30. Gelbe Blumen
Gelbe Blumen (TW: Trauer, Verlust)
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"Hey, Papa. Ich war lange nicht bei dir, ich weiß. Ich hatte viel zu tun, aber das ist keine Entschuldigung. Man sollte sich Zeit nehmen für die Menschen, die man liebt. Immer, egal, wie stressig es auch ist. Das sollte ich eigentlich am besten wissen, und dennoch mache ich wieder und wieder denselben Fehler.
Ich habe dir Blumen mitgebracht; die gelben, die du so liebst. Könnte daran liegen, dass wegen deiner Rot-Grün-Schwäche so ziemlich alle anderen Blumen aussehen wie ein trauriger, brauner Sepia-Film. Oder daran, dass du immer in die Sonne, in den Tag hineinlebst.
Selbst hier drinnen ist das Fenster immer offen, und die Rollladen werden nie runtergefahren. Ich habe mich deshalb eben schon wieder mit der Leitung gestritten, aber du hast ein Einzelzimmer, wieso sollten wir uns an ihre schwachsinnigen Vorschriften halten?
Und du brauchst die Sonne genauso sehr, wie die Sonnenaugen hier. Ich habe sie übrigens nicht aus dem Garten gepflückt, ich weiß, dass du mir den Hals umdrehen wirst, wenn deinen Babys dort etwas passieren sollte.
Ich glaube, sie vermissen dich, sie lassen die Köpfe so hängen. Ich gebe mein Bestes, um sie wieder aufzupäppeln, aber bisher will nichts so richtig klappen. Dabei habe ich mir sogar extra ein Buch über Pflanzen gekauft - kannst du dir das vorstellen, ich, ein Buch übers Gärtnern lesend? Absurd, ich weiß, und doch hat es nichts gebracht.
Ich fürchte, sie wollen nur dich Papa, deinen grünen Daumen, und haben die Nase voll von meinen unbeholfenen Bemühungen. Wahrscheinlich haben sie genauso Sehnsucht nach dir wie ich auch. Das ganze Haus scheint deinen Namen zu rufen, und ich kann ihm nicht geben, was es braucht.
Du warst es, der immer den Wasserhahn repariert hat. Jetzt tropft und tropft er, als könnte er dich damit zurücklocken. Ich muss mit dem Klempner telefonieren, aber etwas in mir sträubt sich dagegen.
Es ist, als würden die knarzenden Wände, der Regen auf der zersplitterten Scheibe am Nebeneingang, die du nicht reparieren konntest, bevor du herkamst - als würde alles deinen Namen schreien. Wenn ich schlecht schlafe, ist mein erster Impuls noch immer, zu dir ins Nebenzimmer laufen zu wollen.
Es ist merkwürdig, wie sich alles nach einer Person ausrichtet, selbst wenn diese Person nicht mehr da ist, um all den Anforderungen gerecht zu werden. Sehnsucht ist ein komisches Ding. Es wartet an jeder Ecke und hört nicht auf zu vermissen, selbst, wenn es nie mehr wie früher sein wird.
Veränderung tut so weh, Papa. Sie ist einer der Gründe, aus denen ich so selten herkomme - ich versuche, damit klarzukommen, dem neuen Leben eine Chance zu geben. Ich versuche wirklich, den Klempner anzurufen, ganz ehrlich! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Nummer zu wählen.
Es ist noch zu früh, und ich habe Angst, dass es immer zu früh sein wird, egal, wie viel Zeit vergeht. Ich habe Angst, weiterzumachen. Und doch weiß ich, dass ich es weiter versuchen muss, wenn ich nicht jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, dich sehen will; wie du mich mit diesem auffordernden Blick ansiehst, die Augenbraue hochgezogen, wie um zu sagen: 'Jetzt mach schon. Lebe dein Leben. Lass mich zurück.'
Aber es geht einfach nicht, noch nicht jetzt. Ich muss das Wasser noch ein bisschen tropfen hören, bevor ich die Stille ertragen kann."
Ruhe trat ein. Ich drückte seine Hand, doch keine Kraft drückte zurück. Da war nichts außer das Surren des Lichts und das Piepen der Maschinen neben mir. Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
"Es tut weh, immer wieder herzukommen. Trotzdem werde ich nicht damit aufhören. Ich bin alles, was du noch hast. Und du bist der einzige Vater, den ich habe."
Angestrengt blinzelte ich die Tränen zurück. Eine fiel dennoch auf unsere miteinander verschränkten Hände.
"Und solange es auch nur die geringste Hoffnung gibt, dass du mich hörst, werde ich weiter mit dir reden."
Mehr Tränen, Salz auf meinen Lippen, meiner Zunge.
"Ach, was rede ich? Selbst wenn du ganz fort bist, werde ich weiter mit dir reden. Ich werde niemals damit aufhören. Auf irgendeine Art werden dich meine Worte immer finden, und wenn es am Ende nur die Erinnerung von dir ist, die mich in meinem Kopf anlächelt, während ich spreche. Ich werde nie aufhören, mit dir zu reden. Niemals."
Ein lauteres Surren zog durch das Zimmer. Ich rieb mir die Augen, schniefte. Rang mich dann zu einem schiefen Grinsen durch.
"Jetzt machen die da hinten schon wieder deine Rollladen runter. Dabei habe ich eben erst zu ihnen gesagt, dass du nachts die Sterne sehen musst, um glücklich zu sein. Ich habe dein Bett ja nicht grundlos direkt unters Fenster geschoben! Entschuldige mich, ich streite mich kurz mit der Schwester - aber ich komme wieder."
Meine Hand glitt aus seiner, meine Lippen berührten seine Stirn. Salz überall.
"Ich komme immer wieder, Papa. Egal, wo du noch hingehen magst, ich werde immer einen Weg finden, dir deine Blumen zu bringen."
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