder öffnen und nie wieder die immergleichen Worte lesen. Nie mehr auch nur daran denken und erst Recht nicht daran glauben, dass ich dieser Person auch nur irgendetwas bedeutet haben könnte. Sie konnte mich kreuzweise. Das alles hier konnte mich kreuzweise.
Und wie sich herausstellen sollte, würde ich den Brief tatsächlich nicht noch einmal in der Hand halten.
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Es war genau 3:46 Uhr, als mich ein schrilles Piepen aus dem Schlaf riss.
3:47 Uhr, als ich taumelnd aufstand und nach dem Lichtschalter suchte.
3:48 Uhr, als ich feststellte, dass ich gar kein Licht mehr brauchte. Denn die Wände wurden bereits von einer flackernden Lichtquelle erhellt, die düster schimmernde Schatten auf den Boden warf.
Es brannte.
Noch in derselben Sekunde, in der diese Erkenntnis in mein schlaftrunkenes Gehirn gesickert war, stürzte ich bereits zur Tür. Oder zumindest wollte ich das. Bis ich feststellte, dass die Flammen, die sich unaufhaltsam durch den Holzboden und die Pappkartons fraßen, von eben dort zu kommen schienen.
Sie näherten sich mir wie eine stumme Drohung - ich wich zurück, presste mir die klammen Hände auf die Ohren um das penetrante Piepsen zu ersticken, hustete.
Meine Augen scannten in blanker Panik den Raum ab, doch es gab keinen anderen Ausgang. Mein Blick blieb am Fenster hängen. Nein, ich wohnte im sechsten Stock. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte ich unmöglich überleben.
Und doch liefen meine Füße darauf zu, ganz so, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Das Feuer hinter mir knisterte, das Fiepen des Feuermelder schien mein Trommelfell zerplatzen zu lassen, mein Herz schlug als würde es gleich zerspringen.
Ich riss das Fenster auf, atmete gierig die rauchfreie Nachtluft ein, hustete erneut.
Was nun?
Die Flammen kamen immer näher und ich wusste, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Ich konnte nicht sagen, wieso, aber ich war mir zu einhundert Prozent sicher. Ich musste springen.
Die Tatsache, dass mir dieser Gedanke keine Angst machte, ließ mich schaudern. Hatte ich mich schon mit meinem Tod abgefunden?
Nein, es war anders. Ich wusste, dass ich nicht sterben würde. Tief in mir war mir klar, dass ich den Sonnenaufgang erleben würde. Heute und morgen und die nächsten 60 Jahre. Ich würde heute nicht sterben.
Das Feuer näherte sich in stetigem Tempo, ernährte sich von allem was ihm in den Weg kam. Ich spürte die Hitze in meinem Rücken, der Schweiß rann mir über die Stirn.
Und dann kamen mir die Worte aus dem Brief in den Sinn.
Wenn du möchtest, kannst du fliegen.
Ja, ich konnte es. Ich spürte es in meinen Fingerspitzen, als ich die Arme ausbreitete und mich auf die Fensterbank stellte. In meinen Armen und Beinen, als ich ein letztes Mal tief durchatmete. Im ganzen Körper, als ich die Augen schloss und es plötzlich still war - das Knistern, Piepen und Pochen mit einem Mal verschwanden.
Probier es aus!
Ein entschlossenes Kribbeln durchfuhr mich, als mir der Wind durch die Haare strich. Es war, als würde sich endlich eine Tür öffnen. Eine Tür, die ich bislang immer verzweifelt zugehalten und angestrengt zu verdrängen versucht hatte, weil ich nicht hatte glauben wollen, dass so etwas möglich war. Mir selbst nicht hatte vertrauen wollen, mich selbst verleugnet hatte. Und als ich den Mund öffnete, war meine Stimme nur ein Flüstern und doch so laut und entschlossen wie noch nie in meinem Leben.
"Das werde ich."
Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen.
Ich glaubte den Worten. Das erste Mal vertraute ich auf sie und meine Instinkte. Ich wusste zwar nicht, wer den Brief geschrieben hatte und wieso derjenige nie persönlich mit mir gesprochen hatte, aber was ich wusste, war, dass mich diese Person nie belogen hatte. Ich fürchtete mich nicht, als ich in die Luft trat und meine Füße den Kontakt zum Boden verloren. Ich ließ es geschehen und genoss die Art, wie mir der Wind ins Gesicht peitschte, als ich fiel. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich dem Boden immer schneller entgegenstürzte.
Das verspreche ich dir.
Und dann flog ich.
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Äh, hi xD Kleines Nachwort dazu: Ich versuche gerade, irgendwie wieder ins Schreiben reinzukommen, weil ich das jetzt seit über 4 Monaten nicht mehr wirklich gemacht habe, also verzeiht mir wenn ich irgendwie etwas... ich weiß nicht, unbeholfen klinge? Längere Schreibpausen tun mir in der Regel nicht gut xD
(Liest das hier überhaupt jemand? Ach, auch egal xD Wieso ist es eigentlich schon wieder so spät?? Eben war es noch nicht dunkel draußen xD)
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