6. Kapitel - Das Zuckerstangen-H
„Das sind meine Kinder!"
„Sie gehören der Gruppe."
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„Oha", meinte Eve, als die drei im Foyer standen. Sicher nicht, weil sie das Grau des ewig kalten Raumes so anmutig fand. Das Wort klang aus ihrem Mund hauchzart und es war unmöglich, einzuschätzen, was sie damit ausdrücken wollte. Oliver und Cordelia folgten ihrem Blick und sahen im Schatten der Tür, die zur Abstellkammer – auch gerne Rümpelraum genannt – führte. Dort stand mit vor der Brust verschränkten Armen Schwester Judith, die wahrscheinlich sehr unbeabsichtigt wie ein kleiner Dämon aussah.
Hätte Oliver „Oha" gesagt, wäre es voller Abneigung gewesen. Denn er ahnte, dass die Nonne zu keinem anderem als zu ihm wollte und er war sehr daran interessiert, ein Aufeinandertreffen zu vermeiden.
„Wir sollten uns beeilen", murrte er zerknirscht und schritt auf die Treppe zu. Regen schlug an die großen Fenster und ließ den Raum seltsam blau wirken.
„Mr Greyshire hat dich bestimmt sehnlichst vermisst." Cordelia schüttelte ihre schmucken Haare und lächelte. Der Montag wurde immer seltsamer.
Eve war offenbar drauf und dran, Olivers Plan zunichte zu machen, denn sie wandte den Blick nicht von ihrer Tante und hielt nur halbherzig ein zügiges Tempo.
„Sie muss sehr enttäuscht darüber sein, dass ich nicht auf dem Festland bin."
„Oder auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurdest.", fügte Cordelia hinzu, während Oliver sehnlichst den Treppenabsatz anhimmelte, der nur noch drei Stufen entfernt war. Wenn sie um die Ecke wären, könnten sie ganz entspannt in den Unterricht gehen und Schwester Judith entgehen.
„Mr Blueman!", sagte Schwester Judith mit donnernder Stimme. Instinktiv zogen alle Kinder – auch die mit Eltern – die Köpfe ein und machten sich daran, in ihre Klassenräume zu kommen. Manche grinsten hämisch, weil sie wohl glaubten, er würde mächtig Ärger bekommen. Oliver gab eine Art Knurren von sich und verdrehte die Augen.
„Du dachtest doch nicht wirklich, dass das funktionieren würde." Cordelia legte den Kopf schief und schaute ihn auf diese ganz besondere Weise an, die so viel bedeutete wie „Ich hätte es dir vorhersagen können"
„Wir sind schließlich nicht unsichtbar", tadelte sie weiter.
„Ein Versuch war es durchaus wert", meinte Eve, die schon auf halbem Weg wieder die Treppe runter war. Oliver folgte nur sehr ungewollt.
Aus irgendeinem Grund waren er und Schwester Judith nie auf einen Nenner gekommen. Sie war aus unerfindlichen Gründen nie damit zurechtgekommen, dass er die Regeln des Waisenhauses neu ausgelegt hatte. Sie war es auch nicht gewohnt, dass man ihr bei einer Diskussion widersprach, was für gewöhnlich auch keiner tat – bis auf Oliver. Ganz gleich, wie laut sie geworden war, er hatte immer das letzte Wort gehabt. Wahrscheinlich hätten die anderen Nonnen und sie irgendwann ein Attentat auf ihn ausgeübt, wäre er nicht vorher adoptiert worden.
Oliver fand, er hatte alles richtig gemacht. Schließlich handelte es sich bei ihm um einen fabulösen Diskutierer und auf keinen Fall könne man so ein Talent unter den Teppich kehren. Dem Großteil der Stadt war das allerdings noch nicht so wirklich klar.
„Guten Morgen", grüßte Schwester Judith, was eher etwas von einer Aufforderung als einer Begrüßung hatte. Oliver wagte es für einen Moment, mit ihrem stechenden Blick in den Krieg zu ziehen, gab jedoch schleunigst auf. „Guten Morgen"
Die Nonne warf ihrer Nichte statt eines ähnlich herzlichen Grußes einen ausgesprochen pikierten Blick zu. Evangeline."
„Tante Judith", erwiderte Eve in einem so ernsten Ton, dass sie es niemals so ernst meinen konnte.
„Sie halten uns vom Unterrichtsgeschehen fern, Euer Ehren.", sagte Oliver, dem gerade aufgegangen war, dass er Mr Greyshires Anwesenheit der von Schwester Judith im Moment vorzog. Darüber war er selbst ausgesprochen schockiert und er nahm sich vor, seine Prioritäten in Zukunft wirklich zu überdenken. Da war nur der Haken, dass er ohnehin ungern dachte. Weder nach- noch über.
„Euer Mathelehrer ist über mein Anliegen informiert, keine Sorge." Schwester Judith lächelte kühl. Es war gerade schwer zu glauben, dass sie unter den Waisen eigentlich sehr beliebt war. Allerdings standen gerade zwei der unmöglichsten Emeralder vor ihr und mit einer von ihnen, war sie leider Gottes verwandt. Der andere ging ihr von Vornherein auf den Senkel. Im Übrigen – und sie wusste, dass die Kinder dafür nichts konnten, allerdings war es ihr egal – waren ihre Frühstückseier von der vermaledeiten Schwester Ina gegessen worden und darüber hatte sie sich so geärgert, dass sie ihren Tee kalt trinken musste. Ihren guten, englischen Tee, der nochmal jedes kalte Glied zum Leben erwachte. Genau das, was man bei so einem Wetter brauchte und Schwester Judith hatte es nicht bekommen. Sie fand den Montag jetzt schon schrecklich. Und weder Evangeline, noch Oliver konnten etwas dafür, aber es war ihr nun mal so schrecklich egal.
„Das wird ihn nicht davon abhalten, uns trotzdem anzuschnauzen.", maulte Oliver.
„Das ist wohl kaum mein Problem, Mr Blueman."
Der Tee, dachte Schwester Judith.
Die Nacht, dachte Oliver.
Und über den jeweils anderen dachten sie: Heute aber kratzbürstig.
Cordelia fragte sich unterdessen, was diese düstere Stimmung hatte aufkommen lassen und Eve... Ja, Eve dachte an den Nebel.
Im nächsten Moment schien Cordelia zu entscheiden, Schwester Judith eine gute Tat einzulegen und trat Oliver gegen den Fuß. Als er sie ziemlich verwirrt anschaute, erwiderte sie nur mit einem bösen Blick.
Was ist heut denn mit allen los?, fragte er sich und verfluchte diesen Montag nochmals.
Aber eine wütende Cordelia konnte er nun wirklich nicht gebrauchen, obwohl er froh war, dass sie überhaupt eine Art von Emotion zeigte. Außerdem war da noch Mr Greyshire, der ihr Zuspätkommen herbeisehnte.
„Was haben Sie denn für ein Anliegen?", fragte er artig. Dabei wusste er genau, was sie wollte.
„Ich möchte dich nur darüber informieren, dass du nach dem Unterricht John mit auf den Hof nimmst."
„Wer ist John?"
„Stell dich nicht dumm, die Mädchen haben dich sicher informiert."
„Vielleicht habe ich nach der Schule noch etwas vor."
„Hast du nicht."
„Das wissen Sie doch-." Oliver war drauf und dran, sich noch weiter reinzureiten, aber dann erinnerte er sich an Cordelias Tritt und gab doch Ruhe.
„Und woher soll ich wissen, wer überhaupt John ist?", fragte er lahm. Denn wie ein kleines, niedliches Fohlen würde er bestimmt nicht aussehen.
Schwester Judith seufzte und wirkte genauso fertig von diesem Morgen wie Oliver. Da musst eine Laus letzte Nacht wirklich sehr fleißig gewesen sein, wenn sie ihnen allen über die Leber gelaufen war. Wahrscheinlich durch Stroh und durch Teebeutel.
„Cordelia weiß, wer John ist. Außerdem wird er am Tor auf dich warten."
Oliver zog eine Schnute. Für einen Moment schwiegen die Anwesenden und stellten die vergangenen Minuten in Frage. Dann nickte Schwester Judith knapp, sagte „Guten Tag", obwohl der jetzt schon eine Katastrophe war und zog über den Steinboden hinweg Richtung Ausgang. Einige Sekunden später fiel die Tür krachend ins Schloss.
„Was bist du heute so unmöglich?", wetterte Cordelia, während sie die Treppe hinaufstiegen. Oliver wusste es nicht. Auch ihm kam sein Verhalten höchst eigenartig vor.
„Ich wollte lieber ein Fohlen."
„Du solltest dich glücklich schätzen, dass ihr für ein paar Tage zusätzliche Hilfe bekommt. Zumal du mir ohnehin nicht als ausgesprochen hilfreich erscheinst." Cordelia zog die Augenbrauen hoch. „Grasinspekteur."
Darauf ging Oliver nicht ein. Ihm fielen nur bösartige Erwiderungen ein, die nicht zu ihm passten und die er nicht verstand. Die Tage, die in Memento Moris Box begannen, waren meistens ein einziges Chaos.
Evangeline legte den Kopf schief, als könne sie die Situation genauso wenig einschätzen. Vielleicht lag es ja am Nebel, dass alle am Rad drehten.
Aber Cordelia bot Oliver Paroli. Und das war gut. Gut und eigenartig.
Der ganze Montag war eigenartig.
Oliver hatte Mr Greyshire nie wieder beeindruckt seit dem Tag, an dem er aus dem Wald gekommen war. Er stellte sich im Unterricht natürlich nicht völlig ungeschickt an, erfüllte jedoch tadellos sein Bedürfnis, nicht übermäßig auf sein Wissen zuzugreifen.
Oder besser ausgedrückt: Er war begabt, aber faul.
Weitere fünf Jahre hatten die grauen Augen des grauen Mannes im grauen Anzug in der grauen Schule nie wieder geleuchtet, geschweige denn auch nur ein wenig geglommen. Die Einzige, die manchmal mit ihm Mitleid verspürte, obwohl er das Oliver zufolge am wenigsten nötig hatte, war Eve. Aber dann blaffte Mr Greyshire sie an, sie solle ihre verquirlte Aufmerksamkeit der Tafel statt dem Wetter widmen und überhaupt träume sie ja zu viel. In den meisten Fällen vergaß Eve ihr Mitleid dann. Aber sie betonte oft, dass sie es äußerst tragisch fand, wie verbittert Mr Greyshire für sein junges Alter war.
Gerade als Oliver, Cordelia und Eve die Treppe verließen, hörten sie Stimmen.
„Wirklich, Antonio, das Arrangement, das Sie an den Tag gelegt haben-" Es war Mrs Springston, die dem Mathelehrer so viel Honig um das Maul schmierte. Er stand mit dem Rücken zu ihnen auf dem Gang, was sie ausgesprochen erfreulich fanden. Denn das bedeutete, er war nicht im Klassenzimmer. Oliver wagte sich gefolgt von den Mädchen weiter auf den Flur und reckte den Kopf. Mr Greyshire hob beschwichtigend die Hände bei den Lobeshymnen der Englischlehrerin. Es war höchst sonderbar, dass sie ihn so umgarnte, wo sie ihn vor einigen Jahren doch eine „gammlige Socke" genannt hatte.
Der Mann fuhr sich durch die schwarzen Locken (tatsächlich nicht grau) und räusperte sich. „Vielen Dank, aber ich muss jetzt wirklich zu meinen Schülern-"
Mrs Springston unterbrach ihn. „Es ist doch Sage und Schreibe nur der halbe Saal eingeschlafen, das ist wirklich beeindruckend. Ich persönlich habe das schon seit der Rede von Mr Clock – Gott habe ihn selig – über die Koexistenz von Ameisen und Kiefernzapfen nicht mehr miterlebt." Die Lehrerin vollführte eine ausschweifende Handbewegung, wobei sie Mr Greyshire beinahe den Schnurrbart vom Gesicht gezogen hätte. Ihre Finger wedelten dabei seltsam vor und zurück. Als würde sie winken.
Oliver ging auf, dass sie tatsächlich winkte, bevor er den Montag zum siebten Mal an diesem Morgen verurteilen konnte. Unzwar ihnen. Außerdem lenkte sie den Mathelehrer ab.
Und bestimmt hielt sie ihn immer noch für eine gammlige Socke.
„Ja, es war durchaus passabel." Erneut räusperte sich Mr Greyshire. „Gerne können Sie mich noch einmal zu Mittag darauf ansprechen, obwohl es mir lieber wäre, wenn Sie das unterlassen würden."
Oliver wurde klar, dass sie Mrs Springstons nette Geste nicht in den Wind schießen sollten, weil sie dumm auf dem Gang lungerten. Er nickte Cordelia und Eve zu und gemeinsam huschten sie schleunigst in den Klassenraum. Dort trafen sie die anderen stramm am Platz sitzend vor, aber als offensichtlich war, dass keiner von ihnen Mr Greyshire war, entspannte sich die Lage. Die Klasse genoss die zusätzlichen freien Minuten.
Kaum zwei Sekunden nachdem Oliver sich auf seinem Stuhl niedergelassen hatte, kam der graue Mann mit wehenden Schritten hereingestiefelt und schlug die Tür hinter sich zu. Augenblicklich fielen die meisten der Kinder in ihre Habachtstellung. Mr Greyshire ließ seinen Blick prüfend über sie gleiten und als er seine drei Lieblinge erblickte, begann sein Kiefer zu mahlen. Oliver lächelte schief. Vermutlich hatte Mr Greyshire sich schon genau zurechtgelegt, wie er sie zusammenstauchen würde und dank Mrs Springston gingen sie ihm durch die Lappen.
„Wir beginnen mit einer Übung, für die die wenigen Intelligenten unter euch vielleicht nicht ganz zu blöd sind", wetterte der Lehrer wie gewohnt und bewies damit, dass der Montag doch nicht völlig beunruhigend war.
Tatsächlich verlief der Rest des Tages ziemlich gewohnt. In der Pause beobachteten sie den Nebel, der langsam über die spitzen Dächer hinweg Richtung Fogstone zog.
„Als würde ein König seine Ritter rufen, damit sie ihn wieder vor Angriffen schützen", murmelte Evangeline andächtig, weil sie immer etwas andächtiges sagte – vor allem an Nebeltagen. So saßen und beobachteten sie, bis die Glocke schlug. Oliver wurde den Tag über mehrmals zum Zuhören ermahnt und das nicht nur von Mr Greyshire. Im Geschichtsunterricht hatte er kein Interesse für Ludwig IV aufbringen können und die Grundlagen der Lebenskunde gingen so gut wie gänzlich an ihm vorbei. Dabei fand er die wirklich interessant und schämte sich sogar ein bisschen, seine Lehrerin enttäuscht zu haben. Doch im nächsten Moment schaute er wieder aus dem Fenster und knabberte an seinem Stift.
Oliver dachte über John nach. Der Junge, den er gar nicht kannte und den er mit auf den Hof schleppen durfte. Darauf hatte er überhaupt keine Lust und sowieso fragte er sich, warum niemand ihn eher informiert hatte. Seine Eltern hätten ruhig mit ihm darüber sprechen können, ehe sie es dingfest machten, damit er es ihnen ausreden konnte.
Aber es sind ja nur drei Tage, murmelte die Vernunft auf Olivers Schulter. Auf der anderen Seite flüsterte jedoch ein hämisches kleines Männlein: „Oder drei Wochen oder drei Jahre."
Oliver schüttelte den Kopf, um beide von sich runterzuschubsen. Aber das nagende Gefühl blieb und er wehrte sich mit aller Macht dagegen, genauer darüber nachzudenken. Irgendwie würde die Zeit vergehen und dann würden sie John ganz schnell vergessen. Es ärgerte Oliver, dass er so viel über ihn nachdachte, wo er doch strikt gegen das Denken war. Allein deshalb war es unmöglich, den Jungen zu mögen. Schließlich konnte doch niemand etwas leiden, das ihn zum Nachdenken zwang.
Kurz vor Schulschluss sank Oliver auf seinem Tisch zusammen, als wäre er an Ort und Stelle geschmolzen. Er war unzufrieden mit der Welt und mit sich. Und mit dem Montag ja ohnehin.
„Komm Oli" Eve rüttelte leicht an seiner Schulter. Sie klang immer noch so seltsam andächtig.
„Wir holen deinen Schützling ab", fügte Cordelia hinzu und klang dabei um einiges fordernder.
„Er ist ein Balg", teufelte Oliver, obwohl es ihm leidtat.
„Jetzt hör schon auf!"
Er wich überraschend gekonnt ihrer geschwungenen Schultasche aus. Dann verließen sie das Gebäude.
Vielleicht ist ja gar keiner am Tor, hoffte Oliver und überlegte fieberhaft, wie er die kleine Gestalt dort hinter dem Zaun am ehesten würde übersehen können. Nun, der Junge sah im Gegensatz zu ihm wirklich klein aus, also könnte er genauso gut gar nicht da sein.
Eve und Cordelia blieben neben dem eigentlich überhaupt nicht existierenden Jungen stehen, Oliver ging weiter. Doch der vernünftige Oliver gesellte sich zu den Mädchen, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte tadelnd den Kopf.
„OLIVER", wetterte Cordelia und machte damit Schwester Judith alle Ehre. Obwohl ihre Stimme bei Weitem noch nicht das nötige Volumen hatte.
Er drehte sich um und stiefelte zurück. Schließlich hätte er einer fliegenden Schultasche nur sehr schlecht ausweichen können, wenn sie von hinten kam.
Dann stand er John gegenüber.
John trug die graue Kleidung des Waisenheims, aber darüber eine blaue Latzhose. John hatte kurze braune Haare, die kein bisschen lockig waren. John wirkte wie einer, der zu überspielen versuchte, wie niedlich er aussah. John war für einen Zehnjährigen groß, aber gegenüber einem großen Fünfzehnjährigen klein.
Das Balg – der Junge – sah ihn aus braunen Augen an, eine Braue etwas höher als die andere.
„Du magst mich nicht besonders, he?", fragte er. Obwohl es nicht nach einer Frage klang, eher nach einer nüchternen Tatsache. Offenbar hatte John nicht erwartet, dass er gemocht wurde.
Das hätte Oliver vielleicht leidgetan, wenn er nicht damit beschäftigt gewesen wäre, den Namen des Jüngeren auseinanderzunehmen.
J-O-H-N
Er nahm das J in die Hand und wendete es hin und her. Ein wenig labbrig war es, das musste er zugeben. Das O musste er nur anschauen, um zu wissen, dass Carpe Diem daran geknabbert hätte. Das H war ganz fest und klebrig und da es rot weiß gestreift war, aß Oliver es auf, denn es war ja eine Zuckerstange. Das N bestand aus Gummi und war schrecklich dehnbar.
Cordelia stieß Oliver leicht an. „Sag was."
„Was", sagte Oliver. Neben ihm erlitt sie einen dreisekündigen Nervenzusammenbruch. Er legte den Kopf schief und betrachtete den Jungen.
„Tut mir leid, aber du heißt jetzt nur noch Jon."
„Ich heiße sowieso John."
„Nein, aber ohne H. Jon."
Jon zuckte die Schultern. „Ich hielt es sowieso für überflüssig."
„Du wusstest auch nicht, dass es aus Zucker ist, stimmts?"
Noch ein Schulterzucken. „Scheinbar nicht, aber jetzt ist es ja sowieso weg."
Evangeline kicherte leise in sich hinein. „Der Nebel. Er macht seltsame Dinge mit den Leuten."
Cordelia sah inzwischen aus wie eine große Gewitterwolke, weil sie jeden der Anwesenden seit den letzten fünf Minuten für beschränkter hielt als sonst.
Jon ohne H musterte Eve von oben bis unten in ihrem dunklen Wollkleid.
„Wer wird denn beerdigt?", fragte er. Das Mädchen lächelte. „Meine Eltern. Sie sind auf einer Abenteuereise verunglückt und nur der blaue Drache konnte mich retten." Sie sagte das so natürlich, als wäre es wahr. John – Jon - runzelte die Stirn. „Weiß, Eve. Er war weiß."
Sie sah jetzt ein wenig verblüfft aus. Offenbar hatte sie vergessen, dass auch er im Publikum gestanden hatte, als sie in den Augen ihrer Tante zum Satanismus übergegangen war. Natürlich war es ein strenges Geheimnis, das es sich dabei um den Henrynismus handelte.
„Außerdem kennen meine Eltern deine Eltern und meine Mutter ist eine schreckliche Quatschtante. Da würde ich es doch sofort wissen, wenn deinen etwas zustößt." Eve seufzte. „Gut, erwischt." Dann wies sie auf ihr Kleid und auf den Punkt, wo vielleicht die Burg lag. „Ich beklage den König von Fogstone."
„Schon wieder?"
„Immer bei Nebel."
Evangeline ging nicht auf, warum Jon so grinste. Aber dann sagte sie: „Moment. Du hast gar keine Eltern."
Cordelia rückte ihre Frisur zurecht, an der es gar nichts zu rücken gab und hakte sich bei ihrer Freundin ein. „Wir sollten jetzt losmachen. John sollte heute vielleicht noch ein wenig von seiner guten Tat haben."
„Warte noch", meinte Eve plötzlich und begann das Nichts zu kneten und zu formen, „mich stört das Jon. Ich mach dir ein neues H." Bevor Cordelia an die Vernunft und gesunden Menschenverstand appellieren konnte, drückte Evangeline dem Jungen schon seinen neuen Buchstaben in die Hand. Er betrachtete es kritisch. „Woraus besteht es?"
„Drachenschuppen. Die kriegt Oliver nicht kaputt."
John schien mit dem neuen H zufrieden zu sein. Oliver gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Was sagt man da der netten Mademoiselle?"
„Danke" John lächelte so scheinheilig wie auch Eve es vermochte, wenn sie es überhaupt nicht so meinte.
Die Cordelia-Gewitterwolke blitzte ein wenig. „Wisst ihr eigentlich, dass ihr verloren seid?"
„Oh nein, Deli", beschwichtigte sie Eve, „wir sind Henrynisten."
Sie zog ihre Freundin sanft den Bürgersteig entlang, ehe diese ihre Freundschaft zu ihnen in Frage stellen konnte. Oliver betrachtete noch für einen Moment John, der sich leider nicht auf magische Weise als Fohlen entpuppte.
„Wir sollten uns auch auf den Weg machen."
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