3. Selbstmord ist (k)eine Lösung
Selbstmord ist (k)eine Lösung (heavy TW: Suizid - wenn ihr selbst Probleme mit dem Thema habt, empfehle ich euch WIRKLICH, nicht weiterzulesen und euch Hilfe zu holen)
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Selbstmord ist keine Lösung.
Das erste Mal wurde ich mit diesen Worten konfrontiert, als ich fünf Jahre alt war. Als sich mein Großvater erhängt hatte.
Meine Mutter saß zusammengesunken auf dem Sofa, ihr Kopf an die Brust meines Vaters gedrückt. Sie zitterte und schluchzte unkontrolliert, murmelte immer nur denselben Satz vor sich hin.
"Er wusste es doch.... Er hat es doch gewusst..."
Ich stand hilflos in der Tür, wusste nicht was geschehen war und worüber sie überhaupt sprach. Fragte nach - so, wie es kleine Kinder eben taten.
"Warum weinst du Mama?"
Sie sah auf und ich erschrak darüber, wie schwach und verletzlich sie aussah.
"Weil Selbstmord keine Lösung ist. Und er hat es gewusst... Es aber trotzdem getan. Er hat es gewusst!"
Ich hatte lange über diese Worte nachgegrübelt, sie allerdings nie richtig begriffen.
Selbstmord ist keine Lösung.
Sagte meine Lehrerin damals in der Grundschule. Nachdem ich ein Bild gemalt hatte, auf dem sich ein Mensch erhängte. Ihr Blick war erschrocken als sie auf mein Blatt starrte, beinahe angsterfüllt.
"Warum hast du das gemalt?", ihre Stimme war zittrig. Ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte. Warum sie so erschrocken war.
"Weil wir unseren größten Alptraum malen sollten, Frau Schmidt", antwortete ich, verunsichert.
"Mary... Alle anderen malen Spinnen oder Schatten, Gespenster oder Monster. Warum malst du so etwas?"
Sie versuchte sanft zu klingen, doch ich sah die Angst in ihren Augen. Sie fürchtete sich vor mir. Und das wiederum machte mir Angst.
"Ich... ich weiß es nicht, Frau Schmidt."
Ich war den Tränen nahe, und ihr Ausdruck entspannte sich wieder. Wie sie mit traurigen Kindern umzugehen hatte, hatte sie schließlich in ihrem Studium gelernt.
"Das ist nicht schlimm Mary... Das ist okay. Merk die nur eines: Selbstmord ist keine Lösung. Niemals. Verstanden?"
Ich nickte, obwohl ich nicht ein Wort verstanden hatte.
Selbstmord ist keine Lösung.
Das nächste Mal hörte ich diese Worte nicht, sondern las sie. Auf einem der zahlreichen Poster, die in der Realschule an der Wand hingen. Ich war gerade in die sechste Klasse gekommen, als die Wände quasi mit den Plakaten tapeziert wurden.
"Warum hängt ihr so viele von den Postern auf?", fragte ich den Mann, der mit Klebeband in der Hand auf einer Leiter stand, um auch direkt unter der Decke Poster anzubringen.
"Weil es eine wichtige Nachricht ist, die jeder lesen sollte, so oft wie möglich."
"Ich glaube nicht, dass das etwas bringt."
Der Mann hielt inne nachdem ich diese Worte gesagt hatte, drehte sich langsam um.
"Warum denkst du das?"
"Weil diejenigen, an die der Spruch gerichtet ist, das nicht glauben. Auch nicht, wenn sie ihn hundert Mal am Tag lesen."
Daraufhin kletterte der Mann herunter, stellte sich direkt vor mich. Als er merkte, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste um ihm ins Gesicht zu sehen, ging er in die Hocke.
"Ist alles okay mit dir, Kind? Geht es dir gut, brauchst du Hilfe?"
Ich schüttelte den Kopf. "Mir geht es gut, keine Sorge. Ich wollte nur meine Meinung sagen."
Und dann ging ich, ließ den Mann nachdenklich zurück.
Selbstmord ist keine Lösung.
Flüsterte ich mir panisch selbst zu, als ich das erste Mal einen Gedanken hatte, der das Gegenteil behauptete. Einen Gedanken der mich dazu bringen wollte, alles zu beenden. Ich war vor zwei Wochen fünfzehn geworden und meine Eltern waren nicht Zuhause. Und obwohl ich schon oft allein gewesen war, war es dieses Mal anders. Denn ich fühlte mich völlig verloren, so verlassen wie noch nie. Als ob sich alles gegen mich gewendet hätte. Die Gefühle kamen aus dem Nichts, hatten keinen direkten Auslöser, keinen tieferen Hintergrund. Sie waren wahrscheinlich einfach schon immer da gewesen, doch erst jetzt wurde mir die Leere das erste Mal so richtig bewusst.
Ich hatte Angst.
Und ich flüsterte die Worte, immer und immer wieder, in der Hoffnung die Gedanken so aus meinem Kopf zu löschen. Diese beängstigende Sehnsucht zu vertreiben.
Erst als meine Eltern zurückkamen - ich nicht mehr allein mit allem war - waren die Stimmen endlich still.
Selbstmord ist keine Lösung.
Dachte ich, als ich den ersten Schnitt meines Lebens machte. Weil ich im Internet gelesen hatte, dass es diesen unendlichen Schmerz, der einen von innen heraus zerfrisst, zum Verstummen bringt. Zumindest für einen Moment.
Und ich war verzweifelt. Denn die Sehnsucht nach dem Tod wurde immer stärker, und ich hatte Angst, dass ich eines Tages nicht mehr dagegenhalten konnte. Angst, dass meine Mutter bald wegen mir schluchzend auf dem Sofa sitzen und ihren Kopf gegen die Brust meines Vaters pressen würde.
Ritzen erschien mir eine bessere Lösung als der Tod. Also tat ich es. Und es fühlte sich gut an - zumindest im ersten Moment. Das purpurne Rot hatte eine beruhigende Wirkung, das Brennen an meinem Arm lenkte mich von jeglichen Gedanken und Todeswünschen ab. Ich lächelte, das erste Mal seit Wochen. Es war so eine Befreiuung. Doch das Brennen ließ mit der Zeit nach, und mit ihm das Gefühl der Befreiuung. Ich hielt die Klinge vor meine Augen und ekelte mich vor dem Blut, das auf dem silbernen Metall schimmerte. Ekelte mich vor mir selbst.
Trotzdem ritzte ich mich seit diesem Tag immer häufiger, denn ich sah keinen anderen Weg.
Selbstmord ist keine Lösung.
Sagte meine Therapeutin, als ich ihr in meiner dritten Stunde endlich von meiner tiefen Todessehnsucht erzählte. Und von den Stimmen, die mich zu etwas Endgültigem zwingen wollten und in den vergangenen zwei Jahren mit jedem Tag überzeugender geworden waren.
"Aber der Gedanke wird immer verlockender", sagte ich, verzweifelt. "Es wäre so einfach, alles zu beenden. Nur ein Schritt zu viel, nur ein Schnitt zu tief, nur eine Pille mehr als sonst. Und alles wäre gut."
"Selbstmord ist nichts Gutes. Er löst keine Probleme. Also sag so etwas nicht leichtfertig, wenn du es nicht auch so meinst. Aufmerksamkeit kannst du auch durch andere Dinge auf dich lenken. Und jetzt rede mit mir darüber. Über das, was dich wirklich beschäftigt."
Sie glaubte mir nicht. Dachte nicht, dass jemand, der offen über seine Selbstmordgedanken sprach, überhaupt welche haben konnte. Und es machte mich wütend, dass sie mich nicht erst nahm. Meine Worte nicht verstand, mich nicht hörte, obwohl ich direkt vor ihr saß. Es machte mich verrückt, dass sie alles runterspielte.
Das war meine letzte Therapiestunde.
Selbstmord ist keine Lösung.
Stand in dem Blog, den ich im Internet las, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag. Die Worte entlockten mir nur noch ein müdes Lächeln, denn sie waren leer. Verstanden den Schmerz nicht, verstanden die Qualen nicht, die man mit solchen Gedanken durchleiden musste. Tag für Tag für Tag. Und ich schluckte schon wieder eine Pille mehr, als ich sollte. Einfach nur, weil ich ruhig schlafen wollte - überhaupt schlafen wollte. Und die normale Dosis an Schlaftabletten reichte einfach nicht mehr, konnte die Monster nicht mehr vertreiben. Also nahm ich mehr und mehr. Und hatte damit zumindest nachts meine Ruhe.
Selbstmord ist keine Lösung.
Flüsterte der alte Mann, der hinter mir stand. Ich fragte mich, was er um drei Uhr nachts auf dem Dach eines Hochhauses machte. Fragte mich, ob er auch springen wollte. Oder ob er nur da war, um Leute wie mich davon abzuhalten.
"Warum nicht?", wisperte ich, ohne mich umzudrehen. "Warum denken alle, dass es keine Lösung ist? Warum sagen alle diesen Satz und erwarten dann, dass er wirklich etwas ändert?"
Er legte seine alte, faltige Hand auf meiner Schulter ab, zog mich sanft vom Abgrund weg. "Ich verstehe, dass du denkst, dass es nicht stimmt. Glaub mir Kindchen, ich war auch schon häufig an diesem Punkt - viel öfter, als man es in einem einzigen Leben sein sollte. Aber wie du siehst, bin ich niemals weiter gegangen als du. Denn ich habe mich daran erinnert, warum ich überhaupt so lange durchgehalten habe. Habe an meine Hoffnungen und Träume gedacht. Und dann bin ich wieder nach Hause gegangen, denn ich hatte Gründe um zu kämpfen."
Ich drehte mich um, ignorierte die Tränen, die ununterbrochen liefen.
"Aber was ist, wenn man keine Hoffnungen und Träume mehr hat? Oder vielleicht auch nie hatte? Was ist, wenn man einfach nur leer ist?"
"Dann kannst du dich über diese Leere freuen, denn du hast alle Möglichkeiten dieser Welt, um sie zu füllen. Du musst nur anfangen, das Schöne zu sehen. Das Gute."
"Wo gibt es das denn überhaupt? Das Schöne und Gute?"
"Überall Kindchen, überall. Du musst nur deine Augen öffnen und endlich anfangen zu sehen."
Wir hatten noch länger so weitergesprochen, und das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, gehört zu werden. Verstanden zu werden.
An diesem Tag veränderte ich mich.
Selbstmord ist keine Lösung.
Ich begann langsam, den Worten zu glauben. Denn mit jedem Tag und jedem Gespräch, das ich mit dem alten Mann hatte, sah ich die Schönheit der Welt klarer. Genoss die Sonne, die mich wärmte, mehr. Ich lächelte Menschen zu und knüpfte endlich wieder neue Freundschaften. Entkam der Arbeitslosigkeit und fand einen Job, der mich erfüllte. Und das alles nur dank dem alten Mann. Irgendwie gab er mir Hoffnung, irgendwie ließ er mich besser fühlen - nicht mehr so nutzlos, nicht mehr so allein. Es war bescheuert, aber indem ich ihm bei seinen Einkäufen half und er mir im Gegenzug davon erzählte, wie er zurück zu seiner Lebensfreude gefunden hatte, bekam ich die Kraft die ich brauchte, um mich aufzurappeln und nach dem Positiven in der Welt zu suchen. Er gab mir gewissermaßen einen Sinn, um zu leben.
Selbstmord ist keine Lösung.
Schrie ich nach dem Tod des alten Mannes, nach seiner Beerdigung. Schrie ich, als die Monster in mir wieder Amok liefen, mich zurück ins Dunkel ziehen wollten.
"Selbstmord ist keine Lösung!"
Doch ich konnte nicht mehr daran glauben. Konnte den Händen, die mich in die Tiefe ziehen wollten, nicht mehr wiederstehen. Und ich setzte noch einen Schnitt, das Blut färbte mittlerweile den ganzen Badezimmerboden ein. Aber es half nicht mehr. Es befreite mich nicht mehr von den Gedanken.
Und ich realisierte, dass der alte Mann Unrecht hatte mit den Worten, die er mir einst auf dem Hochhausdach sagte. Realisierte, dass man nicht jede Leere füllen konnte. Dass manchmal selbst Familie und Freunde und ein Job nicht halfen. Man sich manchmal einfach nicht wehren konnte.
Und ich erkannte, dass manche Taten keinen konkreten Auslöser brauchten. Denn mir war nichts Schlimmes in meinem Leben passiert. Ich hatte kein Trauma und auch keinen anderen Grund, um den Schnitt zu tief zu setzen. Ich fühlte mich einfach nur verloren und allein. Schon viel zu lange. Und vielleicht war es unfair und dumm, was ich tat. Vielleicht war es übertrieben dramatisch oder doch nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit, wie meine Therapeutin gesagt hatte. Vielleicht war es falsch, weil so viele Menschen, die standhaft durchhielten, mehr Grund dazu hatten alles zu beenden als ich.
Doch ich tat es trotzdem. Drückte ein letztes Mal fest zu, sah ein letztes Mal wie das Blut meinen Arm hinunterlief. Und ich lächelte.
Denn Selbstmord ist eine Lösung. Nur keine gute.
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An dieser Stelle nochmal als kleine Anmerkung: Selbstmord ist echt keine gute Lösung. Hilfe holen ist immer die bessere Option!
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