1. Bunte Blätter
Bunte Blätter (TW: Keine)
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Ein Junge stand im Wald. Der Wind war kühl und die bunten Blätter der großen Bäume raschelten. Für ihn klang es etwas schwermütig, etwas trübsinnig und bedrückend. Er hörte den Blättern trotzdem zu. Denn es kam ihm so vor, als würden sie ihm etwas zuflüstern. Eine Geschichte erzählen, die das menschliche Ohr jedoch nicht verstehen konnte. Er war traurig darüber. Zu gerne hätte er gewusst, was ihm der Wald sagen wollte. Ob die alten Bäume wohl Weisheiten für ihn bereithielten, die ihm die Augen öffnen und seine Welt verändern würden? Doch egal, wie angestrengt er auch lauschte - die Worte blieben nur ein Rascheln, das er nicht zu übersetzen wusste.
Die Atmosphäre war mystisch, geheimnisvoll, und er genoss den Luftzug, der ihm seine etwas zu langen Haare ins Gesicht wehte, genauso sehr wie den Geruch nach Regen, der noch immer in der Luft lag. Wenn er genau hinhörte, konnte er die Vögel singen hören. Und einen Specht, der in einiger Entfernung in gleichmäßigem Takt auf hohles Holz klopfte.
Einen Moment lang gab er sich den Geräuschen hin, verfiel beinahe in eine Art Trance. Er fühlte sich so verbunden mit der Natur, wie schon lange nicht mehr. Und frei. Das hatte er wirklich gebraucht. Einen Ort, wo er allein war, aber nicht einsam. Einen Ort, an dem er seinen Alltag vergessen und abschalten konnte. Für kurze Zeit all seine Sorgen unwichtig waren. Doch schließlich öffnete er doch seine Augen und blinzelte ins Licht, sah sich um.
Um ihn herum waren nichts als Bäume, so weit er gucken konnte waren nur dicke Stämme und bunte Blätter zu sehen. Es war Herbst. Er ging einen Schritt nach vorne, unsicher wohin er eigentlich laufen wollte. Im Grunde war es egal. Er wusste sowieso nicht mehr, wo der Ausgang aus dem Wald war. Ob es überhaupt einen gab. Also stapfte er ziellos einige Schritte vorwärts, sah dabei nach oben. Durch die dichte Blätterdecke konnte man ab und zu durch kleine - oder auch große - Lücken einen Blick auf den bewölkten Himmel erhaschen.
Er fühlte sich abgeschottet von der Welt. Als ob ihn hier, in diesem Wald, nichts und niemand erreichen konnte. Und dieses Gefühl tat unfassbar gut, gerade in einer Welt wie dieser, in der man sonst immer erreichbar war. Es war befreiend, einfach mal zu verschwinden, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Er senkte den Blick wieder, sah nun die tieferhängenden Äste an, während er noch immer einen Fuß vor den anderen setzte, ohne ein Ziel oder einen Plan. Die Blätter leuchteten in der Sonne, orange und rot und gelb. Es war ein farbenfrohes Spiel, was manch einer als wunderschön oder idyllisch bezeichnet hätte. Er selbst hätte das noch vor einigen Minuten wohl ebenfalls getan. Doch nun, wo er sich die Blätter genauer ansah, fand er an ihnen nichts Beruhigendes mehr. Im Gegenteil - dass sie so farbenfroh schimmerten sorgte für ein flaues Gefühl in seinem Magen. Denn nun sah er, was wohl niemand sonst an so einem beruhigenden Ort wie diesem sehen würde. Oder zumindest niemand, der völlig normal war.
Denn er sah den Tod. Den Tod, der durch die bunte Farbe versteckt wurde. Und je länger er die Blätter ansah, desto scheinheiliger kamen sie ihm vor. Es machte ihn beinahe wütend, dass sie es wagten, ihren nahenden Tod so zu verbergen. Hinter einer roten oder gelben Farbpracht zu verstecken, bis zum letzten Moment. Bis sie schließlich auf den Boden fielen und endgültig starben.
Ein Windstoß fegte ihm seine Haare vor die Augen, sodass er einen kurzen Moment blind war. Er strich sich die Strähnen hinter das Ohr und fokussierte seinen Blick wieder auf die Blätter, die nun taumelnd nach unten flogen, sich mit dem braunen Laub auf dem Waldboden vermischten. Bald würde man sie nicht mehr von den toten, vertrockneten Blättern unterscheiden können. Bald wären sie alle gleich.
Dieser Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Denn er war ein Mensch mit einem sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sodass es in ihm ein Gefühl der Genugtuung auslöste, dass am Ende alle gleich waren, egal ob rot, gelb oder orange. Dass es völlig egal war, weil kein Blatt und kein Mensch seinem Schicksal entrinnen konnte. Irgendwann lagen sie alle auf dem Boden und waren eins.
Seine Augen blieben an einem besonders rot strahlenden Blatt hängen und er trat näher, streckte seine Hand aus und strich über die auffällig hervorstechenden Blattadern. Es war wirklich hübsch, doch auch hier sah er hinter der Schönheit den nahenden Tod. Die rote Farbe würde verblassen und es würde fallen, so wie alle. Es konnte nicht für immer verbergen, dass es in Wirklichkeit hinter seiner roten Maske starb. Schon bald würde es seine Bestimmung einholen.
Er zog die Hand zurück und sah seine eigenen Finger an, hielt sie nach oben gegen das Licht. Ihm konnte man genauso wenig ansehen wie den Blättern, dass er in Wirklichkeit starb. Noch war er bunt, noch leuchtete er farbenfroh, doch er wusste, dass das alles schon bald vergehen würde. Denn er war gebrochen. Und noch konnte er seinen Schmerz zwar verbergen, doch schon bald würde es ihn einholen. Das spürte er.
Und dann würde er ebenfalls fallen, ebenfalls auf dem Boden zu liegen kommen und eins mit der Natur werden. So wie jedes Blatt und jeder Mensch. Denn niemand konnte für immer farbenfroh und bunt bleiben. Jeder verblasste irgendwann, jeder fiel irgendwann. Und vielleicht war es sogar gut, dass es so war. Denn starb nicht auch jeder mit jedem Tag mehr? Wünschte sich nicht auch jeder irgendwann, dass er das alles nicht mehr verstecken musste, niemandem mehr etwas vorspielen musste, nicht mehr bunt sein musste?
Vielleicht irrte er sich auch. Vielleicht ging es auch nur ihm so. Am Ende war es egal. So, wie alles am Ende egal war.
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