In dem Moment läuft eine grauhaarige Frau an mir vorbei. Kurz zögere ich, laufe ihr dann aber hinterher, um ihr auf die Schulter zu tippen. Sie dreht sich um, wobei mir ihr silberner Lidschatten auf fällt. „Haben Sie kurz Zeit? Ich würde gerne ein paar Fragen stellen." Ich lächle sie an, vielleicht sagt sie dann eher ja. „Natürlich, ich habe Zeit."

Erleichtert atme ich aus. Inzwischen haben mich genug Leute ignoriert, was ich hier aber nicht näher beschreiben werde.

„Kommen Sie von hier?" „Nein." Sie schüttelt den Kopf. „Ja. Doch, irgendwie. Jein. Ich bin hier aufgewachsen, wohne jetzt aber in Rostock." Ich überlege, ob ich fragen sollte, warum sie wieder hier ist. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass mich sehr viele Dinge gar nichts angehen. Aber in diesem Buch geht es ja um das Leben der Anderen.

Also frage ich: „Machen Sie Urlaub in Ihrer Heimat?" Anne legt ihren Kopf auf die linke Seite. „Nein, ich bin alle zwei Wochen hier und kümmere mich um meine Mutter. Sie kommt alleine nicht mehr so gut klar." Ich nicke und beginne, mir Notizen zu machen, während sie weiter erzählt: „Ich bleibe immer ein bis zwei Wochen, je nachdem was so ansteht." „Und sonst, arbeiten Sie?" Sie legt ihren Kopf auf die andere Seite. „Nein zum Glück nicht. Das würde sonst zeitlich nicht passen. Ich hatte früher einen Friseursalon, aber als ich meine beiden Söhne bekommen habe, habe ich alles verkauft."

Anne erzählt mir, dass sie ihre Söhne nur noch selten sieht. Höchstens zwei mal im Jahr. „Das ist schon echt schwer, man bekommt so vieles nicht mit. Und dann reichen die wenigen Tage, die wir uns sehen, gar nicht aus, um alles zu erzählen. Aber wir telefonieren mindestens einmal pro Woche."

Zu Weihnachten kommen alle her, um Annes Mutter zu besuchen. „Ich muss leider wieder los, ich muss noch die Tabletten abholen." Sie winkt und geht dann weiter auf ihrem Weg, den ich vorhin unterbrochen hatte. Es fasziniert mich, wie sie ihre Zeit für ihre Mutter aufopfern kann. Das ist wahrscheinlich nur durch die Familien-Liebe möglich.