14. Mauern
Mauern (TW: Tod)
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Ich stand vor einer Mauer. Riesig und unüberwindbar türmten sich die roten Ziegel aufeinander, bis in die Unendlichkeit. Mein Blick glitt nach oben, so hoch, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor und wankte - beinahe nach hinten kippte.
Doch selbst mit tief in den Nacken gelegtem Kopf konnte ich kein Ende erahnen, die Mauer schien sich höher als die Wolken zu ziehen, höher als alles, was ich in meinem Leben je gesehen hatte.
Ich blickte nach rechts. Blickte nach links. Auch dort waren steinerne Wände. Wände, vor denen fremde Menschen standen, genau wie ich die Hälse reckend in dem Versuch, ein Ende zu erahnen, das nicht existierte.
Und ich fühlte mich wie erschlagen, das Gewicht schwer auf meinem Herzen, die Füße taub. So sehr ich mich auch bemühte, es war, als steckte ich in Eisenstiefeln, die mir nicht erlaubten, auch nur einen Schritt nach vorne zu machen.
Kaum wagte ich es, mich umzudrehen, und tat es schließlich doch. Nur einen kurzen, flüchtigen Blick auf die Feuer warf ich - auf die Flammen, die hinter mir wüteten. Rot, orange, gelb - andere Farben gab es dort nicht mehr. Zusammen mit dem Knistern und Knacken, das mit jedem gepressten Atemzug näherkam; unaufhaltsam, hungrig, gnadenlos.
Die Todesangst kroch in meine Glieder wie Gift und mein Herz hämmerte in der Brust, als wollte es jeden Moment herausspringen. Ein Windstoß wehte mir die Haare ins Gesicht und ich fröstelte, trotz der heißen Hölle in meinem Rücken. Mit zittrigen Fingern wischte ich mir den Schweiß von der kalten Stirn.
Ich musste diese Mauer überwinden oder sterben. Die Feststellung war erschreckend simpel, jagte wie ein spitzer Pfeil in meinen Kopf und endlich, endlich klärten sich meine Gedanken. Ich zog die gedanklichen Stahlschuhe aus, trat einen Schritt vor. Legte die Hand auf den festen Stein, drückte dagegen.
Nichts rührte sich.
Rechts von mir hörte ich einen Schrei; schrill, laut, verzweifelt. Voller Qual und Wut und Angst. Ich fuhr herum und zuckte zusammen, als Knochen knackten; als sich rotes Blut wie ein Schleier auf das Gras nur wenige Meter neben mir legte.
Doch der Junge hielt nicht eine Sekunde inne. Schlug immer weiter und weiter mit den Fäusten auf seine Mauer ein, wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seiner Körperhaltung wider, und ich wollte schon lachen, so unangebracht das in dieser Situation auch war - ich wollte ihn als Verrückten abstempeln, der an eine Unmöglichkeit glaubte, doch jeder Laut blieb mir in der Kehle stecken, als sich plötzlich einer der dicken Steine bewegte. Nur einen Zentimeter, doch der Junge hatte es ebenfalls bemerkt.
Triumphierend lachte er auf, nun mit neuer Kraft erfüllt, der Boden färbte sich mit jedem Schlag dunkler von Blut und Tränen, und doch - er gab nicht auf. Nicht jetzt, wo Ergebnisse seiner Mühen und Schmerzen sichtbar wurden. Immer mehr Steine wackelten, es drängte sich mir ein merkwürdiger Vergleich mit den Milchzähnen eines Kindes auf, doch ehe die Wand vollends in sich zusammenbrach, zog ein Murmeln von der gegenüberliegenden Seite meine Aufmerksamkeit auf sich. Erst wehte es leise zu mir herüber, wie ein Windhauch oder Feengeflüster, doch schnell wurde es immer lauter, drängender.
Ich wandte mich von dem hysterisch jauchzenden Jungen ab und sah nach links, zu einem Mädchen, das ganz im Gegenteil zu ihm keinerlei Anstalten machte, auch nur den Versuch zu wagen, die Wand vor sich mit bloßen Händen einreißen zu wollen. Ihrer zierlichen, kleinen Figur nach wäre das auch vergebliche Liebesmüh gewesen.
Sie war nicht so breit, nicht so muskulös wie der Junge auf der anderen Seite. Und doch wirkte sie nicht schwach, wie sie an die riesige Mauer gelehnt dasaß, die dunkelblonden Haare wie ein Fächer auf ihren Schultern, und dem Feuer entgegensah, ohne einen Funken Angst in ihren Augen.
Sie murmelte weiter etwas vor sich hin, das in dem Tosen der Flammen und den Schreien des Jungen rechts von mir unterging, und ohne weiter darüber nachzudenken trat ich näher, wie hypnotisiert, verzaubert. Ich wollte sie verstehen können, ihren Worten lauschen, nichts auf der Welt wünschte ich mir in diesem Moment mehr.
Ein Schritt nach dem anderen, und mit jedem Meter sah sie hübscher aus, die blauen Augen passten zu ihrem mitternachtsfarbenen Ballkleid, und selbst die dunklen Sneaker und der Ruß in ihrem Gesicht wirkten auf merkwürdige Art passend und hübsch.
"Sie werden kommen. Sie lassen mich nie im Stich. Sie werden kommen."
Ich runzelte die Stirn, versuchte, ihre Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Über wen redete sie? Wir waren allein, allein mit den Mauern und dem Feuer, uns würde niemand zu Hilfe kommen. Und doch leuchteten die Augen des Mädchens plötzlich wie funkelnde Saphire und sie sprang auf.
"Ich wusste es! Ich wusste, sie würden kommen!"
Sie legte die Hand auf einen der Steine, ein silberner Ring an ihrem Finger spiegelte für einen Wimpernschlag das Feuer hinter uns, und zu meinem Verblüffen fiel der Ziegel nach unten - auf unsere Seite, als hätte jemand von der anderen mit kräftigen Händen dagegen gedrückt.
Wie ein Bauklotz in einem von Kinderhand erbauten Turm hatte er sich gelöst, ganz so, als hätte der Zement vergessen, ihn festzuhalten. Oder ihn absichtlich weggestoßen, wie einen verratenen Freund.
Noch während ich ungläubig blinzelnd den Stein anstarrte, der nun gar nicht mehr bedrohlich und unüberwindbar auf dem Gras lag, eine kleine Kuhle in den weichen Boden gebohrt hatte, hörte ich die Stimmen. Stimmen von der anderen Seite.
"Hey! Wir sind hier, wir helfen dir!"
Nich nur eine, sondern mehrere. Sie alle riefen durcheinander, voller Hoffnung und Optimismus im Angesicht der Katastrophe vermischten sich die Stimmen zu einem unpassend bunten Wirrwarr.
"Wenn wir alle zusammenarbeiten schaffen wir es, wir holen dich da raus, so wie immer!"
"Drück gegen die Steine, es ist ganz einfach, gemeinsam bringen wir die Mauer zum Einsturz!"
Und sie lächelte. Lächelte das schönste Lächeln, das ich je gesehen hatte, als sie einen Stein nach dem anderen löste.
"Danke, meine Freunde. Ich danke euch!"
Ein Grollen und Rumpeln ließ mich wieder zu dem Jungen herumfahren.
"Geschafft! Ich habe es geschafft!"
Seine Stimme überschlug sich vor Freude, während er die blutigen Hände ausschüttelte, dann stieg er ohne auch nur einen Augenblick zu zögern über die am Boden liegenden Steine und verschwand aus meinem Sichtfeld.
Ich verlor ebenfalls keine Zeit, rannte los, wollte hinterher, weg vom Feuer, weg von meiner eigenen Mauer, an der sich noch immer jeder Stein so fest an seinen Nachbarn klammerte, dass ich dachte, nicht einmal eine Abrisskugel könnte sie auseinanderreißen. Nur fünf Schritte, und ich stieß mit voller Wucht gegen etwas Hartes, fiel zu Boden wie eine Meise, die blind gegen die Fensterscheibe flog.
Verwirrt rappelte ich mich auf, versuchte es erneut, dieses Mal zaghafter, und erneut spürte ich einen Widerstand - dort, in der Luft, unsichtbar für meine Augen, doch nicht für meinen Körper, nicht für meine Hände. Ich klopfte gegen die Mauer, die sich zwischen mich und die Erlösung, die Rettung stellte, schlug dagegen, fluchte, schrie, doch es half alles nichts.
Ich konnte nicht hindurch. Ich konnte dem Jungen nicht folgen, so unbegreiflich es für meinen Verstand auch war.
Verzweifelt ließ ich mich auf das Gras sinken, sprang jedoch in derselben Sekunde wieder auf, in der sich der stechende Gestank des Qualms zurück in den Vordergrund meiner Wahrnehmung schob. Und damit die Angst, die Panik.
Meine Füße trugen mich mit hastigen Schritten zurück auf die südliche Seite meines Gefängnisses, und ich konnte den verzweifelten Schrei nicht unterdrücken, als ich sah, dass auch das Mädchen im Mitternachtskleid fort war. Ein Loch in der Mauer war alles, was sie zurückgelassen hatte, doch auch zu diesem Ausweg konnte ich nicht durchdringen. Der Weg war versperrt.
Es war wie eine Ohrfeige, die mir endlich die Augen öffnete. Mich zurück in die bittere, bittere Realität stieß.
Ich konnte keinem fremden Weg folgen. Ich musste meine eigene Mauer überwinden, meinen eigenen Pfad finden. Für mich selbst kämpfen, weil es sonst niemand für mich tun würde.
Und nun, als ich so dastand, verloren mit nackten Füßen im Gras, und meinte, die Flammen schon an meinem Rücken lecken zu spüren - nun, als die Hitze begann meine Haare zu versengen und ich kaum mehr Luft bekam, bereute ich, das nicht gleich begriffen zu haben. So unendlich dumm gewesen zu sein, so naiv und ängstlich.
Ich war erbärmlich, und das hier war der Preis dafür.
Mein Blick glitt die Mauer entlang nach oben, durch den Rauch suchte er nach dem blauen Himmel, doch da war nichts als grauer Qualm und roter Stein. Wie eine Ameise vor dem Mount Everest stand ich da und konnte die schreckliche Erkenntnis nicht länger ignorieren. Die Erkenntnis, dass ich sterben würde.
Ich war nicht stark wie der Junge, ich hatte nicht seine Willenskraft. Und ich war nicht zuversichtlich und optimistisch wie das Mädchen, hatte keine Freunde, die mir zu Hilfe eilen würden.
Ich war allein. So furchtbar allein und schwach.
Und es war zu spät, um mich zu ändern. Ich konnte nicht mehr tun, als mich langsam umzudrehen, die Lippen aufeinandergepresst den Flammen ins Gesicht zu sehen und sie wie alte Bekannte zu begrüßen, bevor sie mich für immer verschluckten.
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Hab letztens mal wieder versucht zu schreiben, ich weiß auch nicht haha
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