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Mint PoV
Für einen Moment schweifen meine Gedanken an den Tag zurück, an dem ich Are kennengelernt habe. Wir müssen um die 12 Jahre gewesen sein. Er ist gerade erst aus Schweden hierher, nach England, gezogen. Ich habe mich ebenfalls von Schottland verabschiedet und bin gerade nach London gekommen. Wir haben uns am Schulhof gesehen, als ich versucht habe, ihm auf Englisch zu erklären, wie er in den richtigen Klassenraum kommt. Damals hat er die Sprache noch nicht gut gesprochen. Und jetzt kommt es mir fast so vor, als hätte er ein größeres Vokabular als ich!
Ich lache innerlich darüber.
Für Are bin ich seit diesem Tag der Junge mit den minzgrünen Fingernägeln gewesen.
Ich blicke auf meine Hände hinab. Der grüne Nagellack blättert ein wenig ab.
Den Namen Mint habe ich mir erst zugelegt, als wir mit unserer Band begonnen haben. Vor etwa einem Jahr. Am Anfang waren es nur Are, Marina und ich. Ohne Gitarre haben sich unsere Songs grauenhaft angehört! Das hat uns auch einer unserer Freunde oft genug mitgeteilt. So sind wir zu dem Namen Atrox gekommen.
Dann haben wir Tyler kennengelernt. Er hat sein Instrument schon seit er fünf war gespielt. Uns allen hat er geholfen, unsere Musik zu verbessern. Er ist immer eine Art Vorbild für uns alle gewesen.
Ich wende mich wieder dem Papier vor mir zu. Aufmerksam lese ich alles darauf durch. Dann drehe ich mich zu Mike.
„Darf ich kurz mit meinen Bandkollegen alles besprechen? Draußen?", frage ich.
Er nickt und steht ebenfalls auf.
Ich bin verwundert, aber dann verstehe ich, was er falsch verstanden hat.
„Alleine?", füge ich nachträglich hinzu.
„Achso. Klar. Mein Fehler."
Mike lächelt- Er ist das unsympathischste Lebewesen, das ich kenne. Und gleichzeitig ist er unsere einzige richtige Chance auf Erfolg. Wir verlassen den Raum und gehen in das Zimmer, in dem uns vorhin unsere Jacken abgenommen worden sind.
Sobald die Tür geschlossen ist, macht Marina Geräusche als würde sie würgen.
Wir lachen darüber.
„Gott, ich hasse ihn...!", beschwert sich Tyler und wir kichern wieder.
Nach einer kurzen Pause melde ich mich zu Wort. Meine Stimme ist ernst.
„Jep, ich möchte auch keine fünf Sekunden in einem Raum mit ihm verbringen. Aber er ist unsere einzige Chance. Momentan zumindest. Der Vertrag hier wirkt aber ziemlich fair und es ist ein guter Anfang. Außerdem können wir später immer noch jemand anderem wechseln."
Ich zeige ihnen das Papier und sie lesen alles durch.
„Klingt gut", kommentiert Marina.
Tyler nickt auch und Are zeigt mir einen Daumen-nach-oben.
„Also gehen wir diesen ersten großen Schritt?", frage ich, „Wenn wir jetzt beginnen, gibt es kein Zurück mehr. Wir werden Rockstars oder wir landen auf der Straße."
„...Ich nehm das Erste", wirft Tyler ein, „Die Rockstars. Straßen sind nicht sonderlich bequem zum Schlafen."
In wenigen Minuten füllen wir alles aus und lesen dann nochmal den ganzen Vertrag durch. Ein großer Teil der Einnahmen unserer verkauften Platten wird an die Firma gehen, aber wir werden trotzdem ein wenig Geld dafür kriegen. Die Miete und Lebensmittel werden wir also weiterhin mit Gigs und Lieferdiensten verdienen müssen.
Das Studio können wir jeden Mittwoch und Freitag verwenden, wir können aber auch ein anderes Studio verwenden. Falls wir eines finden.
Das einzige Problem ist, dass wir für unsere Platte nur ein Monat Zeit haben. Sonst wird Thunder Records sie nicht pressen lassen. In einem Monat alle Songs aufnehmen und dann noch mixen und ordentlich produzieren ist eine Herausforderung, vorallem, wenn man noch nicht lange im Musikbusiness unterwegs ist.
Ich gebe den Zettel drinnen ab und verabschiede mich von Mike.
Are PoV
Freitag, 4. Oktober '74
Thunder Records
Mint und ich teilen ein Auto. Wir beide zahlen für Benzin und Service und wir fahren auch immer abwechselnd damit. Heute bin ich an der Reihe.
Ich steige in den alten gelben Audi, der mal meinen Eltern gehört hat. Sie haben ihn mir gegeben, nachdem sie sich ein neues Auto zugelegt haben. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung von dem Thema und es interessiert mich auch nicht wirklich. Aber Mint ist total besessen von Autos. Er sagt immer, dass er sich -sollte er eines Tages berühmt und reich werden- das neueste und beste Fahrzeug kaufen wird, das es zu dem Zeitpunkt geben mag.
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
„Woran denkst du?", fragt Mint, während er auf der Beifahrerseite einsteigt.
Kurz überlege ich und antworte dann einfach ehrlich.
„An dich", sage ich vollkommen nüchtern.
„Hm", macht er und legt den Sicherheitsgurt an.
Ich mache das nicht. Es ist unnötig. Mint versucht immer, mir zu erklären, warum der Gurt wichtig ist. Mein Schulterzucken zeigt hoffentlich, wie egal mir das ist. Was soll schon passieren?
Wir erreichen Thunder Records und ich parke direkt vor dem Gebäude. Neben uns steht noch ein Auto, es gehört Marina, die schon vor der Tür wartet. Tyler steigt einige Meter entfernt aus einem Taxi aus. Normalerweise würde er zu Fuß kommen, aber heute schüttet es wie aus Eimern. Aus riesigen Eimern. Ich sehe, wie er seine Kapuze wie ein Schutzschild über seine dunklen Haare zieht. Mint holt zwei Regenschirme von der Rückbank unseres Autos und reicht mir einen davon.
Innerhalb des Gebäudes ist es schön warm. Anscheinend haben die hier eine funktionierende Heizung, im Gegenteil zu unserer Mietwohnung.
Wir hängen unsere Jacken auf und werden von einer der Putzfrauen begrüßt. Sie ist vielleicht Mitte zwanzig und wahrscheinlich der Typ Frau, die von ekelhaften 50-jährigen Männern wie Mike ständig angestarrt und unangenehm angesprochen und berührt wird.
„Mister Berryfield ist nicht hier", informiert sie uns.
„Jep, wissen wir", antwortet Tyler, „Wir wollen nur das Aufnahmestudio verwenden. Wir haben Schlüssel."
Wie zur Bestätigung fällt plötzlich der Schlüsselbund aus meiner Hosentasche. Ich sollte endlich mal dieses Loch zunähen.
„Ooooh, ihr seid eine Band?", fragt die Putzfrau.
Ich lese ihr Namensschild. Sie heißt Olivia.
„Seid ihr bekannt? Berühmt? Habe ich euch hier schonmal gesehen?", fragt sie weiter.
„Nahhh", verneine ich. In ihren Augen sehe ich einen Hauch von Enttäuschung.
Ich überlege kurz, was ich noch sagen könnte, da spricht Mint schon und ich bewundere seinen Charme.
„Noch nicht. Aber wenn wir mit diesem Album fertig sind und bekannt werden, dann kriegst du als erste ein Autogramm, Olivia."
Er zwinkert ihr kurz zu und stolziert dann zum Studio. Marina und Tyler folgen ihm. Olivia wird leicht rot. Ihr gefällt offensichtlich, dass Mint ihren Namen erwähnt hat.
Ich bleibe kurz stehen. Ich bin verwirrt.
„Kommst du auch irgendwann oder willst du hier übernachten?", ruft Marina und ich stolpere fast über meine Füße, als ich den zuvor hinuntergefallenen Schlüssel aufhebe und mich zum Studio beeile.
Mint PoV
Das Mikrofon ist mir fast so unsympathisch wie Mike Berryfield. Das ist mir schon am Mittwoch, bei unserem ersten Besuch im Studio, aufgefallen.
Wir wollen heute unseren besten Song aufnehmen. Violence Of Love. Ich mag den Titel nicht wirklich, aber bei den Lyrics hat sich Are mal wieder selbst übertroffen.
Tylers energisches Riff gleich am Anfang des Songs klingt nahezu perfekt. Ich setze meine Lippen ans Mikrofon und singe.
Look at you, you just stand there
Watching their souls break in just a heartbeat
You light a candle
And blow it out in the dark
So you can't see the smoke of dying love
Montag, 21. Oktober '74
Es ist mitten in der Nacht. Die Herbstluft weht durchs offene Fenster. Mir ist eiskalt. Ich traue mich zuerst gar nicht, unter der warmen Decke hervorzukommen, aber ich muss einfach das Fenster schließen. Mein ganzer Körper zittert, als ich aufstehe. In meinem Bauch spüre ich ein seltsames Kribbeln. Ich fühle mich plötzlich krank. Hoffentlich ist das morgen Früh vorbei. Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand, die vom Mondlicht erhellt wird, verrät mir, dass es fast zwei Uhr morgens ist.
Ich lege mich zurück ins Bett, brauche aber ziemlich lang, um wieder einzuschlafen. Als ich wieder aufwache, ist mir unendlich kalt. Es liegt nicht an den kaputten Heizungen. Are schläft sogar ohne Decke. Irgendetwas stimmt nicht. Ich setze mich auf und mit einem Mal wird mir schlecht. So schnell ich kann laufe ich ins Bad und übergebe mich. Ich knie vor der Kloschüssel und mein Abendessen verlässt meinen Körper. Ich übergebe mich nochmal. Meine Beine fühlen sich wacklig an und ich bin mir nicht sicher, ob ich es zurück ins Schlafzimmer schaffe. Erneut übergebe ich mich. Ich hoffe, es ist das letzte mal. Meine Hände zittern so sehr...
Langsam lass ich mich zurückfallen und lehne mich gegen den Badewannenrand hinter mir. Da höre ich Schritte und sehe hinüber, wo Are gegen den Türrahmen gelehnt ist und auf mich herabblickt.
„Fuck", kommentiert er.
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