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Auf der Vorderseite war wieder ein goldener Schriftzug zu sehen!
Sorgen sind wie Gespenster:
Wer sich nicht vor ihnen fürchtet,
dem können sie nichts anhaben.
Wieder verschwand die edle Schrift. Rasch steckte das Mädchen das kostbare Blatt ein.
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,,Ja, was war dein Anliegen?", wollte Frau Davidson wissen. Isabelle saß gegenüber von ihrer Mutter auf ihrem Bürostuhl und schaute in ihr ernstes, angespanntes Gesicht. Die kahlen, weißen Wände des Arbeitszimmers, der sterile Schreibtisch, auf dem man vermeintlich operieren konnte und der unnatürlich schneeweiß gebleichte Marmorboden trugen nicht gerade zur Gelassenheit Isabelles bei. Keine Angst haben, du hast es gelesen!, ermahnte sie sich streng in Gedanken. Ihre Mutter starrte sie durchdringend an. Was ihr wohl gerade durch den Kopf ging?
,,Die Ferienfreizeit...", stammelte die Zwölfjährige unbeholfen. Sie fing sich. ,,Ich möchte hierbleiben. Papa braucht mich und die beiden Fellnasen auch." Die ganze Zeit über guckte sie auf die Fliesen. Ihr Blick verlor sich im blanken Marmor. Ob das der beste Ausdruck gewesen war? Fellnasen?
Sie traute sich nicht, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. Sie war so unnahbar. Was sie wohl so sein ließ? Darüber konnte Isabelle nur mutmaßen, doch sie spürte, dass diese Seele etwas bedrückte.
,,Ich denke, du bist noch zu jung, um selbst zu wissen, was gut für dich ist. Es ist besser so. Glaub mir!", sprach Frau Davidson auf sie ein, wobei sich ihre Stimme zu überschlagen schien. Sie schrie nicht, aber sie war offensichtlich erbost.
Betrübt senkte Isabelle ihren Kopf ein klein wenig. Geschlagen geben würde sie sich aber lange noch nicht! Vielleicht konnten die Bäume helfen? Unter dem Vorwand, auf Toilette zu müssen, mogelte sie sich ins Badezimmer.
Reflexartig holte sie das Blatt sofort hervor, als sie wusste, dass sie allein war. Es glühte stark. Kein Wunder, sie war auch sehr unruhig gerade. Sauer auf ihre Mutter, darüber, wie sie reagiert hatte und zugleich enttäuscht von sich selbst, dass sie es schon wieder verbockt hatte.
Doch jetzt erregte die edle Schrift ihre Aufmerksamkeit.
Das Problem ist nicht das Problem selbst,
sondern die Einstellung zum Problem.
Isabelle dachte einen kurzen Moment darüber nach.
Vielleicht musste sie mit einer anderen Herangehensweise mit ihrer Mutter reden?
Grübelnd drückte sie die Spülung, wusch sich die Hände und ging wieder hinüber in den sterilen Raum. Dort angekommen fasste sie sich ein Herz. ,,Mama, bitte! Ich werde dich schon vermissen und will nicht noch Heimweh haben! Außerdem brauchen Mimi und Lou mich. Wie gesagt..." Den Schmerz, den sie verspürte, konnte man aus ihrer bebenden Stimme heraushören, in welcher mühevoll Emotionen unterdrückt wurden. Sie wollte vor ihrer Mutter nicht als Heulsuse dastehen! Im Allgemeinen hätte sie problemlos losheulen können...
Das mit dem Heimweh war nicht bloß eine Ausrede. Es stimmte wirklich. Aber das war eine andere Geschichte.
Ihre Mutter schaute Isabelle nun für einen kurzen Augenblick mitfühlend an, schien sich aber ebenso schnell wieder zu sammeln und setzte dann wieder ihren gewöhnlichen, eisernen und strengen Gesichtsausdruck auf. Als habe sie ihr Ziel immer exakt vor Augen.
,,Georg!", rief sie. ,,Geeeorg!" Es dauerte ein Weilchen, bis er kam. ,,Ja?" Die Stimme des Vaters verbarg eine Priese Angst. Gekonnt. Aber Isabelle hörte es. ,,Was habt ihr heute gemacht, als ich nicht da war?'' Herr Davidson schien zu überlegen, was er antworten sollte. Hoffentlich fiel er ihr jetzt nicht in den Rücken! Bei der Einstellung ihrer Mutter konnte das alles zunichtemachen!
Es vergingen Sekunden, vielleicht ein paar Minuten. Sprich doch endlich!, dachte sie.
Nun sperrte er endlich den Mund auf! ,,Ja... Gut... Wir haben zusammen einen Waldspaziergang gemacht und die Bäume mit den Eiszapfen angeschaut. Wieso?" Sein Blick fiel abwesend aus dem Fenster. Seine Frau ließ seine Frage unbeantwortet und nickte nur. Fast verständnisvoll. Herr Davidson guckte auffällig unauffällig fragend zu seiner Tochter. Die klimperte bestätigend mit ihren Wimpern.
,,Okay, danke", sagte Isabelles Mutter und gab ihrem Mann mit einer ausladenden Handbewegung zu verstehen, dass er nun besser ging. Folgsam verließ jener den Raum.
Isabelles Mutter seufzte daraufhin tief, bevor sie fortfuhr: ,,Lass mich meinen Koffer packen. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Du kannst in einer Stunde wieder hierherkommen." Isabelle nickte kaum erkennbar und ging dann zurück in ihr Zimmer.
Dort schloss sie die Tür leise und ging zum Bett, nahm das Blatt, legte es auf ihre weiß- grün gestreifte Flanellbettwäsche und betrachtete es fasziniert. Sie hatte erwartet, dass ihr wieder eine neue Weisheit entgegenglitzern würde, so wie die letzten Male, als sie es hervorgeholt hatte. Doch da war nichts als das blanke Abbild des Weißdornblatts. In der Hoffnung, dass die Bäume ihr bald wieder einen Ratschlag überbringen würden, saß die Zwölfjährige nun da und betrachtete das schimmernde Grün.
Es regte sich nichts.
Kurzerhand beschloss sie, ihr Zimmer aufzuräumen. Hier und da lagen ein paar Klamotten, und ihren Schreibtisch aus hellem Eichenholz konnte man kaum noch als solchen erkennen.
Es würde bestimmt einen guten Eindruck bei ihrer Mutter hinterlassen, wenn sich das änderte.
✯
Es verging eine Stunde, in der die Kleine emsig in ihrem Zimmer Ordnung und Sauberkeit voranbrachte. Sie erschrak, als ihr Blick auf die schwarz lackierte, von ihrem Vater gefertigte Wanduhr fiel. Zügig vollendete sie ihre Aufräumaktion und griff hektisch nach dem Weißdornblatt. Sie hatte keine Unterstützung mehr vor dem zweiten Gespräch mit ihrer Mutter erwartet, aber ihr blitzte etwas entgegen.
Empathie bedeutet:
Mit den Augen des anderen zu sehen,
mit seinen Ohren zu hören,
wie er zu fühlen.
Das sollte gehen. Sie war feinfühlig und verstand die meisten Menschen sehr gut.
Ihren Mut sammelnd klopfte sie an die Tür des Büros und trat unmittelbar danach ein. Frau Davidson saß auf ihrem Stuhl. Genau so, wie als Isabelle vor gut einer Stunde gegangen war. Es schien, als wartete die eloquente Dame bereits. Ihr Reisekoffer stand geduldig auf seinen Einsatz wartend -vermutlich schon gepackt- in der Zimmerecke hinter dem Schreibtisch.
Isabelle spürte den Blick ihrer Mutter auf der Kleidung. Er bohrte sich durch den Stoff ihres Kapuzenpullis, dann durch die Haut, durch das Gewebe und die Rippen, neben der Wirbelsäule hindurch und auf der anderen Seite wieder durch Gewebe, Rippen, Haut und den Stoff.
Schüchtern hob das zwölfjährige Mädchen nun den Blick und fing den ihrer Mutter auf. Sie schaute, als wolle sie sie auffordern, das Gespräch zu beginnen. Isabelle blieb stumm.
Nach einer halben Ewigkeit brach Frau Davidson die Stille dann durch ein geräuschvolles Räuspern. ,,Ich habe nachgedacht..."
Eine Minute.
Zwei Minuten.
Drei Minuten vergingen.
Frau Davidson kam noch immer nicht zu Wort.
Nach über fünf Minuten regte sich etwas in ihr.
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