31. Weihnachten
Weihnachten (TW: Keine)
• • •
"Entschuldigt mich, ich brauche etwas Luft, ich- tut mir leid."
Ein kurzes Nicken in meine Richtung, dann gingen die Gespräche auch schon weiter. Ich schob meinen Stuhl zurück und quetschte mich an meiner Tante vorbei, die keine Anstalten machte näher an den Esstisch zu rücken, um den Durchgang frei zu machen.
"Ich bin gleich wieder da."
Keine Reaktion. Die Worte gingen unter in der Geräuschkulisse aus Lachen, klirrenden Gläsern und quietschendem Besteck auf prall gefüllten Tellern.
In der Tür drehte ich mich noch einmal um.
Da saß sie, meine Familie. Vor zahlreichen Schüsseln voller Käse, Pilze, Nudeln, Kartoffeln, Paprika, und was sonst noch alles zu einem Weihnachtsessen dazugehörte - in der Mitte ein großer Raclette-Grill, der fleißig befüllt wurde.
Ich beobachtete, wie mein Neffe die heiße Platte auf dem Grill anfassen wollte und meine Schwester schnell seine Hand zurückzog. Wie mein kleiner Bruder die Schinkenwürfel heimlich alleine leerlöffelte. Wie die Schale mit der Ananas nicht mehr angerührt wurde, nun, da ich nicht mehr zwischen ihnen saß.
Abgesehen von mir aß nur mein großer Bruder Ananas, doch der war heute nicht da, genauso wenig wie meine andere Schwester. Doch wir hatten mit ihnen telefoniert, uns vergewissert, dass auch sie Weihnachten im Urlaub genossen. Und nächstes Jahr wären wir wieder vollzählig.
Aber auch, wenn Teile der Familie fehlten - wenn ich sie so ansah, sah sie nicht unvollständig aus. Meine Mutter war auf meinen leeren Stuhl aufgerückt, um die Lücke am Tisch zu schließen. Eine Kartoffel flog durch die Luft und landete unter dem Tisch, begleitet von kindlichem Lachen, das von einem missbilligendem Seufzer meines Schwagers begleitet wurde - doch auch er hatte ein Lächeln im Gesicht.
Einen kurzen Moment lang stellte ich mir vor, wie es ohne mich wäre. Wenn ich die Szenerie vor mir betrachtete, wirkte es nicht so, als würde es einen Unterschied machen.
Meine Mutter fing meinen Blick auf und sah mich fragend an, doch ich rang mir ein Lächeln ab, nickte ihr beruhigend zu, drehte mich um. Als die Tür hinter mir zufiel, sperrte sie die fröhlichen Gesichter und den Duft nach gebratenem Fleisch und frisch gebackenen Keksen aus. Die Gespräche tönten nur noch dumpf durch die Wand.
Ich atmete aus und ein und wieder aus. Doch auch jetzt hatte ich noch immer das Gefühl, dass die Luft meine Lungen nicht erreichte.
Die Tränen zurückblinzelnd griff ich nach Jacke, Schal und Schuhen.
Dunkelheit und wirkliche Stille trafen mich hart, als ich die Einfahrt hochlief, die Kapuze ins Gesicht gezogen.
Hier fiel das atmen weniger schwer, die kalte Luft schien meinen Kopf leichter zu machen - oder vielleicht war es auch der Baileys, den ich nur wenige Minuten zuvor getrunken hatte.
Ich lief weg von meinem Zuhause und wusste selbst nicht, warum.
Es sollte ein glücklicher Abend sein, und doch konnte ich die Tränen nicht aufhalten, die nun ungehemmt meine Wangen hinunterliefen.
Laternen beleuchteten die leeren Straße, durch die ich ohne eine Ahnung zu haben, wohin ich überhaupt lief, irrte. Kein Auto war unterwegs, kein Radfahrer, kein Fußgänger. Ich stolperte an hell erleuchteten Fenstern vorbei und warf einen Blick hinein.
Vertraute Szenen spielten sich hinter den Scheiben dieser fremden Häuser ab. Familien, die gemütlich zusammensaßen, hinter ihnen geschmückte Weihnachtsbäume und Geschenke. Menschen, die redeten, lachten, das Beisammensein genossen.
Wieso konnten sie alle an diesem Tag glücklich sein, nur ich nicht?
Je weiter mich meine Füße trugen, desto stärker wurde das schlechte Gewissen. Was tat ich hier eigentlich? Ich sollte dankbar sein, dass ich Weihnachten nicht allein feiern musste - ich sollte zurückgehen und das Essen genießen, die kitschige Weihnachtsmusik anhören, den Geschichten meiner Schwester über ihre durchgeknallten Nachbarn lauschen. Lachen und mich freuen, Menschen um mich herum zu haben, die ich liebte, die mich liebten. So viele hatten dieses Glück nicht.
Dennoch hatte ich mich am Esstisch, mit all diesen Leuten um mich herum, so einsam gefühlt wie lange nicht mehr.
Der Mond schien auf das Wasser, als ich den Fluss erreichte - jetzt erst realisierend, wo ich mich überhaupt befand. Ich stützte mich auf dem Brückengeländer ab und betrachtete die Spiegelungen unter mir.
Ich war undankbar. Ein schlechter Mensch. Wieso schafften es alle, den Tag zu genießen, außer mir?
Mit der Fußspitze trat ich einen kleinen Stein ins Wasser - beobachtete, wie er Wellen schlug, als er versank.
Ich sollte zurückgehen.
Nach einem letzten Blick aufs Wasser fasste ich mir ein Herz und kehrte diesem den Rücken zu; ließ meine Füße den vertrauten Weg nach Hause laufen, den sie schon so viele Male gegangen waren.
Noch immer war alles wie ausgestorben, nur ich war draußen unterwegs.
Vor der Haustür zögerte ich, doch es ging mir besser. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, zu ersticken, die Stille und die frische Luft hatten geholfen.
Als ich die Tür schließlich aufstieß, begriff ich mich selbst noch immer nicht. Doch die Wärme und die Stimmen waren deutlich leichter zu ertragen, als ich Jacke, Schuhe und Schal auszog.
Kaum dass ich die Tür zum Esszimmer öffnete, wurde ich bereits mit einem freudigen "Da bist du ja wieder, komm, setz dich!" begrüßt. Meine Mutter rückte zurück auf ihren Stuhl und klopfte einladend auf meinen Platz, und mein Bruder schob mir die Schüssel mit den Schinkenwürfeln rüber, als ich mich setzte.
"Ich habe dir ein paar übrig gelassen, sei mir dankbar!"
Er grinste. Und ich war dankbar, als mir mein Vater einen Haufen gegrilltes Fleisch auf den Teller stapelte, während sich die anderen bereits wieder ihrem eigenen Essen widmeten. Als mein Neffe nach meiner Hand griff und Daumencatchen spielen wollte, und als meine Schwester erzählte, dass ihre Nachbarn eine Banane an die Tür geklebt hatten, um die Absurdität der heutigen Kunst zu kritisieren.
Vielleicht musste man die eigenen Gefühle nicht immer verstehen. Manchmal war es eben kompliziert, gerade an Tagen wie Weihnachten.
Doch wenn ich hier saß, noch immer etwas Einsamkeit in mir, und doch irgendwie auch nicht, konnte ich nicht mehr anders als mit den anderen mitzulachen.
Es war okay. Ich war okay. Und auch dieses Weihnachten würde vorübergehen. Also wieso nicht das Beste daraus machen?
■□■□■□■□■□■□■□■□■□■□■□■□■□■□■
Frohe Weihnachten, an wer auch immer so verrückt ist und immer noch hier ist und das liest. Seid lieb zu anderen, aber vor allem auch zu euch selbst, gerade in dieser Zeit.
<3
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro